Ralf Dujmovits über das Scheitern am Berg | BERGSTEIGER Magazin
Psychologie-Serie: Scheitern

Ralf Dujmovits über das Scheitern am Berg

Zum Lernen ist Scheitern lebensnotwendig, sagen Psychologen. In den Bergen ist Scheitern tödlich, sagt Ralf Dujmovits. Für den deutschen Profi-Bergsteiger hat Erfolg – anders als für viele seiner Kollegen – wenig mit dem Erreichen des Gipfels zu tun.

Text und Fotos: Ralf Dujmovits
 
Ralf Dujmovits: erster Deutscher auf allen 14 Achttausendern © Ralf Dujimovits
Ralf Dujmovits: erster Deutscher auf allen 14 Achttausendern
2006 waren wir nach der Besteigung des Kangchendzönga noch im Aufstieg am Lhotse – mit 8.515 Metern der vierthöchste Berg der Erde. Es war spät in der Saison, niemand mehr außer uns dreien war unterwegs, weder am Everest noch am Lhotse. Nach 15 Zentimetern Neuschnee in der Nacht waren wir erst spät vom letzten Lager auf 7200 Metern gestartet. Im oberen Teil der 400 Meter hohen und 50 bis 60 Grad steilen Gipfel-Rinne trafen wir auf Blankeis unter dem kaum verfestigten Neuschnee. Ohne Fix- oder Sicherungsseil war jede Bewegung aufwärts ein kleines Wagnis: Würden die Steigeisen und die Eisgeräte trotz der Neuschneeauflage im betonharten Eis halten?

Wir kamen nur zäh voran; es wurde spät. Um 17 Uhr wurde es uns zu spannend. Die Steilrinne legte sich zwar schon zurück und der Gipfel war fast greifbar. Aber nach einem weiteren Aufstieg zum höchsten Punkt hätten wir in der Dunkelheit genau im steilsten Teil abklettern müssen – ohne gegenseitige Seilsicherung und ohne Fixseil. Ein ungeplantes Biwak in dieser Höhe und diesem Gelände hätte mit Sicherheit fatal geendet. Keine 100 Höhenmeter unter dem Gipfel entschieden wir umzukehren. Und kamen gut unten an.

2008 erneute Umkehr. Dieses Mal auf knapp 8100 Meter, wegen beginnender Erfrierungen und gesundheitlicher Probleme. Diesen Misserfolg empfand ich schon als deutlich bitterer. Gescheitert waren wir trotzdem nicht: Finger und Zehen waren alle noch dran. Ein Jahr später standen wir oben – ganz oben! Für mich der 14. Achttausender-Gipfel.

Dimensionen des Misserfolgs

Schon im »normalen« Leben hat Scheitern viele Gesichter. Was für mich als begeisterter Bergsteiger Scheitern heißt, hat mit einer sehr persönlichen Ethik zu tun. Eine Ethik, die in 45 Jahren bergsteigendem Unterwegs-Sein gereift ist. Das Bedeutsamste, was uns die Natur mit auf den Weg gegeben hat, ist das Leben an sich und eine intakte Gesundheit. Uns an selbst gesetzte Ziele zu wagen, für diese hart zu trainieren und bei deren Umsetzung unsere körperlichen wie auch unsere geistigen Grenzen zu verschieben, ist legitim und lässt uns das Leben als wertvoll und unglaublich intensiv erspüren.

Leider haben die meisten Spielarten des Bergsteigens gegenüber dem Alltag aber den groben Nachteil, dass Fehler und die Unfähigkeit, im richtigen Moment umkehren zu können, meist mit schweren gesundheitlichen Einbußen einhergehen. Vor der Verantwortung gegenüber unserer Gesundheit und unserem Leben nimmt damit das Scheitern eine völlig andere Tragweite, eine andere Dimension an als ein Scheitern im Job, in den meisten anderen Sportarten, in der Liebe oder in der Familie.

