Zum 75. Geburtstag des BERGSTEIGER

Wahre Gefühle, gefühlte Wahrheiten

Eine gute Portion des Bergsteigens besteht aus Leidenschaft. Wer das nicht vermitteln kann, sollte lieber Kochbücher machen als ein Magazin über Alpinismus. Im BERGSTEIGER hat es die Leser immer wieder gepackt und mitgerissen; davon kann nicht nur der Autor dieses Beitrags ein Lied singen. (Text: Lutz Bormann, Foto: Eugen E. Hülser)

 
Die Leidenschaft für die Berge (im Bild die Westabstürze des Heiligkreuzkofels über dem Gadertal) und die Faszination des Bergsteigens zu vermitteln, ist die Herausforderung, der sich der BERGSTEIGER seit 75 Jahren stellt… © Eugen E. Hüsler
Die Leidenschaft für die Berge (im Bild die Westabstürze des Heiligkreuzkofels über dem Gadertal) und die Faszination des Bergsteigens zu vermitteln, ist die Herausforderung, der sich der BERGSTEIGER seit 75 Jahren stellt…
Der Jubilar wird 75 und sah schon einmal bedeutend älter aus, kam als Stenz quasi in Knickerbockern mit Schnerfer auf dem Buckel daher. Heute haben nicht nur moderne Medien und Druckverfahren den BERGSTEIGER immer jünger gemacht, der Bergsport selbst macht ihn jährlich flotter – Respekt! Meine erste Begegnung mit dem Magazin war eher enttäuschend. Nach der Lektüre von Harrers »Die Weiße Spinne«, besorgte ich mir aus der Dorfbibliothek Pit Schuberts Lehrbuch »Die Anwendung des Seils«. Ich baute im Kinderzimmer am Heizkörper den Standplatz und seilte über das Balkongeländer ab. Der nächste Bibliotheksbesuch führte zu den Zeitschriften: Da lag ein ungeordneter Stapel mit kleinem Format und Frakturschrift - »Der Bergsteiger«. Berichte von fernen Gebirgen, Reklame für Trachtenmoden und Enzianschnaps, unscharfe Bergbilder in Schwarzweiß und dazwischen: Gedichte – weit und breit nichts zu sehen von Eiger, Walker oder Großer Zinne.

Jürgen Winklers Bergbilder

»Ich steh’ nicht so auf Gedichte«, sagt Pit Schubert kopfschüttelnd, als ich ihm die Hefte von damals zeige, »und schon gar nicht in einer Bergsteiger-Zeitschrift. Wir haben damals alle die Zeitschrift ›Alpinismus‹ von Toni Hiebeler gelesen.« Pit blättert weiter und wird fündig: »An dieses Bild von der Durchsteigung des Daches an den Cinque Torri kann ich mich gut erinnern. Wir wollten uns eine frühe Wiederholung sichern und stellten enttäuscht fest, dass sich das Dach knapp über dem Erdboden befindet. Der pure Witz!«
Ab 1963 lohnte sich das Blättern im BERGSTEIGER schon eher. Pit Schubert und Jürgen Winkler hatten in ihrem gemeinsamen großen Jahr 1962 viele große Westalpen-Klassiker abgeräumt. Die Bildausbeute schmückte fortan jede Ausgabe des BERGSTEIGER und begründete Jürgens Ruf als bedeutender »Berg-Fotograf«. »Wir waren damals auf diese Bilder angewiesen und haben die Zeitschriften regelrecht nach Meldungen über Erstbegehungen und den dazugehörigen Wandfotos abgegrast, um anschließend eine frühe Wiederholung einzusacken«, erinnert sich Pit.

Chefredakteure im Wechsel

1968 wurden die Gedichte im BERGSTEIGER weniger. Dieter Seibert übernahm das Magazin von Dr. Hans Hanke und erinnert sich: »Sein Schwerpunkt lag auf der Kultur, meiner auf dem Alpinismus. Ich durfte zur Neugestaltung des Hefts eine Farbseite einbauen und schuf die Rubrik ›Lieblingstouren Prominenter‹. Ein bedauerlicher Höhepunkt im Magazin war sicherlich das Drama an der Rupal-Flanke des Nanga Parbat, wodurch die Auseinandersetzungen zwischen Messner und Herrligkoffer letztlich vor Gericht landeten. Die Bildbeschaffung war damals unser Hauptproblem. Der Verleger knauserte, und Jürgen Winklers Fotos kosteten halt ihr Geld. Bei einer Buchproduktion wurde Jürgen die Feilscherei zu bunt. Er sagte zu Stiebner, er würde ihm die Fotos schenken, es müsse aber als Bildquelle angegeben werden ›Ein Geschenk von Jürgen Winkler an den Bruckmann-Verlag‹. Das hat Stiebner glatt gemacht! Jürgen gehörte zu der Gruppe um Pit Schubert, Hermann Huber, Manfred Sturm und Dieter Hasse, die damals regelmäßig im Heft vertreten waren und immer etwas Neues brachten, vor allem durch den Sicherheitskreis.«

