Dolomiten Special: Kriegssteige | BERGSTEIGER Magazin
Klettersteige aus Kriegszeiten in den Dolomiten

Dolomiten Special: Kriegssteige

Dolomiten – die vielleicht schönsten Berge der Alpen! Sie waren Schauplatz eines dunklen Kapitels in der jüngeren Geschichte, des 1. Weltkriegs. Entlang der damaligen Frontlinie verlaufen heute eindrucksvolle Höhenwege und -steige; wir stellen die schönsten davon vor. Von Eugen E. Hüsler (Text und Bilder)

 
Am Südgrat des Rautkopfs befand sich ein österreichischer Beobachtungsposten © Eugen E. Hüsler
Am Südgrat des Rautkopfs befand sich ein österreichischer Beobachtungsposten
Es ist lausig kalt, mich fröstelt es trotz langer Hose und Fleecejacke. Draußen ist Sommer, doch durch das finstere Loch pfeift ein kalter Wind. Das gebündelte Licht meiner Stirnlampe zittert über den roh behauenen Fels, ich geh’ ziemlich geduckt, um mir den Kopf nicht (nochmals) anzustoßen. Links taucht ein heller Schimmer auf: wohl ein Seitenstollen. Er leitet hinaus in die Wand, zu einem ehemaligen Beobachtungsposten, sein Ausgang ist durch ein Geländer gesichert, damit niemand zu Schaden kommt.

Es ist Juli 2007, und geschossen wird hier schon längst nicht mehr, dafür aber investiert, ins Geschichtsbewusstsein: Das ehemalige Frontgebiet am Kleinen Lagazuoi (2752 m), am Hexenstein und an den Cinque Torri ist mittlerweile ein großes Freilichtmuseum, ein »Kompendium des Schreckens«. Aber der will sich nicht so richtig einstellen, obwohl die Initiatoren viel Mühe darauf verwendet haben, die grauenhaften Ereignisse von anno dazumal nicht verklärend darzustellen. Doch solange am Falzáregopass noch Mussolini-Wein im Verkaufsregal steht, Veteranenvereine reichlich Zulauf verzeichnen und die Literatur über die Heldentaten der Vorväter ins Uferlose anwächst, scheint es mir, sind die Gespenster von einst noch nicht besiegt. Drunten auf dem Martini-Band, das während des Gebirgskrieges traurige Berühmtheit erlangte, bin ich einem älteren Herrn begegnet. Aus Olang ist er, und Förster; sein Vater, erzählt er mir, war eine Zeitlang am Lagazuoi stationiert, und jetzt wollte er sich diesen Ort doch einmal anschauen, »wo doch alles so schön hergerichtet ist.«

Ich finde das auch, habe aber so meine Zweifel, ob die wiederhergestellten Wege und Stollen das Elend der »Grande Guerra« sichtbar, spürbar werden lassen. »Er hat nie ein Wort über den Krieg verloren, mein Vater«, sagt der Herr aus dem Pustertal, »eigentlich hat er mehr und mehr geschwiegen – nachher.« Die einen lässt er wohl verstummen, der Tod, andere müssen den Schrecken loswerden: reden, schreiben, erklären.

Der Kleine Lagazuoi

Der Lagazuoi war das, was Militärhistoriker als Brennpunkt eines Frontabschnitts bezeichnen. Hier krallten sich Österreicher und Italiener fest – buchstäblich –, und die Frontlinie verlief kurioserweise quer durch die Südwand des Berges: Oben im Gipfelbereich saßen die Kaiserjäger, während sich die Alpini von unten vorarbeiteten, über die Cengia Martini. Es war ein Krieg im Schatten, im Dunkeln, Bohrmaschinen ratterten tief im Berg, der Feind sollte weggesprengt werden. Am Wandfuß ist das Ergebnis – heute noch – zu besichtigen: riesige Geröllströme, die erst allmählich von der Vegetation zurückerobert werden, ganz friedlich. Bei einer großen, von den Österreichern ausgelösten Sprengung brachen gut 100 000 Kubikmeter Gestein ab, die Italiener konnten aber nicht von ihrer Bandstellung vertrieben werden.

