Johnsbach im Gesäuse: Ausweg nach oben | BERGSTEIGER Magazin
Serie Bergsteigerdörfer - Teil 2

Johnsbach im Gesäuse: Ausweg nach oben

Vor 4000 Jahren lag das Johnsbachtal an einem wichtigen Verbindungsweg in die Eisenerz-Region. Vor 100 Jahren schrieben Wiener Kletterer an den Felswänden ringsum Alpingeschichte. Doch dann geriet das Dorf in der Sackgasse neben dem Ennstal in Vergessenheit. Bis es sich 2002 im Zentrum des Nationalparks Gesäuse wiederfand und wenig später eines der ersten ausgezeichneten Bergsteigerdörfer wurde.
 
Nationalpark Geäuse © Stefan Leitner / Nationalpark Gesäuse
Steiles Revier: Einige Gipfel rund um Johnsbach sind nur kraxelnd erreichbar.
Karl Tauer hatte wohl Großes vor. Der 25-jährige Wiener wollte einen neuen Weg über die Rosskuppenkante finden, deren Erstbegehung erst ein Jahr her war. Tauer scheiterte. Am 15. August 1926 stürzte er ab und liegt nun auf dem Johnsbacher Friedhof begraben. Sein Tod ist längst nicht die einzige Bergtragödie, von der die Grabkreuze und Gedenksteine rund um das einfache Kirchlein erzählen. Fritz Kasparek, Gustav Jahn, Hubert Peterka ... bekannte Alpinisten tauchen zwischen den Namen der verunglückten Bergsteiger auf. 524 solcher Schicksale hält die Totenstatistik der Kirchengemeinde seit dem Jahr 1810 fest. 524: Das sind mehr als viermal so viele, als der Ort derzeit an Einwohnern zählt.

Zugegeben, die Geschichte von Johnsbach als Bergsteiger-Ort könnte ein wenig mehr Heiterkeit vertragen. Doch ohne diese Tragödien wäre das Dorf vermutlich geblieben, was es Jahrhunderte lang war: eine lose Ansammlung von Höfen, deren Bewohner der Bergwelt das Nötigste zum Überleben abringen.

Noch immer ist Johnsbach kein typisches Bilderbuch-Dorf: mit Kirche, Wirtshaus und malerisch ringsum drapierten Höfen. Statt eines traditionellen Ortskerns findet man auf dem engen Korridor aus Wiesen und Wald bis zu den nahen Bergflanken nur einzelne Höfe, die allein durch Bach und Straße miteinander verbunden sind. Um das, was man ein Ortszentrum nennen könnte, konkurrieren zwei alteingesessene Wirtschaften: der Gasthof Donner am Knick des Johnsbachs, wo die schroffen Nordwände des Hochtor-Massivs in einem letzten scharfen Grat gen Westen auslaufen, und der Kölblwirt drei Kilometer bachaufwärts, wo sich das Gesäuse von seiner lieblicheren Südseite präsentiert. Der eine könnte die benachbarte Kirche mit dem Bergsteigerfriedhof als Argument anführen, der andere das nahe Schulhaus und das alljährlich im Sommer stattfindende Musikantentreffen, bei dem im Kölblwirt eine Woche lang nonstop echte steirische Volksmusik zelebriert wird. Das war’s dann aber auch schon mit Attraktionen im Herzen des Nationalparks Gesäuse.

