Frühlingstouren | BERGSTEIGER Magazin
Frühlingsträume zwischen Berchtesgaden und Allgäu

Frühlingstouren

Alle Jahre wieder – der große Neubeginn der Natur. Blumenwiesen, blauer Himmel, letzter Firn, Schmetterlinge im Bauch und Hummeln im Hintern – Frühling! Wochen wie keine anderen im Jahr, die Jahreszeit für Dichter und Träumer, Tage zum Draußensein, Tage zum Planen.

Text und Fotos: Andreas Strauß

 
Es ist Frühling am Hochgern! Der Blick vom Gipfelgrat nach Süden mit Wilder Kaiser (rechts), dahinter Hohe Tauern, in Bildmitte die Loferer Steinberge und links die Berchtesgadener AlpenFotos: Andreas Strauß © Andreas Strauß
Es ist Frühling am Hochgern! Der Blick vom Gipfelgrat nach Süden mit Wilder Kaiser (rechts), dahinter Hohe Tauern, in Bildmitte die Loferer Steinberge und links die Berchtesgadener Alpen
Nach einem Wintertag in der Kletterhalle habe ich in den Augen von Sophia die Hürde vom »langweiligen Erwachsenen« zu »vielleicht cool« genommen. Sophia klettert wie ein Weltmeister – je höher, desto spannender, je schwerer, desto besser. Und am liebsten gleich im Vorstieg. Sophia ist neun, ich bin fast 100 – zumindest in den Augen von Sophia.

Während wir auf Suppe und Würstl warten, werde ich auf Herz und Nieren geprüft, auf Sophias minimalistische Art. Die Regeln sind unausgesprochen klar: Sie stellt mir zwei Alternativen und ich muss sagen, was mir lieber ist. »Klettern oder Schwimmen?« »Klettern.« Ein Pluspunkt für mich. »Pizza oder Nudeln?« »Pizza.« Noch ein Punkt. Kurz vor der Suppe kommen wir zu einem kritischen Thema: »Sommer oder Winter?« »Winter.« »Frühling oder Herbst?« »Herbst.« »Was? Magst du keinen Frühling?«, fragt Sophia verständnislos. Meine Antwort war offensichtlich völlig falsch, und Kartoffelsuppe und Wiener retten mich vor der Inquisition. Warum freuen sich die Menschen zum Ende des Winters so aufs Frühjahr? Drei Monate im Jahr wie die anderen eben auch. Nur, weil am 19., 20. oder 21. März Tag und Nacht gleich lang sind, beginnt doch noch lange nicht eine völlig andere Zeit – oder doch?

Ja und nein – ich muss zugeben, dass es schon etwas Besonderes ist, wenn die ersten Schneeglöckchen ihren Weg durch die immer dünner werdende Schneedecke finden, wenn sie zu hunderten in dichten weißen Teppichen im Wind nicken. Wenn sich die dunkelgrünen, glänzenden Stängel und Blätter sanft neigen. Oder die Schneerosen mit ihren großen, weißen Sternen. In den Berchtesgadener Alpen begegnet man ihnen oft schon vor dem Frühlingsbeginn auf Wanderungen, die früh ausapern.

Ein Tag im gelben Voralpenland

Und dann die Löwenzahnwiesen im Voralpenland! Im Hochgebirge liegt noch der Schnee, die schönsten Firntouren locken nach Berchtesgaden, ins Karwendel oder in die Tauern. Am Fuße der Berge und in den Gebirgstälern, da ist vor lauter Löwenzahngelb kein Grün mehr zu sehen. Das Hügelland vor den Ammergauer und Tannheimer Bergen fällt mir ein. Ein Tag im Gelben. Bis zu den Knien hinauf ist meine Hose vom Blütenstaub gesprenkelt, und wenn ich die Augen schließe und mir die Sonne ins Gesicht scheinen lasse, dann sehe ich immer noch eine zweigeteilte Welt: unten gelb, oben blau. Gibt es einen schöneren Blick auf die Ammergauer? Auf den Klammspitzkamm und den Säuling? Da oben liegen noch die Schneereste, das sieht man. Im Geist wandere ich zum Pürschling hinauf, schaue vom Hennenkopf hinunter auf die Moränenhügel. Schlendere so mühelos, wie das nur in Gedanken funktioniert, zur Klammspitze hinüber. Da greifen die langen Arme des Forggensees ins Gelb der Wiesen. Ja, so muss das von oben wirken.

