Sicher unterwegs in Eis und Urgestein | BERGSTEIGER Magazin
Sicher unterwegs auf Hochtour

Sicher unterwegs in Eis und Urgestein

Klassische Hochtouren sind die Königsdisziplin des Alpinismus. Sie erfordern nicht nur einen großen Wissens- und Erfahrungsschatz, sondern auch praktisches Können. All dies muss man sich aber erst einmal aneignen. Was Einsteiger sowie Könner auf Hochtouren beachten und beherrschen sollten, wissen Jan Mersch und Pauli Trenkwalder.

 
Wer auf Hochtour gehen will, sollte sich gut vorbereiten © Bernd Ritschel
Wer auf Hochtour gehen will, sollte sich gut vorbereiten
Eiskurs beim Alpenverein mit 15 Jahren, im nächsten Winter den Einstieg ins Wasserfallklettern überlebt, im Sommer Wiesbachhorn-Nordwestand, Zuckerhütl- und Wildspitz-Nordwand durchstiegen, im folgenden Winter dann »Gläserne Madonna« und Ähnliches. Als nächster Streich auf nach Chamonix: Eingehtour Frendopfeiler an der Aiguille du Midi…

So sah Ende der 80er-Jahre der typische Einstieg ins alpine Bergsteigen in einem alpinistisch orientierten Umfeld aus. Dass wir dabei die Basis der klassischen Gletscher- und Hochtouren einfach ausgelassen haben, war für uns selbstverständlich – schließlich kletterten wir in alpinen  Felswänden relativ locker im VI. und VII. Grad – damals meist noch ohne Plaisir-Bohrhaken. Unsere Ziele waren die Nordwände von Eiger, Grandes Jorasses und Matterhorn oder lagen in namhaften Felsrouten der Dolomiten.

Oft Glück gehabt auf der Hochtour

Nach Durchsteigung der Zuckerhütl- Nordwand war die Spur im Abstieg weich und unsere Steigeisen stollten fürchterlich, denn damals gab es noch keine Antistollplatten. Schnell entledigten wir uns der lästigen Eisen und rutschten flott gen Tal. Womit wir allerdings nicht gerechnet hatten, war plötzlich auftauchendes Blankeis: Mein Partner rutschte aus und beschleunigte rasant Richtung Aufstiegsroute durch die Nordwand. Er verschwand im Nebel, während er auf seinem Pickel liegend hinunterrauschte. Mit ausreichend Schwung flog er über den gähnenden Bergschrund. Resultat: komplett aufgerissene Finger. Denn Nordwandbezwinger brauchen auf dem Normalweg-Abstieg natürlich keine Handschuhe! Den Rest der Tourenwoche verbrachten wir zu Hause am Badesee.

Am Frendo-Pfeiler, unserer ersten Westalpentour, schlug dann die Mischung aus fehlender Akklimatisation, Länge der Tour und unserem doch etwas zu geringen Können zu: Im letzten Licht und unter aufziehendem Wettersturz führte ich als einziger mit etwas Steileiserfahrung eine Viererseilschaft auf den Grat hinaus. Die Nacht und der folgende Tag bei sturmbedingt geschlossener Seilbahn und ohne Biwakausrüstung auf dem harten Beton der Midi-Gipfelstation waren dann eher unangenehm.

Alpines Lernmodell

Gerade im Bereich der klassischen Hochtouren wird unser alpines Lernmodell recht anschaulich. Denn anfangs wird man sich den Hochtouren über einfache Dreitausender und normale Gletschertouren annähern. Dafür braucht man ausreichende Kondition, ein Basiskönnen im schrofigen Gelände, beim Gehen mit Steigeisen und für leichte Klettereien. Know-how in Sachen Sicherungstechnik bei Gletscherbegehungen, Spaltenbergung und Klettern in der Seilschaft sind nötig.

Unverzichtbar für die Tourenplanung sind Orientierungsfähigkeit im Gelände und auf der Karte. Alles Inhalte die viel mit regelbasierten und bewährten Techniken zu tun haben. Wen nach den ersten Erfahrungen höhere Berge, schwierigere Grate und anspruchsvollere Hochtouren locken, dessen Wissen und Können wird schon fortgeschritten sein. Denn Bergsteiger auf dieser Entwicklungsstufe werden sich zuvor mit den nötigen Techniken umfassend vertraut gemacht haben:

