Eine Solo-Begehung im Kinnaur-Valley

25 Tage allein in einem »Big Wall«

Stellen Sie sich vor: Sie hängen 25 Tage in einer vertikalen Wand irgendwo im indischen Himalaya, ganz auf sich allein gestellt, Dauerregen, Kälte, extreme Kletterschwierigkeiten und drei Tagesmärsche bis zur nächsten Siedlung – ein Alptraum? Nicht für die Spanierin Sìlvia Vidal, der im vergangenen Sommer im Kinnaur-Valley eine atemberaubende Solo-Erstbegehung gelang.

 
25 Tage allein in einem »Big Wall« © Silvia Vidal (aufgenommen per Selbstauslöser)
25 Tage allein in einem »Big Wall«. Silvia Vidal allein in einem Ozean aus Granit
Vor jeder Expedition frage ich mich, wie groß meine Motivation dafür tatsächlich ist. Denn der Verstand und die Emotionen müssen koordiniert werden, um wissen zu können, was man wirklich möchte. Deshalb ist es ja auch so schwierig, »nein« zu sagen, wenn man schon Augenblicke erlebt hat, in denen all dies zusammengeflossen ist. Ganz gleich, wie viele Hindernisse warten mögen – schließlich bestimmt die Aussicht auf das nächste Abenteuer die Entscheidung.
Eigentlich wollte ich im Sommer nach Baffin Island zurückkehren. Doch als ich alles fertig geplant hatte, kamen die Zweifel. Wollte ich wirklich wieder nach Baffin? Die Antwort, die ganz tief aus mir heraus kam, lautete zu meiner Überraschung eindeutig: »Nein!« Oft lassen wir uns von unserer eigenen Trägheit treiben. Wenn wir dann nicht innehalten und genau in uns hinein hören, tun wir manchmal Dinge, die unseren wirklichen Bedürfnissen widersprechen.

In Wirklichkeit wollte ich nach Indien, wusste aber nicht, warum noch wohin – ich hatte kein Ziel! Einer plötzlichen Eingebung folgend, tippte ich bei Google die Begriffe »India, unclimbed wall« ein: Nach kurzer Zeit erschien ein Foto am Bildschirm auf, von einer wunderschönen, unberührten Felswand im Kinnaur-Tal – unglaublich! Aber es war mir nicht möglich, herauszufinden, wie lang und wie hoch die Wand ist und wie das Gestein beschaffen sein könnte. Auch über den Anmarsch war nirgends etwas zu finden – alles war ungewiss, was die Sache noch spannender machte.

Regen, Regen, Regen…

So machte ich mich auf die Reise, ausgestattet mit einem Wandfoto und fünf Seesäcken. Als Individualreisender in Indien unterwegs zu sein, ist schwierig genug, dazu noch mit 150 Kilo Ausrüstung zu reisen, gestaltete die Angelegenheit noch ungleich komplizierter. Klettern wollte ich allein, aber reisen wollte ich in Gesellschaft. Nicht nur aus logistischen Überlegungen, sondern ich wollte das Abenteuer des Zustiegs zur Wand mit jemandem teilen. Sich diesem Abenteuer gleich zu Beginn einer Expedition allein zu stellen, heißt meines Erachtens, sich zu früh auf die Probe stellen zu wollen.

Meine Freundin Eulália Sancho wollte mich bis ins Basislager begleiten und anschließend ihre Reise durch Indien fortsetzen. Wir wollten während der Monsunzeit reisen, denn in dieser Gegend ist der Monsun normalerweise nicht besonders stark. Zudem dachte ich, dass ich Schlechtwetter von meinen früheren Expeditionen ja gewohnt sei. Allerdings sollte sich herausstellen, dass ich mich ordentlich getäuscht hatte, denn in diesem Jahr fielen in der Region 150 Prozent mehr Niederschläge als in normalen Jahren. Da die Vorbereitungen auf die Expedition reibungslos abliefen, erwartete ich, dass der Rest ebenfalls gut gehen würde. Als sich die Dinge dann verkomplizierten, hielt ich dies für ein temporäres Phänomen und war mir sicher, dass sich alles zum Guten wenden würde – von wegen!

Es begann damit, dass uns unsere Träger auf 3800 Metern Höhe verließen mit der Begründung, man könne nicht höher hinauf steigen. Wir standen also im Nebel und errichteten ein Basislager, ohne zu wissen, wo unsere Wand war. Nach zwei Tagen hatte ich einen Weg durch ein enges Tal mit zwei Wasserfällen gefunden, der zur Wand führt. Ich brachte an den schwierigen Stellen Fixseile an und stieg wieder zurück ins Tal, um drei Träger anzuheuern. Sie kamen, halfen mir und gingen wieder. Von diesem Moment an war ich über einen Monat lang völlig auf mich allein gestellt – ohne Telefon, ohne Funkgerät, ohne jede Kommunikationsmöglichkeit. Weiter oben errichtete ich ein weiteres Basislager; es bestand aus einer Hängematte, die ich an einem Riesenblock unter der Wand fixierte. Und ich hatte die Wand immer noch nicht gesehen, denn es herrschte dichter Nebel und es regnete ohne Unterlass. Aber ich wollte diese Wand unbedingt durchklettern! Ich fixierte die ersten drei Seillängen, um zu wissen, wie viel Proviant ich für die Durchsteigung mitnehmen muss. Als ich meinen Proviant für 18 Klettertage kalkulierte, hatte ich den oberen Teil der Wand immer noch nicht gesehen. Ich schätzte die Wandhöhe auf 800 Meter, doch es waren mehr als 1000 Meter, wie sich am Ende herausstellen sollte – und es wurden 25 Klettertage…