Ob die Blühzeiten der Blumen nach Farben geordnet sind? Im März die weißen, im April und Mai die gelben? In meinem Frühlingstraum jedenfalls geht das Gelb des Löwenzahns direkt ins Hellgelb der Trollblumen über. Trollblumen lieben Gesellschaft, wie es scheint. Sie stehen in riesigen Gruppen zusammen, Kopf an Kopf. Und wenn ein leichter Wind weht, neigen sie sich wie eine Ballettgruppe alle synchron in dieselbe Richtung. Die feuchten Wiesenstreifen auf der Steinbergalm im Westkaiser fallen mir ein – eine faszinierende Blumenwanderung.

Noch schöner war die Blumenpracht nur überm Käfertal in der Glocknergruppe. Dicht an dicht stehen da Pippau und Vergissmeinnicht, Augentrost und Glockenblumen. Zwischen 1200 und 2300 Meter kommt der Frühling erst spät, setzt dann aber mit voller Wucht ein. Alles blüht gleichzeitig, die Frühblüher müssen Zeit aufholen, und die anderen wollen bis zum nächsten Schnee auch ihre Samen ausgebildet haben. Die Westseite des Käfertals hinauf zu den Gletscherzungen von Teufelsmühlkees und Hochgruberkees ist eine der eindrucksvollsten Blumenwanderungen, die ich kenne. Die kleine Schwarzberghütte ist zwar kein Renommierziel, aber was macht das schon. Wunderbar exponiert steht sie auf einem Wiesenabsatz, und wer nach »Höherem strebt«, kann zum Bratschenkopf aufsteigen oder auf die Hohe Dock.

Frühlingsmüdigkeit!?

Angeblich soll es keine wissenschaftliche Erklärung dafür geben. So ein Unsinn! Frühjahrsmüdigkeit entsteht, weil Mädels und Frauen bis spät in die Nacht hinein überlegen, wie sie die aktuellen Modefarben und -trends am besten an sich wirken lassen, und Bergsteigerinnen und Kletterinnen sind da keine Ausnahme. Und die Jungs können nur deshalb nicht schlafen, weil sie sich vorstellen, wie die Mädels ohne die aktuelle Modekleidung aussehen. Dann gibt es noch eine dritte Gruppe, die Wissenschaftler. Sie meinen zu wissen, dass alles nur der höheren Lichtintensität im Frühling zuzuschreiben sei und die Glückshormone Serotonin und Dopamin verantwortlich seien für das »Frühlingsgefühl«.

Auf Schwarzenberghütte und Klammspitzkamm muss man zum kalendarischen Frühlingsbeginn Mitte März noch ein wenig warten. Die niedriger gelegenen Ziele sind zum Ende des Winters allerdings schon möglich. Vielleicht lassen wir das Bergsteigerjahr mit einer Umrundung der Höfats beginnen? Für ihren Blumenreichtum sind die Allgäuer Alpen ja bekannt und wo könnte es schöner sein als unter den wilden Steilflanken von Allgäus Edelweißberg. Am Schochenübergang zum Seealpsee hinabschauen, am Laufbacher Eck in den Bergwiesen sitzen, unter dem markanten Gipfel des Schneck hindurchwandern, dann die Wiesen hinab zur Käseralp. Und immer die steile Höfats vor Augen. Wenn nur der Schnee bald weg ist.
Vielleicht doch erst ein niedrigeres Ziel? Eine Almwanderung. Mordau- und Moosenalm in Berchtesgaden fallen mir ein. Das geht schon früh im Jahr, denn höher als 1500 Meter kommt man bei diesem Klassiker der Almwanderungen nicht. An Watzmann und Hochkalter kann man oft noch skifahren, wenn hier bereits die Blumen blühen. Noch niedriger und trotzdem richtige Felsgipfel sind die beiden Barmsteine im äußersten Osten der Berchtesgadener Alpen. Die zwei Felswächter ragen 400 Meter über dem Salzachtal auf, sind von der Marktschellenberger Seite aber in einem kurzen »Spaziergang« erreichbar. Spaziergang soll jedoch nur die Tourenlänge beschreiben, denn der jeweils leichteste und einzige Weg zu den Zwillingsgipfeln ist ein versicherter Steig.

