Beim Lawinenwarndienst | BERGSTEIGER Magazin
Zu Besuch beim Lawinenwarndienst Bayern

Beim Lawinenwarndienst

Pünktlich um 7.30 Uhr steht er im Winter täglich im Internet: der Lawinenlagebericht. Doch wer erstellt das Papier und welche Informationen liegen ihm zugrunde? Der BERGSTEIGER hat dem Lawinenwarndienst Bayern über die Schulter geschaut – 19 Stunden lang.

 
Bei Skitouren kommt es nicht nur auf die Kondition an. Weit wichtiger ist es, die Lawinensituation im Blick zu behalten. © Christoph Suter
Bei Skitouren kommt es nicht nur auf die Kondition an. Weit wichtiger ist es, die Lawinensituation im Blick zu behalten.
Die Flocken glänzen weiß und zart, als der Wind sie durch den Mittagshimmel trägt, doch Bernhard Zenke sieht sie mit Sorge, denn er weiß, dass sie den Tod bringen können. »Wenn’s jetzt noch länger so schneit, dann wird’s morgen kritisch«, sagt Zenke, »da gehen sicher wieder ein paar Lawinen ab.«

Er muss versuchen, vorherzusehen, wo das passieren kann. Es ist wie ein wissenschaftliches Spiel gegen einen tödlichen Feind, und bis zu seinem nächsten Zug bleiben ihm jetzt noch 19 Stunden. Dieses Lesen des Schnees betreibt Zenke nicht nur aus Leidenschaft, es ist zugleich sein Beruf.

Seit 1988 ist er verantwortlich für den Bayerischen Lawinenwarndienst. Dort berät er nicht nur Alpendörfer beim Errichten von Schutzbauten gegen Schneerutsche und örtliche Lawinenkommissionen beim Sperren von Passstraßen. Vor allem bringt er mit seinen Mitarbeitern von Oktober bis Mai jeden Morgen um 7.30 Uhr einen Lawinenlagebericht heraus – den Text, den Tausende Wintersportler täglich lesen, wenn sie entscheiden, welche Skitourenrouten gerade besonders gefährlich sind.

Dafür bekommt Zenke zum einen Daten aus verschiedenen Messstationen. »Wenn wir aber nur die Geräte hätten, würden wir total scheitern«, sagt er. »Wir brauchen auch Leute, die tagsüber in den Bergen unterwegs sind und uns sagen, was sie da sehen.« Unter diesen sogenannten Nachmittagsbeobachtern ist ein Ranger aus dem Nationalpark Berchtesgaden, ein Soldat, der bei den Gebirgsjägern in Mittenwald seine Ausbildung zum Heeresführer macht und andere Ehrenamtliche, die privat besonders viele Skitouren gehen.

Pendant zu Fräulein Smilla

Einer von ihnen ist Manfred Steffl, und wenn es so etwas wie das männliche Pendant zur Romanheldin und Schneeexpertin Fräulein Smilla gibt, dann kommt Steffl diesem ziemlich nahe. Der 71-Jährige wuchs in Grassau im Chiemgau auf und zog nach einem Maschinenbau-Studium in München bald wieder zurück in seine Heimat. Dort arbeitete er 40 Jahre lang bei der Bergwacht, und als der Lawinenwarndienst vor drei Jahren einen neuen Beobachter für die Chiemgauer Alpen suchte, fiel die Wahl schnell auf ihn. »Pro Winter gehe ich knapp 100 Skitouren«, sagt Steffl, »da sieht man natürlich gut, wie sich der Schnee von Tag zu Tag verändert.«

Auch an diesem Morgen hat er seine Ski wieder angeschnallt und steigt damit in Richtung Dürrnbachhorn in der Nähe von Reit im Winkl. In der Wolkendecke reißen einige Löcher auf, durch die immer öfter die Sonne durchscheint. Doch Steffl traut der Schneedecke nicht. »Heute muss man aufpassen«, sagt er. Wie fast jeden Tag hat er noch zu Hause auf seiner Terrasse das Fernrohr ausgepackt und damit die umliegenden Berge abgesucht. »Auf der Ostseite von der Hochplatte gab’s leichte Schnee-Verwehungen und eine Gleitschneelawine«, sagt er, »das könnte auch hier passieren.«

Als Steffl nach einer Stunde Anstieg über eine Bergkuppe kommt, bleibt er plötzlich stehen und deutet auf einen Westhang etwa 200 Meter über ihm. Dort klafft ein Loch in der verschneiten Oberfläche, durch das man die Grasnabe sieht. »Das Schneemaul ist schon einen Meter größer als gestern, das bewegt sich schnell«, warnt er. Noch vor einigen Jahren galten solche Löcher als Zeichen für eine entspannte Schneedecke, doch Unfälle haben gezeigt, dass dies eine Fehleinschätzung war. »Den Hang müss’ ma meiden«, erklärt Steffl in gepflegtem bairisch, »aber dafür lohnt sich’s, hier mal in die Schneedecke reinzuschauen.«

Dafür holt er seine Klappschaufel aus dem Rucksack und schaufelt ein quadratisches Loch, in dessen Mitte eine freistehende Säule aus Schnee übrigbleibt. »Jetzt kommt der kleine Blocktest, da musste ich selbst noch viel lernen, als ich beim Lawinenwarndienst angefangen habe«, sagt er, und klopft mit seiner Schaufel gegen den Schneeturm. Langsam kommen die obersten 20 Zentimeter ins Rutschen und zeigen Steffl so, auf welcher Höhe die Schneedecke eine Schwachschicht hat. Noch während er das Ergebnis notiert, murmelt er, »das wird den Doktor Zenke interessieren, wenn er gleich anruft.«