Hasses Brustkorb

»Das war eine Sache, die durch alle Magazine ging und den Dieter um ein Haar das Leben gekostet hätte«, erinnert sich Pit Schubert an den Bericht über den Sandsack-Test für den Sicherheitskreis. »Wir wollten die Schulter-Kreuz-Sicherung testen und jemand sollte den Fangstoß eines 80 Kilogramm schweren Sandsacks halten. Dieter meldete sich, der Sack fiel runter und vernichtete selbst natürlich keinerlei Energie, sondern Dieters Brustkorb. Sämtliche Rippen wurden am Brustbein abgerissen und darüber zusammengeschoben. Danach wussten wir aber immerhin, dass die Schulter-Kreuz-Sicherung Murks und der Mensch kein Sandsack ist.«
Ein paar Jahre länger als Seibert (1968 bis 1972) hielt es sein Nachfolger Dr. Christof Stiebler (1972 bis 1979) aus: »Ich hatte neben meinem Schulberuf unverschämt viel Freizeit und leitete quasi nebenbei mit einer Halbtagskraft den BERGSTEIGER. Außerdem war ich noch Pressesprecher und Referent für Öffentlichkeitsarbeit im DAV und konnte auf eine Fülle von Informationen und Kontakten zugreifen.«

Naturschutz und Hiebeler-Intermezzo

Ende der 70er Jahre brachte Georg Steinbichler neue Impulse und integrierte die Themen Umwelt- und Naturschutz: »Das war damals die heiße Phase und wurde wesentlich emotionaler diskutiert als heute.« Wenig später holte der Verleger Toni Hiebeler ins Boot. Steinbichler erinnert sich: »Der hatte jahrzehntelange Erfahrung als Redakteur und Publizist, war ein erfolgreicher und angesehener Bergsteiger und hatte weltweite Kontakte. Hiebeler konnte buchstäblich jeden wegen eines Textbeitrags oder eines Fotos anrufen und bekam, was er wollte. Als es zum Bruch mit dem Verleger kam, gründete Hiebeler die Zeitschrift ›Berge‹ und starb leider Ende 1984 bei einem Hubschrauberunglück.«

Das Magazin im Wandel

Im Rückblick fällt auf, wie wenig Anerkennung im BERGSTEIGER aus heutiger Sicht die großen Entwicklungen und Ereignisse der 70er Jahre fanden: das Rotpunkt-Klettern oder die Diskussion um den VII. Grad (die Elmar Landes als Schriftleiter in den Mitteilungen des Deutschen Alpenvereins führte). Das Feld des »Alpinismus in seiner verschärften Form« hatte man weitestgehend dem Magazin ALPINISMUS überlassen. Reinhard Karl starb im Mai 1982 am Cho Oyu, im August-Heft verwies eine kurze Todesmeldung auf den Nachruf im nächsten Heft, der dann erst in der Oktober-Ausgabe kam – nicht einmal eine Seite. Zehn Jahre  später (12/1992, S. 47-64) schreibt Willi Schwenkmeier den eigentlichen Nachruf auf Reinhard Karl und Leo Maduschka: »Die Jahre mit Leben erfüllen«. Das bedeutendste literarische Vermächtnis von Reinhard Karl – »Unterwegs nach Hause« – veröffentlicht Elmar Landes im Alpenvereins-Jahrbuch 1982/83, Kubin bringt den Artikel im BERGSTEIGER 4/87 zum fünften Todestag von Reinhard.

Rekorde und Vorurteile

Als Thomas Bubendorfer 1982 in Rekordzeit die Ortler-Nordwand in Begleitung von Reinhard Schiestl und Kurt »Gagga« Schoißwohl durchstieg, reichte ich begeistert den Bericht im BERGSTEIGER bei meinen Freunden herum. Prompt kam der Dämpfer vom Alleswisser in unserer Clique: »Wenn der ›Gagga‹ nicht wie ein sibirischer Eisbrecher zum Zustieg gespurt hätte, wäre der ›Bubi‹ eingegangen wie eine Primel«. Also machte ich mich etwas kleinlaut wieder an die Lektüre von Kubins BERGSTEIGER als Mittel gegen alpinistische Unwissenheit und Vorurteile!
Und einmal durfte ich Mäuschen spielen, als Andreas Kubin noch in der Nymphenburger Straße das Heft redigierte. Meine Clique hatte als Fernziel die Yerupaja-Westwand in der Cordillera Huayhuash und im BERGSTEIGER erstmals Bilder vom Gipfelgrat gesehen, die der Schweizer Fotograf Röbi Bösch gemacht hatte.