Wie es begann

Eingeläutet wurde die Katastrophe mit den Todesschüssen, die am 28. Juni 1914 in Sarajevo fielen. Zehn Tage nach dem Mord an Erzherzog Ferdinand und seiner Gattin erklärte die Donaumonarchie Serbien den Krieg. Das massenhafte Töten konnte beginnen, musste wohl zwangsläufig beginnen. Denn der alte Kontinent war längst zu eng geworden für Europas Autokraten und ihre Machtansprüche. Im Südosten hinterließ das zerfallende Osmanische Reich ein gefährliches Machtvakuum; Italiens junge Monarchie hatte sich die »Befreiung unerlöster Volkstumsgebiete« auf ihre Fahne geschrieben, was im k. u. k. Reich zu erheblichen Irritationen führte. Koalitionen, aber auch Interessenskonflikte allenthalben: hier die Entente cordiale, das Bündnis Frankreichs mit Großbritannien, dem 1907 das Zarenreich beitrat; dort der Dreibund, angeführt vom aufstrebenden Deutschland, dessen Kaiser Wilhelm II., nachdem er sich Bismarcks entledigt hatte, eine aggressive Außenpolitik betrieb.

Die Alpenfront

In Italien hetzte Benito Mussolini, der zuvor wegen seiner Kriegstreiberei aus der sozialistischen Partei ausgeschlossen worden war, gegen die Neutralität des Landes. Einen Kriegseintritt befürwortete auch der Schriftsteller Gabriele D’Annunzio, später eine der Leitfiguren des italienischen Faschismus. Deutschland mühte sich um eine Übereinkunft mit Italien, doch der dritte im (wackeligen) Bündnis, Österreich-Ungarn, weigerte sich kategorisch, das Trentino und Julisch-Venetien abzutreten. Die Folge: Im April 1915 unterzeichnete der Außenminister in London ein Abkommen, das Italien bei einem Kriegseintritt die Brennergrenze garantierte, und am 23. Mai erklärte Italien der Donaumonarchie den Krieg: Die Alpenfront war Tatsache.

Sie folgte in etwa der Südgrenze des k. u. k. Reiches, die mit jener Tirols identisch war, also auch quer durch die Dolomiten. Krieg im Hochgebirge? Kein sommerliches Kuhgebimmel mehr auf den Almen, dafür wurde schweres Gerät bis auf Grate und Gipfelhöhen geschafft; von den Felswänden hallte bald Geschützdonner wider, Stellungen wurden ausgebaut, Kavernen aus dem Fels gesprengt. Sepp Innerkofler schaute zu, wie seine Drei-Zinnen-Hütte von den Italienern in Brand geschossen wurde, kurz nach Kriegsausbruch. In den Tiroler Tälern hatte sich das »letzte Aufgebot« bereitgemacht, die Heimat in den Sextenern, am Cristallo und an den Tofane, an der Marmolada und ihren südlichen Vorbergen zu verteidigen: die Standschützen, manche noch halbe Kinder und viele alte Männer. Denn die regulären Truppen bluteten an der Ostfront. Hilfe kam vom Verbündeten (der einen Durchmarsch der Italiener bis an Bayerns Grenze fürchtete), und so sicherten Tiroler und Angehörige des Deutschen Alpenkorps im Sommer 1915 gemeinsam die Gebirgsfront.

Das Gebirge ein Jahrhundert später

Auch heute noch ist das böse Erbe überall an der ehemaligen Front sichtbar, begegnet man auf Wanderungen und Bergtouren Relikten jener schrecklichen Zeit. Viele ehemalige Frontwege sind längst rot-weiß markierte Wanderpfade, manche auch Klettersteige, wie beispielsweise der »Sentiero ferrato Dibona«, der »Alpinisteig« oder die »Ferrata Renè De Pol«.