Ein paar Wochen später sind die Kallbrunnalmen in den westlichen Berchtesgadenern das richtige Ziel. Von 1300 bis 1600 Meter erstreckt sich die Gemeinschaftsalm über dem Saalachtal. Sie ist nach Süden und Westen ausgerichtet mit schönem Blick auf die Leoganger Steinberge. Wenn die Schneelage es schon erlaubt, ist der Hochkranz die logische Weiterführung der Tour. Ein steiler Latschen- und Schrofenkegel, der neben den schroffen Gipfeln der benachbarten Reiteralm ein Nobody ist – allerdings ein Nobody mit großartiger Sicht rundum.

Familienbesuch: Wandern in den Hausbergen

Die ersten Bergtouren im Jahr sind, ebenso wie die letzten, mit Familienbesuchen zu vergleichen. Man denkt nicht lange über das »Warum« nach. Hirschberg und Hochgern sind für mich solche Familienbesuche. Man sieht sie so oft wie Onkel und Tante. Wenn man einen halben Tag oder einen Tag Zeit hat, dann fährt man eben vorbei. Schaut, ob noch alles beim Alten ist. Genießt es, wenn man sich sofort daheim fühlt. Wenn man auf den Stufen hinauf zum Hirschberghaus dort ins Schwitzen kommt, wo man die letzten zehn Jahre schon ins Schwitzen gekommen ist, wenn am Hochgernhaus der Kuchen noch so schmeckt wie beim letzten Mal und vom Gipfel der Chiemsee so schön blau vor einem liegt wie jedes Mal. Auch der Weg zur Rampoldplatte im Mangfallgebirge zählt zu den Familienbesuchen. Gerade bei so alten Bekannten verklärt sich der Blick. Ohne zu wissen warum, man mag sie einfach. Bei anderen Touren ist das Panorama vielleicht weiter, der Weg abwechslungsreicher und der Gipfel viel höher – trotzdem zieht es einen zu den persönlichen Lieblingsbergen, sobald es Frühling wird und die Sonne wärmt. Wenn dann in Bad Feilnbach oder Brannenburg die Apfelbäume blühen, muss man hinauf! Der Frühling ist jedenfalls eine Jahreszeit zum Schauen. Nach dem Weiß in Weiß des Winters wird die Welt farbig. Vielleicht nicht ganz so sehr wie im Herbst, aber jetzt ist die Zeit der Aussichtsberge und Höhenwege. Nach beiden Seiten hinunter- und hinüberschauen ist Seelenbalsam. Wenn man dabei Bekanntes sieht, dann stört das überhaupt nicht. Einen besonderen Stellenwert hat dabei der Wandberg. Nur 1400 Meter hoch, lässt er doch ungehinderte Sicht auf den Kaiser zu. Drüben sind die Nordkare noch firnweiß, die Felsen schon ausgeapert und man kann ohne Hindernis den Wunschklettereien der nächsten Saison entgegenträumen.

»Kersch oda Birn’?«

Daheim fühlt man sich da, wo die anderen die gleiche Sprache sprechen. Darum wurde es mir auch vor dem Stamperl Kirsch schon ganz warm ums Herz, als mich der Nachbar am Gipfel der Benediktenwand in ausgeprägtem Isarwinkler Dialekt vor die Wahl zwischen zwei Schnapssorten stellte. Seitdem gehört auch die Überschreitung vom Brauneck zur Benediktenwand zu meinen erklärten »Wohlfühltouren«, ganz besonders im Frühling.

Draußen dämmert’s bald, von Frühling noch keine Spur. Sophia und ich haben unsere Suppe gegessen, Sophia hat meine »falsche« Antwort wohl vergessen, denn sie fragt, wann wir das nächste Mal zum Klettern in die Halle gehen werden. »Schau’n wir mal,« sage ich vorsichtig. Nein, ich mag mich nicht unbedingt festlegen, denn wenn der Frühling kommt, da muss ich hinaus an die frische Luft…      
Text und Fotos: Andreas Strauß
 
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