Für weitere Informationen wollte ich im Redaktionsarchiv stöbern. Kubin zeigte mir das entsprechende Regal als sein Telefon klingelte. »Wenn’s was gscheit’s ist, habe ich noch Platz, logisch!« Stille. »Na, des hat der Habeler scho’ in de Siebzger gmacht.« Pause. »Na, is scho’ erstbegangen von ein paar Italienern.« Schweigen. »Weiß ich nicht, ob des scho gmacht woardn is. Geh’ Thomas, ich kann dir des net sagn, des is dei Entscheidung. Rühr di wieda, wennst was hast, aber frog mi net.« Da rief also der Bubendorfer an und fragte Kubin nach Tourenvorschlägen?! Gerade noch hatte ich mich gewundert, warum die Kletter-Ikone der 80er Jahre – Wolfgang Güllich – ausgerechnet mit Kubin zusammen das Buch »Sportklettern heute« geschrieben hatte. Nun wusste ich es. Der Kubin war also auch »wer«, hatte den AV-Führer über die Civettagruppe und einen Führer über mittelschwere Felsfahrten in den Dolomiten geschrieben. Das dankt ihm »die Szene« seit über zwei Jahrzehnten: Kubin ist eben nicht ein Journalist, der übers Bergsteigen schreibt, sondern ein Bergsteiger, der zum Broterwerb ein Bergsteiger-Magazin macht.

1992 starb Wolfgang Güllich an einem Brückenpfeiler der Nürnberger Autobahn. Tilmann Hepps Nachruf im BERGSTEIGER und seine einfühlsame Biografie brachten Wolfgang zwar nicht zurück, aber sie wurden der Trauer um diesen Ausnahmesportler gerecht.

Die Ära der Huberbuam

Anfang der 90er Jahre rückten schlagartig die »Huberbuam« aus Berchtesgaden in den Mittelpunkt des Interesses, und es »huberte« immer häufiger im BERGSTEIGER: Der Chefredakteur war schließlich hautnah dabei. Am Schleierwasserfall konnte man sehr häufig Andreas Kubin beim Sichern von Alexander Huber beobachten, der hier spektakulär schwere Routen in Serie eröffnete. Kurze Zeit später kamen grandiose Bilder von Heinz Zak aus dem Yosemite-Valley. Die Huberbuam hatten die Salathé am El Capitan frei geklettert und lieferten in den Folgejahren unter dem Beifall der amerikanischen Kletterelite ein Meisterstück nach dem anderen bis hin zu den Speed-Rekorden an der »Nose« ab.

Wenn die Arbeit Spaß macht

Für Andreas Kubin sind solche Artikel im BERGSTEIGER die Höhepunkte: »Ich bin ja froh, dass ich die seriöse Berichterstattung über ›unsere Themen‹ im BERGSTEIGER aufrecht erhalten konnte. Danke einmal an alle Mitarbeiter und Autoren, ohne die das nie möglich gewesen wäre!« Die Gewichtung der Inhalte soll allerdings ein möglichst breites Publikum ansprechen, um im Wettbewerb am Kiosk zu bestehen. Daher steht das Wandern im Vordergrund, auch wenn in der Redaktion sämtliche Informationen über das weltweite alpinistische Geschehen zusammenlaufen. »Die Illusion, den Alpinismus als Hauptthema zu pflegen, musste ich leider aufgeben. Aber es freut mich vor allem, dass ich die kometenhaften Aufstiege von Wolfgang Güllich und von den Huberbuam journalistisch begleiten durfte«, sagt Andreas Kubin.

Was aus alpinistischer Sicht ins Heft kommt und wie es gewertet wird, entscheidet allein Kubin – und manchmal anders als der Rest der alpinen Presse. Ende 2001 kommt es erneut zum Streit um die Vorkommnisse am Nanga Parbat von 1970. Die Auseinandersetzungen zwischen Reinhold Messner, Hans Saler, Max von Kienlin, Jürgen Winkler und Gerhard Baur eskalieren. Die Presse schwelgt in Vermutungen und Enthüllungen, Bücher werden publiziert, nur Kubin hält sich im BERGSTEIGER, wo er doch sonst so barsch seine Meinung sagt, auffallend zurück: »Ich habe mich an der publizistischen Treibjagd auf Messner nicht beteiligt, weil ich davon überzeugt war und bin, dass man Reinhold damals Unrecht tat und dies in einer Weise, die mich menschlich angewidert hat.« In den Jahren 2004 und 2005 gibt die Diamirflanke mit Günthers sterblichen Überresten die Indizien frei, die Reinhold Messners Aussagen bestätigen.

Prosit, BERGSTEIGER!

Ich muss noch anfügen, dass aus meinen hochfliegenden Zielen Yerupaja oder Eiger nichts geworden ist, aber ich dank BERGSTEIGER zumindest spannend davon träumen konnte. Heute ist die Zeitschrift für mich wie meine Lieblingskneipe, in der man bitte nichts unnötig renovieren oder modernisieren sollte, mit einer launigen Begrüßung auf Seite Drei von Gastwirt Kubin: »Auch wenn es auf den ersten Blick manchmal vielleicht nicht den Anschein hat – alles, was in der Zeitschrift stattfindet, hat mit Bergsteigen zu tun – auch menschliche Schwächen, gesellschaftliche Auswüchse. Denn das Bergsteigen ist ein Spiegel unserer Gesellschaft, und wenn gesellschaftlich etwas schief liegt, dann hat das durchaus etwas mit Bergsteigen zu tun. Das ganze Leben ist Bergsteigen…« Jawohl, Herr Wirt, darauf ein Bier!

Weitere Informationen zur Geschichte des BERGSTEIGER lesen Sie hier!
Lutz Bormann
 
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