Gescheitert beim Bergsteigen würde ich mich dann sehen, wenn ich mich schwer verletze, mir etwas abfriere oder gar nicht mehr zurückkomme. Wenn der Respekt vor meinem höchsten Gut auf der Strecke geblieben ist. Wenn die Erwartungen an meinen bergsteigerischen Erfolg meine Eigenverantwortlichkeit und meine Unversehrtheit erdrückt haben.

Unglückliche Umstände am K2

Das Umkehren auf einer alpinen Tour, das Abbrechen einer Expedition, das Nicht-Erreichen des Umlenkers beim Sportklettern dagegen ist Enttäuschung, Misslingen oder maximal eine persönliche Niederlage. Mit Scheitern hat das für mich nur am Rande zu tun. Der Um- und Rückkehr im Vollbesitz seiner Gesundheit kann man mit optimistischem Blickwinkel auch sehr viel Positives abgewinnen. Fehlschläge bieten mir die Chance, das Erlebte als Tiefpunkt zu begreifen. Ab hier kann es nur bergauf gehen. Ich bekam die Möglichkeit, dazu zu lernen und an mir selbst zu wachsen. Jedes Umkehren hat mich im Laufe der Jahre stärker und mir spätere Erfolge wertvoller und wichtiger gemacht.

2010 waren wir nach einer Umkehr an der direkten Nordwand des Everest auf der Cesen-Route des K2 unterwegs. Der Steilwand-Skifahrer Fredric Ericsson hatte sich uns angeschlossen. Im schlechter werdenden Wetter mussten wir auf 8000 Meter umkehren und absteigen. Bei einem zweiten Versuch eine Woche später wurde es mir wegen der hohen Temperaturen und zunehmendem Steinschlag auf etwa 7.500 Meter zu spannend. Für mich war die Expedition zu Ende und ich stieg ab – meine damalige Frau Gerlinde stieg mit Fredric nach einem letzten Biwak auf der Schulter weiter Richtung Gipfel.

Zu Beginn des Flaschenhalses auf etwa 8.150 Meter hatten die beiden entschieden, sich gegenseitig zu sichern. Noch bevor Fredric einen Haken schlagen und Gerlinde ihn von unten hätte sichern können, stürzte Fredric ab. Ob es ein ausbrechendes Stück Fels war oder er beim Hakensetzen das Gleichgewicht verloren hatte, werden wir nie erfahren. Fredric stürzte zwei Meter an Gerlinde vorbei und blieb erst nach 1.000 Höhenmetern in lawinengefährlichem Gelände unterhalb der Schulter des K2 liegen.

Gibt es Zufälle?

Fredric war nach meiner sehr persönlichen Definition offensichtlich gescheitert. Oder doch nicht? Hatte er alles richtig gemacht und es war einfach nur »dumm gelaufen«? Womit wir uns der Frage nähern, ob es nicht auch Fälle von extremem Pech gibt, die zu einem Unfall und damit zum Scheitern führen. Eine Verkettung von unglücklichsten Umständen oder »Zufällen«, die ein Biwak mit nachfolgenden Erfrierungen oder gar den Tod nach sich ziehen. Über viele Jahre hinweg habe ich versucht, Unfälle – insbesondere beim Expeditionsbergsteigen – zu analysieren: tödliche Unfälle und solche mit schweren Schäden für die Gesundheit der Betroffenen.

Fast immer waren die Gründe für das Scheitern menschliches Versagen, Unvernunft, übertriebener Ehrgeiz oder die schon angesprochene Unfähigkeit umkehren zu können, die zu dem geführt haben, was ich Scheitern nenne. Was durch meine Beobachtungen offensichtlich wurde: Fälle von außerordentlichem Pech oder die Unmöglichkeit, das Geschehene erklären zu können, sind äußerst selten.