»Bat hooks« helfen in der Big Wall weiter

Wegen des Dauerregens gab eine meiner beiden Kameras bald den Geist auf, und mein Portaledge (eine Plattform, die an Bohrhaken in der Wand zum Biwakieren befestigt wird; Anm. des Übersetzers) verwandelte sich in einen unbewohnbaren Swimming Pool. Das größte Problem durch die Nässe war jedoch eine ständige Unterkühlung, aufgrund der ich einmal sogar das Bewusstsein verlor, während ich an meinen Fixseilen hinaufjümarte. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich kein Gefühl, wie lange ich reglos im Seil hing, ich vermute aber, dass es nur wenige Sekunden waren. Meine Hände waren so eiskalt, dass ich für eine Abseilstelle fast eine halbe Stunde brauchte.

Am nächsten Tag regnete es weiter, und ich kletterte weiter. Nach 14 Tagen in der Wand merkte ich, dass mir langsam die Bohrhaken ausgingen. Also entschloss ich mich, Löcher für »bat hooks« zu bohren (kleine Löcher werden in den glatten Granit gebohrt, um sich daran mit Skyhooks weiter zu bewegen; Anm. des Übersetzers). Ich war immer der Auffassung, dass »bat hooking« die tatsächliche Schwierigkeit beim technischen Klettern zerstört, so dass ich mich gar nicht wohl fühlte bei meiner Entscheidung. Aber jetzt war ich schon so weit oben und sollte aufgeben? Nein, die Motivation, weiterzumachen, überwog und so kletterte ich weiter. Bohrte meine Löcher nur dort, wo es absolut nicht anders ging, und die schwierigsten Seillängen (A4 und A4+, Anm. des Übersetzers) ergaben sich ohne »bat hooks«. Dazu musste ich die natürlichen Möglichkeiten, die der Fels bot, maximal nutzen, und so schaffte ich Passagen, die auf den ersten Blick unmöglich erschienen. Und so stürzte ich öfter als sonst…

25 Tage in der Vertikalen…

Ich war mehrmals kurz davor, abzubrechen. Aber eigentlich wollte ich viel lieber weiter, die Sache zu Ende bringen. Es brachte mir Befriedigung, in dieser gewaltigen Wand zu klettern, und die rationalen Probleme, wie Wetter und Ausrüstung, verblassten angesichts meiner Motivation – ich kletterte weiter.
An jenem Tag, als ich den Ausstieg erreichte, kletterte ich bis in die Nacht. In der Früh hatte ich mein Portaledge verlassen mit der Absicht, so lange zu klettern, bis ich das Ende der Wand erreiche oder bis es klar ist, dass ich es nicht schaffen würde. Seit 23 Tagen hing ich schon in dieser Wand und ich wusste nicht, wie viele Längen mir noch fehlten. Aber ich wusste, dass ich weitere zwei Tage zum Abseilen brauchen würde. Es war stockdunkel, als ich den Gipfelgrat erreichte…
Der Abstieg war die reine Folter. Die nassen Seile, das Gewicht der Ausrüstung, die Quergänge, die zurückgeklettert werden mussten – zweieinhalb Tage dauerte die Abseilerei, und meine letzten Essensreserven waren zur Neige gegangen. Nach 25 Tagen in der Wand erreichte ich mein vorgeschobenes Basislager am Wandfuß. Hier hatte ich etwas Nahrung versteckt, aber irgendwie hatte ein Tier alles Essbare ausgegraben und verzehrt – ich konnte es nicht glauben!

Zu essen gab es also erst unten im Basislager etwas, und das lag einige Gehstunden weiter. Ich musste Fixseile anbringen und trug meine gesamte Ausrüstung hinunter, so mussten die Träger nur einen Tag hochkommen um alles ins Tal zu bringen.
Dann war es soweit: Der Tag des Rückmarschs stand bevor, und damit auch der Augenblick, zum letzten Mal hinaufzuschauen zu »meiner« Wand, zu »meinem« Berg, um mich von ihnen zu verabschieden. Ich schaute bergwärts und sah nichts – wieder verdeckten Nebel und Regen dieses gewaltige Stück Fels, das mich 25 Tage lang in Atem gehalten hatte.
Ich winkte kurz hinauf in den Nebel und verabschiedete mich schließlich von meinem treuesten Reisebegleiter auf dieser Expedition – dem Regen… 

Übersetzung: Manuel Meyer

25 Tage allein in einem Big-Wall (Bilder Silvia Vidal)
 
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