Docteur Vertical | BERGSTEIGER Magazin
Zu Besuch bei einem Bergrettungsarzt

Docteur Vertical

Bis zu 15 Einsätze pro Tag sind in der Hauptsaison für den Bergrettungsarzt Dr. Emmanuel Cauchy keine Seltenheit. Gaby Funk hat ihn besucht.

 
Emmanuel Cauchy; Foto: Gauchy © Cauchy
Emmanuel Cauchy
Hätte Emmanuel Cauchy nicht schon als Jugendlicher das Segelboot seines Vaters vor der Küste der Normandie versenkt, wer weiß, ob er je Bergsteiger geworden wäre. Hätte die Schweizer Bergrettung ihn während seiner alpinen Sturm-und-Drang-Phase nicht per Helikopter aus der Matterhorn-Nordwand holen müssen, dann hätte er nach dem Medizinstudium vielleicht nie den Wunsch verspürt, Notarzt bei der Bergrettung zu werden. Wüsste er nicht aus eigener Erfahrung, wie schnell man beim Bergsteigen in eine Notlage geraten kann, dann könnte er nach über 15 Dienstjahren vielleicht nicht mehr so viel Empathie und Verständnis aufbringen für all jene, die er und seine Kollegen bei eisiger Kälte und Schneetreiben erstversorgen, bergen und dann in die Klinik fliegen müssen.

Emmanuel Cauchy ist seit mehr als 15 Jahren Bergrettungsarzt in Chamonix und fliegt zusammen mit den Experten des PGHM, der französischen Bergrettungsgendarmerie, direkt dorthin, wo sie gebraucht werden. Mal geht’s in wenigen Minuten vom warmen Büro hinauf in eisig-stürmische Höhen, mal per Winde tief hinab in eine Spalte oder direkt an den exponierten Standplatz einer extrem schwierigen Route mitten in einer riesigen Granitwand.

Cauchy ist zudem Gründungsmitglied und Leiter von Iffremont, einem Forschungs- und Schulungsinstitut im Bereich der Bergmedizin, sowie eine international bekannte Kapazität  in der Behandlung von Höhenkrankheit, Unterkühlung und Erfrierungen. Expeditionsleiter, aber auch Alleingeher wie der bekannte Abenteurer Mike Horn, können sich in Notfällen  rund um die Uhr per Satellitentelefon von ihm und den anderen Iffremont-Experten beraten lassen. Als wäre das alles nicht genug, ist und war »Docteur Vertical«, wie Cauchy genannt wird, seit er vor Jahren Artikel für französische Bergzeitschriften schrieb, auch immer wieder Darsteller, Autor oder Berater  bei Spielfilmen und Filmdokumentationen: Im vergangenen Jahr lief auf Arte eine sehr interessante Dokumentation von und mit ihm über Höhenmedizin und Unterkühlung.

Als medizinischer Berater wirkte er beim Film von Eric Valli »Himalaya – Die Kindheit eines Karawanenführers« mit, ferner beim James-Bond-Streifen »Der Morgen stirbt nie« und beim französischen Thriller »Die purpurnen Flüsse« von Matthieu Kassovitz mit Jean Reno. Anfang Januar 2008 kehrte Cauchy von einer Expedition zurück, zu der er Ende Oktober 2007 in die Antarktis aufgebrochen war. Das kleine Team aus extremen Bergsteigern und Seeleuten, darunter Lionel Daudet und Isabelle Autissier, segelte bei teils sehr stürmischer See nach Südgeorgien, wo den Bergsteigern die komplette Längsdurchquerung der Insel und die Besteigung der wichtigsten Gipfel gelang. Ein Abenteuer… und eine längere Phase des Auftankens für Cauchy, die er bei seinem Job von Zeit zu Zeit braucht.

Emmanuel Cauchy und sein Buch

2005 veröffentlichte Cauchy beim Glénat-Verlag in Grenoble sein Buch »1001 secours en montagne«. In dieser »auf Tatsachen beruhenden Fiktion«, schreibt er auf pa­ckende, sehr informative und oft auch amüsante Weise von seinen spannendsten Einsätzen und davon, wie es überhaupt dazu kam, dass er Bergrettungsarzt wurde. Dabei erfährt man viel über die Probleme, mit denen ein Bergrettungsarzt oder Bergretter konfrontiert ist, beispielsweise von den Schwierigkeiten, auf dem Grund einer Spalte oder im Tiefschnee einem Schwerverletzten einen Katheder legen zu müssen oder dem Druck, in einer lebensfeindlichen Umgebung innerhalb von Sekunden Entscheidungen treffen zu müssen, die von existenzieller Bedeutung sind – für den Verunglückten, manchmal aber auch für den Arzt selbst,  das Bergrettungsteam sowie deren Angehörige. Cauchy lässt auch keinen Zweifel daran, wie sehr dieser Beruf auf Dauer belasten und an den Nerven zehren kann, vor allem, wenn der Kampf ums Leben eines Verunglückten wieder einmal vergeblich war oder die Bergretter von »Scherzkeksen« mit fingierten Notrufen zum Narren gehalten werden und tagelang nach einem nicht existierenden »Verunglückten« suchen.