Leider können sowohl die Betroffenen als auch Außenstehende oder Zeugen aus diesen seltenen Fällen nur mehr die Lehre ziehen, dass alleine ein Zuhause-Bleiben das endgültige Scheitern hätte verhindern können. Ein Berliner Soziologe äußerte kürzlich in einem Spiegel-Interview: »Nur wer das Scheitern kennt, dem ist Erfolg auch etwas wert.« Er bezog sich auf Scheitern im »normalen« Leben. Das mag dort so sein. Als Bergsteiger mag ich ein wirkliches Scheitern gar nicht kennen lernen – Erfolge sind mir auch ohne diese Erfahrung einiges wert.

Zur Person: Ralf Djumovits

Mit der Besteigung des Lhotse am 20. Mai 2009 war Ralf Dujmovits der erste Deutsche, der auf den Gipfeln aller 14 Achttausender stand, und der 16. Bergsteiger weltweit, dem dies gelang. Fast alle Besteigungen glückten ihm ohne zusätzlichen Flaschensauerstoff – mit Ausnahme des Mount Everest, an dem er zuletzt im Frühjahr 2015 einen Versuch, ohne Flaschensauerstoff auf den Gipfel zu steigen, infolge des verheerenden Erdbebens aufgab. Dujmovits (53), der viele Jahre lang den Bergreise-Veranstalter Amical Alpin leitete, führte bis dato über 50 Expeditionen in unterschiedlichen Regionen durch und gilt damit als einer der erfahrensten Höhenbergsteiger und Expeditionsbergführer weltweit.

Die Psychologie des Scheiterns

Ob und wann Menschen sich als gescheitert sehen, hängt auch von ihrem Umfeld ab. In individualistischen Gesellschaft en wie in Deutschland werden Misserfolge am stärksten geächtet. »Je mehr Leistung zum Kriterium für die soziale Rolle und das Selbstbild wird, desto gravierender ist ein Versagen«, sagt der Psychologe Olaf Morgenroth von der Hamburg Medical School. Auch innerhalb einer Kultur reagieren Menschen unterschiedlich: Wen Misserfolge wenig jucken, der kann negative Gedanken schneller abstellen.

Doch das gerettete Selbstbild hat seinen Preis: Die selbstkritische Einschätzung bleibt dabei gern mal auf der Strecke. Nicht zuletzt birgt Scheitern enormes kreatives Potenzial: Kathryn Schulz stellt in ihrem Buch »Richtig irren« (Riemann 2011) fest, dass Irren und Fantasie dieselbe Quelle haben: die Fähigkeit, die Welt so zu sehen, wie sie nicht ist. Im einen Fall folgt daraus ein Irrtum, im anderen ein Kunstwerk.

Scheiter-Haufen

Umkehren hat nichts mit Scheitern zu tun, sondern mit Vorsicht vor den jeweiligen Gefahren. Deshalb erreichen auch die Profis nicht immer den Gipfel.

Luis Stitzinger: 64% Erfolgsrate (11 Expeditionen, 7 Mal am Gipfel); hatte zweimal kein Glück am Makalu, dafür stand er zweimal hintereinander am Gasherbrum II.
Alix von Melle: 56% Erfolgrate (9 Expeditionen, 5 Mal am Gipfel); hat bisher zweimal vergeblich den Makalu versucht.
Gerlinde Kaltenbrunner: 64% Erfolgrate (25 Expeditionen, 16 Mal am Gipfel); brauchte die meisten Anläufe für den Gipfel des K2, nämlich vier Expeditionen.
Ralf Dujmovits: 53% Erfolgsrate (34 Expeditionen, 18 Mal am Gipfel); schaffte es 1992 zwar auf den Everest, aber mit Flaschensauerstoff. Seither versuchte er es 6 Mal ohne, bisher erfolglos.
Simone Moro: 28% Erfolgsrate; hat sich auf schwierige Winter-Erstbesteigungen spezialisiert. Sein Dauerprojekt mit bisher vier Versuchen ist die Everest-Lhotse-Überschreitung.
 
Fotos: 
Ralf Dujmovits
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 08/2015. Jetzt abonnieren!
 
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