14 Nachmittagsbeobachter

Tatsächlich klingelt wie jeden Tag um 16.30 Uhr Steffls Telefon. Bernhard Zenke telefoniert gerade seine 14 Nachmittagsbeobachter ab und sammelt deren Erkenntnisse. Es sind die letzten Erkundigungen, die Zenke an diesem Nachmittag einholt, bevor am kommenden Morgen die entscheidenden Stunden für ihn beginnen. Nach einer kurzen Nacht steht der Mond noch hoch am Himmel, als Zenke um 5.20 Uhr in die Münchener Lazarettstraße einbiegt. Dort, im Bayerischen Landesamt für Umwelt, hat der Lawinenwarndienst seine Zentrale, in der nun bunte Kurven auf vier Monitoren vor Zenke aufleuchten. Per E-Mail hat er die Ergebnisse vom Schneemessfeld auf der Kampenwand bekommen. Das Messfeld ist eine von insgesamt 19 solcher Analysestellen in Bayern. Sie alle liefern alle zwei Wochen eine Grafik mit Höhe, Temperatur, Dichte und der Kristallstruktur des Schnees.

Ein Wort in der Grafik der Kampenwand ist alarmierend für Zenke: »eingeschneiter Oberflächenreif«. »Die Schicht liegt nur 15 Zentimeter unter der Oberfläche«, sagt Zenke und deutet auf den Monitor, »da können Skifahrer noch rankommen und eine Lawine auslösen.« Auf einem zweiten Monitor erscheinen 16 Knöpfe mit Aufschriften wie Herzogstand, Nebelhorn oder Zugspitze. Diese Namen stehen für weitere Messstationen auf Berggipfeln, die ständig Feuchtigkeit, Wind und Temperatur messen.

Nachdem er auf den Knopf »Spitzingsee« geklickt hat, erkennt Zenke eine grüne Kurve für Luftfeuchtigkeit, die steil abfällt. »Da sind nachts die Wolken verschwunden und es ist aufgeklart«, sagt Zenke. Daher fällt auch die orangefarbene Kurve auf dem Monitor. Sie zeigt die Temperatur an der Schneeoberfläche an. Auch sie sackte ab, sobald die Wolkendecke aufriss. »Die oberste Schneeschicht ist über Nacht hart gefroren, da bildet sich ein sauberer Harschdeckel«, warnt Zenke und blickt auf die Uhr. Die letzte Stunde ist angebrochen – in weniger als 60 Minuten muss der Lagebericht fertig sein.

Hüttenwirte ohne Remmidemmi

»Jetzt schau’ ma mal, wie der Thomas das sieht«, sagt Zenke und greift zum Telefonhörer. Knappe 30 Minuten hat er nun Zeit, seine fünf Frühbeobachter anzurufen. Sie alle leben in schneereichen Berglagen und melden früh morgens ihre ersten Beobachtungen. Vor einigen Jahren, als Bergbahnen morgens noch an der Gipfelstation gestartet werden mussten, war es leichter, Menschen zu finden, die in den Bergen übernachten und um sechs Uhr früh schon wach sind. »Heute sind unsere Frühbeobachter vor allem Hüttenwirte, die nachts nicht so viel Remmidemmi haben und morgens schon wach sind«, sagt Zenke. »Aber die sind nicht einfach zu finden.«

Umso wichtiger sind ihre Informationen. »Wir hatten schon wieder ein paar Bodenlawinen auf 1500 Metern«, berichtet nun Thomas Ritzler. Er hat einen Bauernhof am Eingang zum Allgäuer Spielmannstal und noch bevor er morgens zu seinen Kühen in den Stall geht, schaut er sich die umliegenden Berge an. Für Zenke kommen die Lawinen nicht überraschend, doch er hakt nach: »So langsam müssen die Hänge doch mal leer sein, so viel wie die letzten Tage runtergekommen ist.« Da schallt es lachend zurück: »Nee, da ist noch viel Schnee oben.« Damit hat Zenke genügend Informationen für die sechs großen Bergregionen in Bayern gesammelt.

Für jede dieser Gegenden stellt er nun die zwei entscheidenden Fragen: An was für Hängen gibt es Gefahrenstellen? Und wie leicht wird dort ein Schneerutsch ausgelöst? »Früher haben Lawinenwarner auch mal überlegt, ob jetzt Wochenende ist und deswegen viele Leute in die Berge fahren«, räumt Zenke ein, »da wurde auch mal vorsichtshalber die Warnstufe raufgesetzt.« Doch seit 2003 gibt es eine europaweit festgelegte Tabelle, mit der die Antworten auf die zwei zentralen Fragen ein klares Ergebnis liefern. Für Bayern ermittelt Zenke an diesem Morgen so in den meisten Regionen die Warnstufe Drei. »Es ist die heikelste Stufe, weil da viele noch losgehen und was riskieren«, sagt er. »Jetzt können wir nur hoffen, dass die Leute auch lesen, was wir im Lagebericht genau dazugeschrieben haben.«

Von Janek Schmidt
Fotos: 
LWD Bayern, Janek Schmidt u.a.
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 12/2012. Jetzt abonnieren!
 
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