Die Einsätze, die Cauchy in seinem Buch beschreibt, jagen einem eiskalte Schauer über den Rücken, lassen einen nach Luft schnappen, mitbibbern, schmunzeln, laut loslachen oder dezent ins Taschentuch schnäuzen. Obwohl die meisten der beschriebenen Fälle gut ausgehen, schont Cauchy seine Leser nicht: Die Szenen, die er beschreibt, sind authentisch, ungeschönt, manchmal urkomisch, unappetitlich oder recht drastisch, ohne dass dabei je die Würde eines Verunglückten verletzt wird. Die Sprache, die er dabei benutzt, ist nicht die des Akademikers, sondern die aus der medizinischen und bergsteigerischen Praxis. Sie ist kurz und prägnant sowie stark geprägt von schwarzem Humor, Ironie und einer lakonisch wirkenden »Rohheit«. Die dadurch bewirkte sprachliche Distanzierung von der Tragik des Geschehens dient dabei wohl wie ein Schutzwall vor den eigenen Emotionen.

Bei der Bergung eines Verunglückten, der wegen der Höhe seines Absturzes eigentlich tot sein müsste, heißt es dann schon mal: »Die erste Reaktion, die man im Heli hörte, war: ›Scheiße, er lebt!‹ ›Unglaublich!‹, fügte Didier hinzu.« Wäre Cauchy nur jemand, der seinen Job erledigt und in seinem Buch beschreibt, was ein Bergretter macht, dann hätte er den Kontakt zu Jamie, einem jungen Briten, den die Bergretter einst nach tagelanger Agonie neben dem toten Freund aus der Droites-Nordwand geholt hatten – mehr tot als lebendig und mit nicht mehr zu rettenden erfrorenen Gliedmaßen – nicht aufrecht erhalten. Er wäre nicht zu Jamies Hochzeit gereist und hätte Jahre später auch nicht versucht, zusammen mit ihm den Mont Blanc zu besteigen. Und er hätte auch keine Film-Dokumentation darüber gedreht, wie Jamie nach dieser verheerenden Katastrophe trotz seiner Arm- und Bein-Prothesen lernte, sein Leben wieder zu meistern, seine Träume vom Bergsteigen dennoch zu realisieren und das Leben auch in anderen Bereichen wieder in vollen Zügen zu genießen.

Wenn Cauchy über die kleinen Macken seiner Kollegen berichtet, vom Brotbacken und anderen Freuden, Pflichten und Lasten seines Alltags – dann tut er das auf amüsante Weise und um zu zeigen, dass er und die anderen Bergretter  keine »Supermänner« sind. Und wenn er von Khando erzählt, einem Mädchen aus dem Dolpo, dessen Leben er vor Jahren gerettet hat, und um das er und seine Familie sich seither kümmern, dann tut er das nicht, wie man vielleicht zunächst vermuten könnte, zur Selbstdarstellung, sondern wie bei jedem anderen der beschriebenen Rettungseinsätze als exemplarisches Beispiel für etwas, das über das Beschriebene hinausweist: Khando gehört inzwischen zwar zu Cauchys Familie, aber ohne dass das Mädchen dafür aus seinem eigenen Kulturkreis  herausgerissen und  adoptiert wurde. Weil das so am Besten für sie ist. Gleichzeitig ist die Beziehung persönlicher und intensiver als bei einer der üblichen Patenschaften.

So ist das Buch zum einen eine sehr unterhaltsame, sehr lehrreiche und spannende Abenteuer-Lektüre, zum anderen wie von Cauchy beabsichtigt, eine ganz spezielle Hommage an alle Bergretter und Freunde von ihm, die in den Bergen ums Leben gekommen sind. Darüber hinaus ist es aber auch das Credo eines Menschenfreundes, Optimisten und Bergsteigers, dessen Leidenschaft fürs Bergsteigen trotz der ungeheuren Ambivalenz des Bergsteigens zwischen intensivem Lebensgefühl und Tod oder unsäglichem Leid und trotz des diesbezüglich völlig ernüchternden Berufes unverändert stark geblieben  ist. Es ist für Bergfans aller Art ein sehr lesenswertes Buch.
Gaby Funk
 
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