Nebel liegt über dem Talbecken von Cortina, die ersten Lärchen verfärben sich, und der Himmel ist von einem unglaublichen Blau. Unsere Stimmung entspricht in etwa dem Barometerstand. Und hoch hinaus wollen wir auf unserer Tour, bis an die 3000-Meter-Marke: am »Sentiero ferrato Dibona«.

Im Cristallomassiv

Klettersteige gibt’s rund um Cortina d’Ampezzo ja genug, große und kleine, anspruchsvolle und leichte. Dass hier die meisten Touren, ob mit oder ohne Eisen, die reinste Augenweide sind, braucht dabei nicht betont zu werden: Dolomiten pur. Das gilt ganz besonders für einen der längsten und schönsten Höhenwege der Gegend, den »Sentiero ferrato Ivano Dibona«. Die Erhebungen im Nordwestkamm des Cristallomassivs gewinnen allerdings – im Vergleich zu den Cadini, den Tofane oder der Croda da Lago – keinen Schönheitswettbewerb; die Cresta Bianca (2932 m) etwa, die man im Zuge dieser groß-grandiosen Kammroute überschreitet, gleicht eher einem Ameisenhügel als einer ordentlichen »Zinne«. Dafür stehen umso mehr prächtig gebaute Zacken im Panorama, fast die gesamte Gipfelprominenz der östlichen Dolomiten ist vertreten, und im Südwesten blinkt sogar der weiße Firnschild der Marmolada (3343 m) über dem Falzáregopass. Was für eine Schau!

»Das wird ein toller Tag«, sage ich zu Manni, wir steuern gerade die berühmte Hängebrücke an. Sie stammt aus unserer Zeit, im Gegensatz zu den Relikten aus dem Ersten Weltkrieg, denen man hier allenthalben begegnet. 1915 bis 1917 verlief die Dolomitenfront auch quer durch das Cristallomassiv; k. u. k. Truppen hielten die schroffen nördlichen Gipfelgrate besetzt, während die Alpini den lang gestreckten Westgrat des Massivs stark ausbauten und befestigten. So führte eine Seilbahn aus dem Val Padeòn hinauf zur gleichnamigen Scharte, am Grat wurden Stollenlöcher in den Fels getrieben. Zu größeren Frontverschiebungen kam es nicht, trotz heftiger Attacken vor allem der Italiener. »Da drüben«, sage ich und deute nach Norden, wo sich vor der Hohen Gaisl der Foramestock aufbaut, »hatten die Österreicher ihre Stellungen, und auch an der Schönleitenschneid.« Manni nickt, er war schon mal unterwegs auf diesen alten Kriegspfaden. »Schwierig zu finden«, meint er, »vor allem der Abstieg durch das Latschengestrüpp. Und mittlerweile fast total verfallen.« Wen wundert’s, nach bald einem Jahrhundert?

Wir steigen von der Forcella Alta ab, folgen dem gesicherten Steig weiter zum Zurlòn, wo sich das Bataillonskommando der Alpini befand, passieren die ehemalige Artilleriestellung am Col dei Stonbe und wandern in eine herrliche Abendstimmung hinein. Die Rückseite des Pomagagnon liegt bereits im Schatten, dafür entzündet die Sonne an den Felsen der Hohen Gaisl ein Farbspektakel, das uns mehr als einmal innehalten lässt. Krieg in den Dolomiten?

PS: Wir fahren zurück ins Pustertal, wo Manni wohnt. Im Radio wirbt ein Schreihals für Handys zum Nulltarif, dann folgen News: Bombenattentat in Bagdad, Völkermord in Darfur, Kriegsgefahr im Nahen Osten – scheinbar hat die Menschheit nichts dazu gelernt…  
 
Eugen E- Hüsler
 
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