Ein rührender Leserbrief | BERGSTEIGER Magazin

Ein rührender Leserbrief

Vor einigen Tagen erreichte uns ein sehr persönlicher Brief eines langjährigen Lesers, der sich auf den Artikel "Auf die sanfte Tour" (S. 36) in unserer Ausgabe 09/2018 bezieht. Da wir den Brief leider nicht in voller Länge abdrucken können, veröffentlichen wir ihn hier – mit einer ausdrücklichen Empfehlung ihn zu lesen.
 
© Redaktion Bergsteiger
Sehr verehrte Mitglieder der Redaktion, liebe Bergfreunde! 

Vor mir liegt die diesjährige September-Nummer des Bergsteiger. Wie immer zeigen auch diesmal die veröffentlichten Abbildungen und Notizen inhaltlich wie hinsichtlich der äußeren Gestaltung in Wort und Bild das große Bemühen Ihrerseits den aufmerksamen Lesern im Zug der Lektüre Freude zu bereiten wie immer es mir geht. So schlägt mein Herz vor Freude, als ich mich noch am Abend nach der Zustellung in die Welt des Wilden wie Zahmen Kaiser versetzt sah, von der ich bereits in den Tagen meiner Jugend nur träumen konnte, die ich an Föhntagen vom Dachgeschoß einer Münchener Gewerbeschule in Pausezeiten als Religionslehrer Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges mit ihren kühnen Spitzen und Graten wahrnehmen durfte um endlich als Pfarrer in Rosenheim an der Seite meiner Frau, die aus einer eingesessenen Lindauer Bergsteigerfamilie stammt, in nicht allzu häufigen Stunden unbekümmerter Freizeit im Kaisertal oder am Stripsenkopf „unterzutauchen“ und wohltuende Entspannung zu finden!

Regelrecht hängen geblieben bin ich freilich an dem Artikel „Auf die sanfte Tour“ von Herrn Michael Pröttel. Damit hat es nämlich eine besondere Bewandtnis, die mich in meinem Erinnerungsvermögen wieder einmal in den Sommer 1950 zurückführte und die ich Ihnen zur Kenntnis geben möchte, auch wenn ihr keine allgemeingültige Bedeutung zukommt, für mich selbst jedoch unvergesslich bleibt.

Ein heißer Frühsommertag – Donnerstag, 15. Juni 1950 – ging allmählich zu Ende. Hinter mir lagen Stunden, die ich im Rahmen einer mir von meiner Bayerischen Landeskirche gewährten zusätzlichen Studienzeit über Geschichtsquellen in Latein und altkirchlichem Griechisch saß; die nachfolgenden Tage haben angesichts des Gedenktages am Wochenende (17. Juni; Opfer des Volksaufstandes) keine Möglichkeit zur Fortsetzung der Studien am Theologischen Seminar der Heidelberger Universität; ich spürte ohnehin die Notwendigkeit des Abschalten Dürfens und das Verlangen zur Ruhe zu kommen. Zudem machte mir das heiße Pflaster der Stadt am Neckar zu schaffen. Es bedurfte nur eines kurzen Entschlusses und einer Fahrkarte zur Benutzung der durch seine Überfüllung bekannten Nachtschnellzüge nach München – gesagt und auf der Stelle getan! Ein ruhiger Tag bei Vater und Mutter ermöglichte ein besonnenes Überlegen: das Demeljoch hatte ich mir schon längst in den Kopf gesetzt. 

Der Frühzug tags darauf brachte mich nach Lenggries, im fahrplanmäßigen Bus erreichte ich das „alte Fall“. Ein ungünstiger Wetterbericht konnte mich von meinem Vorhaben nicht abhalten. Zu groß war die Sehnsucht nach absoluter Ruhe, verbunden jedoch mit dem besonderen Wunsch den mir noch nicht bekannten östlichen Teil des Vorkarwendels zu erkunden. Tatsächlich begegnete mir erst nach meiner Rückkehr in Fall wieder ein Mensch. Am höchsten Punkt des Demeljochs setzte ich mich zu einer längeren Rast nieder. Ein dreimaliger kräftiger Regenguss, den freilich einige intensive Sonnenstrahlen in den Zwischenzeiten in seinen feuchten Nachwirkungen zu lindern sich anschickten, vermochte nicht mich aus jener wunderbaren Ruhe zu bringen, die mich dort oben erfüllt hatten – ebensowenig die Nebelschwaden rings rum, die lediglich für kurze Zeit die Höhen um den Schafreuter freigeben, auf dessen Gipfel ich zwei Jahre zuvor mit meiner Mutter stand; von Fernsicht konnte keine Rede sein. Überall dem stand das Erlebnis mit den Bergen ringsum ganz alleine zu sein, das mir ein unbeschreibliches Glücksgefühl vermittelte wie es mir in meinem ganzen Leben nur noch einmal zuteil wurde; zwei Jahre später bei meinem dreistündigen Gipfelaufenthalt mutterseelenallein auf der Birkkarspitze; an diesem Tag war kein Wölkchen zu sehen, eine schier unermessliche Fernsicht verlieh an diesem Augusttag 1952 dem Verbleib unter dem Kreuz des höchsten Karwendelgipfels noch einen besonderen Glanz!

Zurück zur Höhe des Demeljochs! Nach einer guten Stunde Gipfelaufenthaltes war es an der Zeit den Rückweg nach Fall anzutreten; schließlich war ich auf den Spätnachmittags-Bus nach Lenggries angewiesen, der den Anschluss an die Benutzung des Abendzuges nach München ermöglichte. Davon weiß ich nur, dass bis zur Heimkehr im Elternheim alles planmäßig verlief. Am Nachmittag des Beginns der neuen Arbeitswoche saß ich jedenfalls wieder vor den Bücherregalen des Theologischen Seminars der Heidelberger Universität; entspannt konnte ich mich zwecks Fertigstellung meiner kirchengeschichtlichen Seminararbeit einem intensiven Studium der einschlägigen Fachliteratur widmen. Die Exkursion „Von Heidelberg aufs Demeljoch“ vorgenommen zu haben bräuchte ich niemals bereuen. 

Eine Erkenntnis hab ich jedoch bis in mein doch recht fortgeschrittenes Alter (Geburtsjahrgang 1923) mitgenommen. Solche Erfahrungen wie die der berichteten lassen sich nicht einmal ansatzweise „vorbereiten“, geschweige denn „machen“ im Sinne des „bewerkstelligen“, auch nicht wenn man vorzugsweise alleine unterwegs sein kann (oder muss). Sie bleiben immer unverdiente, aber tief beglückende Gnadengeschenke.

Freilich muss ich nach dem Lesen des Artikels von Herrn Pröttel über die Schönheit des Vorkarwendel auch gestehen; Bei altem Verständnis für die unbedingte Notwendigkeit einer Regulierung der Isar durch einschneidende technische Maßnahmen zur Sicherung der Bevölkerung am Mittel-und Unterlauf des Flusses überkommt mich noch heute eine stille Wehmut über den Verlust einer Landschaft, die ich in ihrer „großartigen Stille“ gemeinsam mit meiner längst verstorbenen Mutter noch auf mehreren Wanderungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit kennen und bewundern durfte.

Mit allen guten Wünschen für Ihre wahrhaft wertvollen Bemühungen verbinde ich herzliche Grüße an Sie alle.

Ihr Carl Luitpold Sturhahn


 
 
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