Die nötige Sicherungstechnik wird differenzierter und vielfältiger ausfallen als bisher, Bewegungstechniken ausgefeilter, sportlicher und variabler. Der Umfang der Touren erfordert eine umsichtige Planung und Abschätzung der Anforderungen in Relation zum eigenen Können und den tatsächlich herrschenden Verhältnissen. In der »Endstufe« fordern große Gratüberschreitungen an den hohen Westalpenbergen oder schwierige Normalwege auf entlegene Gipfel den sehr erfahrenen Alpinisten. Länge und Komplexität der Touren verlangen schnelles, sicheres und präzises Handeln. Für unnötiges Überlegen und Probieren bleibt keine Zeit. Nur wer die notwendigen Techniken völlig sicher beherrscht und intuitiv immer die zielführende Aktion wählt, wird in dieser Situation sicher und dennoch mit einem intensivem Erlebnis unterwegs sein.

Technik und Können

In keiner anderen alpinen Disziplin ist ein gutes Allround-Können so lebenswichtig wie im Bereich der Hochtouren. Sehr gute Kondition und Langzeitausdauer sind gefragt, um auch am Ende eines langen Tages noch sicher den Abstieg ins Tal oder den Gegenanstieg zur Hütte bewältigen zu können. Andererseits braucht es unterwegs immer wieder Kraft zum Spuren, Gehen in unwegsamem Blockwerk oder zur flotten Überwindung von Kletterpassagen. Fast immer sind längere Passagen in weglosem und beschwerlichem Block- und Schuttgelände zu bewältigen, häufig garniert mit schrofigen und felsigen Einlagen. Und die sind noch dazu oft ernsthaft absturzgefährdet.

Eine sichere Bewegungstechnik auf diesem losen und rollenden Untergrund ist unsere Lebensversicherung. An Seilsicherung ist in diesen Passagen aus Zeitgründen meist nicht zu denken. Im Firn bergauf zu gehen funktioniert ja meistens auch für den Anfänger noch recht gut. Wenn es dann aber wieder hinunter geht oder das Gelände steiler, der Untergrund härter und der Abgrund »saugender« wird, sieht die Sache schon wieder ganz anders aus: Wohl dem, der eine saubere Technik erlernt hat und im Fall eines Falles eine gute Bremstechnik beherrscht. Auch im steilen Firngelände wird meist auf das Seil verzichtet. Richtiges Sichern von Stand zu Stand ist sehr aufwendig, wohingegen gleichzeitiges Gehen am Seil zwar schnell ist, aber außer einer moralischen Unterstützung keinerlei Sicherheit bietet. Denn wenn man in Gebrauch und Handling dieser Technik nicht intensiv geschult ist – und das trifft eigentlich nur auf Bergführer zu – ist hier die Mitreißgefahr erheblich.

Im harten Eis mit Steigeisen an den Füßen unterscheidet sich die Gehtechnik ohne Abrollen wesentlich vom normalen Gehen, ist dabei aber für einen sicheren Halt wichtig. Ein Stolperer über die eigenen Eisen oder ein Verfangen im Hosenbein beschert neben der geschlitzten Beintracht schnell den Abgang Kopf voraus den Steilhang hinab. Einen Pickel mitzuführen ist eine Sache, diesen aber auch effizient und wirksam einzusetzen, will erlernt sein und wird mit steigendem Niveau der Touren immer wichtiger. Eine Alpenstange, wie sie die Pioniere des Bergsteigens bnutzten, ist im flachen Gelände eine gute Hilfe – ähnlich einem Skistock, nützt aber nichts im steileren Gelände oder bei der Überwindung von Steilstufen.

Ebenso deplatziert und wenig auf Hochtouren zu gebrauchen wäre ein Steileisgerät. Spätestens am Gipfelaufbau muss man bei vielen hochtouristischen Zielen felsklettern. Dabei wird man nicht in die Kletterschuhe wechseln und muss häufig auch die Steigeisen anbehalten, um im vereisten und verschneiten Fels Halt zu finden. Vorerfahrungen aus Kletterhalle oder Sportkletterfelsen nützt kaum. Alpines Klettern in den unteren Schwierigkeitsgraden sollte aber sicher und solide ablaufen, da Sicherungspunkte meist weit verteilt sind und der »Flugraum« von Bändern und Absätzen durchzogen wird, so dass der rettende Sprung ins Seil nicht Teil des Programms sein kann.