Die Natur als Baumeister

Apropos Nationalpark: Damit beginnt das zweite Kapitel in der Geschichte von Johnsbach als – nun ja – Touristenmagnet. Das Xeis, wie die Gesäuse-Berge im Volksmund heißen, ist der jüngste von sechs österreichischen Nationalparks. Nirgendwo sonst in den Alpen werkelt die Erosion mit so hohem Wirkungsgrad wie hier, wo die Enns 1800 Meter tief unter dem Hochtor am felsigen Widerstand nagt. Jeder Regenschauer, jede Schneeschmelze schwemmt Tonnen von Geröll aus den steilen Flanken ins Johnsbachtal und modelliert eine Landschaft, die immer ein wenig nach frisch umgebuddelter Kiesgrube aussieht. Doch nichts davon ist vom Menschen gemacht, alles wird hier der Natur überlassen. Fast alles. Die Felswände der drei großen Gesäuse-Gipfel Hochtor, Ödstein und Admonter Reichenstein sind nach der Blütezeit der Wiener Alpinisten in den 1920er-Jahren natürlich nicht mehr ganz jungfräulich. Die Jahn-Zimmer- Route durch die Nordwand des Hochtors und die Ödsteinkante – jene berüchtigte Kletterei, an der Unzählige beim Versuch der prestigeträchtigen Erstbegehung ihr Leben ließen – gehören heute zu den Klassikern.


Endlich Sonne! Nach der Route »Schmitt&Co« durch die Hochtour-Nordwand

Ihre technischen Schwierigkeiten stellen zwar keine Herausforderungen mehr für die aktuelle Kletterelite dar. Aber die Länge, die Ausgesetztheit und immer wieder durch die Luft pfeifendes Gestein verlangen nach wie vor Kondition, Erfahrung und Nervenstärke. An den vergleichsweise wenigen Kletterern im rauen oberen Stockwerk des Gesäuses störte sich unten im Tal keiner der Landwirte, wohl aber an so mancher Nationalpark-Regelung. Der Stellenwert der Landwirtschaft ist noch immer hoch. Längst nicht jeder im Ort war anfangs begeistert davon, die Wälder und Wiesen des Gesäuses den strengen Naturschutz-Regeln zu unterstellen. Nur der Kölblwirt Ludwig Wolf, zugleich Altbürgermeister von Johnsbach, hält dem Nationalpark schon seit dessen Gründung die Stange. »Mittlerweile sind selbst die früheren Kritiker froh drüber«, zeigt er sich erleichtert.

Mit der Auszeichnung zum Bergsteigerdorf hatte Wolf es 2008 sehr viel einfacher: Als Johnsbach sich gleich zu Beginn der Alpenvereins-Initiative darum bewarb, kostete das den damaligen Bürgermeister nur eine Viertelstunde Überzeugungsarbeit. Die drei Gast- und die drei Hüttenwirte sowie der Gemeinderat standen geschlossen hinter ihm.


1800 Höhenmeter liegen zwischen dem Hochtour-Gipfel und dem Ennstal.

Was die Auszeichnung bringt

Die Zukunft des Dorfes, das aus der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu schwinden drohte, ist nun keine Sackgasse mehr wie das Tal, in dem es liegt. »Es wird wieder über uns gesprochen«, freut sich der Kölblwirt. Urlauber, die Ruhe, Natur und anspruchsvolle Bergwanderziele suchen, werden in Johnsbach fündig. »Oft kommen auch welche, die zuvor in einem der anderen Bergsteigerdörfer waren und denen der Grundgedanke des sanften Tourismus gefällt.« Dazu gehört auch regionale Wertschöpfung. Das Fleisch gewordene Beispiel hierfür serviert Kölblwirtin Ingrid Wolf mit der Spezialität des Hauses: einem saftigen Styriabeef, garniert mit Kartoffeln und Gemüse. Die Rinder, aus deren Fleisch das Steak zubereitet wird, grasen den Sommer über auf der hauseigenen Kölblalm ein paar hundert Meter entfernt.

​Das weiß gekalkte Häuschen mit dem Holzaufbau und der vom Rauch von neun Jahrhunderten geschwärzten Küche ist zugleich das älteste Gebäude des Tales; ja sogar eine der ältesten Almen in der Steiermark. Schon vor 4000 Jahren stand hier ein Haus, das selbst den Winter über bewohnt war. Denn in der Bronzezeit war am Talende längst noch nicht Schluss: Ein wichtiger Verbindungsweg führte vom Johnsbachtal in die Region Eisenerz. So beginnt die Geschichte von Johnsbach doch schon viel heiterer!
 
Text: Dagmar Steigenberger; Bilder: Dagmar Steigenberger, Andreas Hollinger
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 05/2017. Jetzt abonnieren!
 
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