Frühjahrsblumen in den Alpen

Blumenwanderungen: Die Wiedergeburt der Farbe

Blumen und Blütenpflanzen an den Hängen erfreuen das Auge des Bergsteigers fast das ganze Jahr über. Aber gerade im Frühling bringt die Natur so leuchtende Farben hervor, wie sie keinem Maler besser gelingen.

 
Das gelbe Trollblumenmeer unter den Gipfeln des Ostkaisers. © BERGSTEIGER
Das gelbe Trollblumenmeer unter den Gipfeln des Ostkaisers.
Novembergrau ist eine leuchtende Farbe im Vergleich zu dem Pieselwetter an diesem späten Apriltag. Der Schnee verregnet, grau. Noch trister ist der Himmel, in dunklem Einheitsgrau. Selbst die Fichten stehen wie schwarze Unheilsboten gegen den Himmel. Wenn alle Tage so farblos wären, gäbe es keine Bergsteiger – da bin ich mir sicher.

Schneerosen - die Künstler

Zartes Rosa. Man muss zweimal hinschauen. Sonst glaubt man es nicht. Sechs oder sieben Zentimeter Durchmesser hat der Blütenstern und er ist rosa. Kein Schweinchenrosa, kein Kitschrosa, sondern ein helles Rosa. Es kommt mir vor wie die schönste Farbe der Welt. Fünf rosa Blütenblätter sind das einzige, das sich von dieser Schnee- oder Christrose durch die Schneedecke gebohrt hat. Plötzlich ist das Wetter vergessen, die bergsteigerische Sinnfrage ebenso. Der Blick schweift über die verregneten Schneeflächen neben dem Weg. Wo hat es eine weitere Blüte geschafft? An dem baumfreien Südhang ist das bald keine Frage mehr. Ein Meer von Schneerosen läutet die nächste Jahreszeit ein. Es wird Frühling!

Viele Blüten erstrahlen noch in reinem Weiß, doch einige sind bereits ins Rosa gewechselt. In ein paar Wochen werden alle Blütenblätter rosa sein, teils sogar tief rot. Dazu die glänzend dunkelgrünen Blätter der Schneerosen, und die Farbkomposition ist perfekt. Wie’s der Name schon sagt: Die Schneerose lässt sich vom Winter nicht beeindrucken. Die Blätter überdauern die kalte Jahreszeit und sobald die Tage etwas länger werden und es für die Blüten eine Chance gibt, ans Sonnenlicht zu gelangen, beginnt die Christrose zu blühen; ab Februar/März also, einzelne Exemplare schon im Januar.

Für uns ist nach dieser Wanderung jedenfalls klar, dass der Frühling nicht mehr weit ist und die nächsten Frühblüher schon in den Startlöchern stehen.
Von Schnee und Kälte unbeeindruckt zu sein, scheint auch die Soldanelle. Eisglöckchen, Alpenglöckchen oder Alpentroddelblume werden die grazilen lila Blümchen genannt. Wenn die kleinen Köpfe im Wind schaukeln, der die Schneereste aufschleckt, dann geht einem das Herz auf. Sie sind Frühlingsboten im wahrsten Sinn. Sobald die Schneedecke dünn ist, spitzen sie aus dem Boden und beginnen zu blühen. Für mehr als ein kleines lila Glöckchen, einen hauchdünnen Stiel und ein paar winzige Blättchen reicht es nicht und sobald es wärmer wird, ist der Zauber auch schon wieder verschwunden. Keine zehn Zentimeter erreicht dieser Zwerg der Alpenblumen, dafür findet man sie noch in 3000 Meter Höhe.

Alle Jahre wieder

Durch den halben Kontinent zu fahren und sich tagelang vor einem Fernrohr die Füße in den Bauch zu stehen, nur um ein paar Sekunden lang einen graubraunen Piepmatz vorbeifliegen zu sehen… Die Freizeitbeschäftigungen anderer bleiben uns manchmal sehr fremd. Dass man andererseits von weit her anreist, um ein weiß-lila Blütenmeer von Krokussen zu sehen oder die wogende Pracht und den betörenden Duft einer Narzissenwiese, das verstehe ich gut. Anders als bei Soldanellen und Enzian, die man fast überall zu Gesicht bekommen kann, ist ein Blütenteppich von Krokussen oder Narzissen längst nicht an jedem Berg zu finden. Auch sind ihre zarten Blüten wesentlich anfälliger für Regenwetter oder einen letzten Schneefall als beispielsweise die Schneerose. Kein Wunder, bei nur fünf Zentimeter Schnee schaut vom Krokus nur noch das Blütenspitzchen heraus. Nach dem Durchzug eines Tiefs dauert es Tage, bis der Duft der Narzissen wieder über den Wiesen liegt. Beides – Schnee und Regen – ist im April und Mai während der Blüte keine Ausnahme, die makellose Krokuswiese daher sehr wohl.