Seil- und Sicherungstechnik

Auf Hochtouren kommt das Seil sehr unterschiedlich zum Einsatz; sicheres Handling ist aber in jeder Situation unverzichtbar. Bei leichten Gletschertouren reicht ein Halbseil. Sobald felsige Passagen oder steile Abschnitte zu bewältigen sind, ist ein leichtes Einfachseil (z. B. das Beal »Joker« mit 9,1 mm Durchmesser) die richtige Wahl. Eine Länge von 50 Metern ist sinnvoll und meist ausreichend; eine Imprägnierung erleichtert das Seilhandling ungemein.

Auf schnee- und firnbedeckten Gletschern sollte man sich wegen des Risikos eines Spaltensturzes mit Abstand anseilen. Je nach Teilnehmeranzahl und Seillänge verändern sich Seilabstand, Länge des Restseils und die Varianten einer möglichen Spaltenbergung. Zum Anseilen ist ein Schraubkarabiner ausreichend, ein zusätzlicher Schnappkarabiner oder gleich ein Safe-Lock-Karabiner wird unter dem Gesichtspunkt der Redundanz empfohlen. Beim gleichzeitigen Gehen am Seil sollte dieses möglichst gespannt und mit leichtem Durchhang laufen; Seilschlaufen werden keine in der Hand aufgenommen.

Mit steiler werdendem verspaltetem Gelände und je nach Schneebeschaffenheit stellt sich die Frage der Mitreißgefahr und der Möglichkeit, einen Spaltensturz auch wirklich halten zu können. Auf dem blanken Gletschereis kann man sich an problematischen Stellen behelfen, indem einzelne Eisschrauben durchlaufend eingehängt werden. Ist das nicht möglich, muss im zu steilen Gelände von Stand zu Stand gesichert werden. Die Bergführertechnik »Gehen am kurzen Seil« ist für Normalbergsteiger nicht empfehlenswert, sie birgt für Ungeübte zu viel Risiko. Dann lieber gleich ohne Seil und stattdessen mit voller Konzentration. Gleiches gilt für das Begehen von steilen Firngraten.

Hochtourenplanung

Steile Firnflanken, Eisaufschwünge, Bergschründe, Felsgrate und Felswände werden am besten von Stand zu Stand gesichert. Im Firn einen T-Anker zu graben, ist zwar mühsam, aber eben auch sicher. Der Rammpickel stellt keine echte Alternative dar, die Haltekräfte variieren sehr stark mit der Schneebeschaffenheit. Im Fels sollte man unbedingt auf die Beschaffenheit des Gesteins achten und wie im Eis mit der Reihenschaltung arbeiten. Ein kleines Klemmkeilsortiment erweist sich oft als hilfreich. Der Blockstand mit dem Seil wird vor allem an Graten verwendet. Hochtouren sind lang und führen uns meist in wildes und unmarkiertes Gelände. Eine ausführliche und detaillierte Tourenplanung ist also Pflicht.

Als Basisinformation stehen wie immer Wetterbericht, topografische Karte (Aktualität prüfen!) und Tourenführer zu Verfügung. Häufig finden sich darüber hinaus Informationen im Internet, die man aber besser kritisch hinterfragt, bevor man sie miteinbezieht. So sollte man das Risiko von Gewittern und unerwarteten Wetterstürzen – nach Abstürzen immerhin die zweithäufigste Unglücksursache – gut minimieren und abschätzen können.

Zurück zum Lernmodell

Eine gute Tourenplanung bietet genügend Sicherheit, um sich richtig im Gelände orientieren zu können. So behält man schließlich auch bei Nebel oder Schlechtwetter den »Durchblick« schafft es mit Hilfe von Höhenmesser und Karte zurück ins Tal. Ein modernes GPS-Gerät wie das Sat-Map hat detaillierte topografische Karten integriert und unterstützt seinen Nutzer erheblich bei Nullsicht. Oft ist es die letzte Chance, einem Notbiwak zu entkommen. Trotzdem ist ein Biwaksack neben der Erste-Hilfe-Ausrüstung unverzichtbare Grundausstattung jedes Hochtouren-Rucksacks. In Relation zu unserem Lernmodell ist jede Tourenplanung immer nur so wirkungsvoll, wie gut die eigene Selbsteinschätzung funktioniert.

Die Kunst ist es nämlich, die Bewertung des eigenen Könnens und der eigenen Erfahrung in Relation zu den zu erwartenden Schwierigkeiten realistisch einzuschätzen und abzuwägen. Daher können wir nur raten: »Lege Dir selbst Rechenschaft ab«! Denn eine Tour, die man kein zweites Mal machen möchte, hätte man auch kein erstes Mal machen müssen!
Sicher unterwegs in Eis und Urgestein
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 06/2012. Jetzt abonnieren!
 
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