Gelb, gelb und wieder gelb

Um ehrlich zu sein, können auch wir Wochen investieren, um einen kleinen grauen Vogel zu sehen. Im Übertragenen zumindest. Oder ist es etwas anderes, wenn man fünf Stunden Aufstieg (unterbrochen durch eine Biwaknacht) in Kauf nimmt, um an einer dicken, harzigen Latsche am Zehn-Meter-Seil die Schrofenwand hinabzuseilen und sich die Nase kopfüber am Fels platt zu drücken, um dann das perfekte Aurikelbild zu fotografieren?

Aurikel, auch Gamsbleaml genannt, lieben die schrofigen Wände. Ein paar Körnchen Erde reichen ihnen schon. Ist das nicht beneidenswert? Hauptsache, der Standort garantiert ein paar Sonnenstrahlen, dann kann der April oder Mai kommen und die gelbe Blütenpracht leuchtet. So faszinierend die dottergelben Glöckchen sind, so schön sind auch die Blätter: teils fleischig tiefgrün, teils in pastellgrün, als hätte nebenan der Bäckerlehrling den Mehlsack plumpsen lassen.

Ein richtiger Hingucker ist der Frauenschuh, eine der prächtigsten Orchideen, die in unseren Bergen vorkommt. Leider auch eine der besonders seltenen, da man sie durch Ausgraben an vielen Stellen fast ausgerottet hat. Wie fast alle Bergblumen ist sie daher geschützt. Die 30 bis 60 Zentimeter hohe Orchidee liebt lichte Wälder. Hier steht sie im Licht-Schatten-Gemisch und ist trotz ihres leuchtend gelben »Schuhes« erstaunlich schwer zu sehen.

Ein »Allerweltblümchen« ist dagegen die Trollblume. Geschützt ist sie genauso, doch wo sie vorkommt – auf feuchten Wiesen – bildet sie oft ganze Felder. Die etwa drei Zentimeter großen kugelförmigen Blüten wackeln dann als gelbes Meer im Wind. Man weiß kaum, wo hintreten, wenn der Weg durch eine dieser Trollblumenwiesen führt. Je nach Höhenlage blühen sie selbst im August noch. Allzu lange jedoch dauert der Farbenrausch nicht an, nach zwei bis drei Wochen werden die äußeren Blütenblätter unansehnlich braun, wenn nicht vorher bereits ein ganzes Heer an Raupen die Deckblätter angeknabbert hat; oder die Gämsen gleich den ganzen Kopf abgebissen haben.

Die Klassiker: Enzian, Almrausch und Edelweiß

Die Klassiker unter den Bergblumen kommen zum Schluss. So ist es auch bei der Blüte. Gemeint sind Enzian, Almrausch und Edelweiß. Sie lieben die Höhe, lassen sich den kalten Wind um die Blüten wehen und die Sonne aufs Haupt scheinen. Große Temperaturgegensätze und kurze Vegetationsperiode sind für sie kein Problem. Anders sieht es da mit ihren Bewunderern aus, sie stellen nämlich sehr wohl ein Problem für den Bestand dieser Bergblumen dar. Für die Almrauschbuschen, die von Juni bis in den August hinein ganze rote Felder bilden können, sieht es noch am besten aus. Aber fast alle Enzianarten sind in ihrem Bestand gefährdet. Für den bayerischen Alpenraum sind das immerhin 19 verschiedene Arten.

Am schlimmsten ist die Alpenblume schlechthin dran: das Edelweiß. In den bayerischen Bergen ist sie mit Ausnahme des Allgäus praktisch verschwunden. Und selbst auf den Grasbergen des Allgäus muss man seit vielen Jahrzehnten eine »Edelweißpolizei« einsetzen, um das begehrte Blümchen zu schützen. Dabei würde man das wirklich nicht vermuten, wenn man die trockene Beschreibung liest: weißfilzige oder grauwollig behaarte Staude von drei bis 15 Zentimetern mit gelblich-weißen Blüten.

Wie bei Schneerose, Aurikel und manch anderer Bergblume auch ist es eben die Faszination, dass unter den unwirtlichen Bedingungen des Hochgebirges Leben möglich ist. Und dass auch magere Kost und eisige Nächte der Schönheit keinen Abbruch tun.