Nepal steht knapp vor der nächsten humanitären Krise | BERGSTEIGER Magazin
Blockaden sorgen für Chaos

Nepal steht knapp vor der nächsten humanitären Krise

Zur Abwechslung schreibe ich heute mal nicht übers Bergsteigen, sondern über ein Land, das wir mit Bergsteigen verbinden; das Land, das den höchsten Berg der Welt und sieben weitere 8.000er beherbergt; das Land, das vor weniger als sechs Monaten von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht wurde und sich von diesem Rückschlag bei weitem noch nicht erholt hat. Dieses Land heißt Nepal und ist vielen von uns über die Jahre aufgrund seines Charmes, seiner Menschen und seiner unglaublich schönen Landschaft ans Herz gewachsen.
Billi Bierling
  • Billi Bierling
  • Kontributor
  • 1967 in Garmisch-Partenkirchen geboren und aufgewachsen. Seit 2004 lebt sie in Kathmandu, der Hauptstadt Nepals und arbeitet für die mehr >
 
Die Busse stehen still in Nepal © Jo Chaffer
Die Busse stehen still in Nepal

Genau dieses Land steht nun vor einer weiteren humanitären Krise. Der Grund: Die Straßen nach Indien sind bereits seit über vier Wochen blockiert und lebensnotwendige Güter, Treibstoff und Gas finden ihren Weg nicht in das Binnenland. Indische Lastwagen, die gewöhnlich bis zu 4.500 Kiloliter Petroleumprodukte ins Land transportieren wollen sich wegen der Proteste auf der anderen Seite der Grenze nicht auf die Straßen wagen.

Der Grund für die Unruhen im Süden des Landes ist die Verfassung, die am 20. September 2015 verabschiedet wurde und Nepal in sieben Distrikte aufteilt. Die ethnische Gruppe der Madhesis fühlt sich benachteiligt, will ihre eigene Provinz und wehrt sich gegen die Abschaffung des Hinduismus als Staatsreligion. Die drei wichtigsten Parteien in Kathmandu wollen von dieser Forderung nichts wissen, weil sie u.a. Provinzen, die nach ethnischer Zugehörigkeit verteilt sind, ablehnen.

Auf der anderen Seite beschuldigt Nepal Indien eine "inoffizielle Blockade" verhängt zu haben, denn auch Indien war und ist mit Nepals Verfassung nicht ganz einverstanden. Angeblich sollen indische Behörden den Grenzbehörden Anweisungen gegeben haben, ihre Arbeit niederzulegen. Anfang Oktober sah es so aus, als ob sich die Situation entspannen würde und es hieß, dass die indischen Behörden ihre Arbeit wieder aufnehmen würden, jedoch spürt man von dieser Entspannung nichts: Der Verkehr in der nepalesischen Hauptstadt ist auf ein Minimum reduziert, was natürlich zur Freude der radfahrenden Bevölkerung, zu der ich mich zähle, ist.

Andererseits kommen die Menschen nicht in die Arbeit, Schulen sind teilweise geschlossen, Verkehrspolizisten stehen gelangweilt an den sonst so befahrenen Straßen und Restaurants und Hotels haben ihren Service bereits auf das Geringste reduziert. „Keiner weiß, wann die lebensnotwendigen Güter wieder ins Land fließen und deshalb müssen wir rationieren“, meint Hotelmanager Puru.

Für den Tourismus ist diese Situation verheerend. „Nach dem Erdbeben haben wir hart daran gearbeitet, Touristen wieder ins Land zu bringen. Die Trekkingrouten sind weitgehend begehbar und auch die Sehenswürdigkeiten sind teilweise wieder restauriert“, sagt Jo Chaffer, Tourismusexpertin in Nepal. „Jetzt hat die Tourismusbranche eine weitere Ohrfeige erhalten und es wird schwierig werden, die Touristen bei Laune zu halten, wenn sie tagelang in Kathmandu festsitzen.“


Zahlenglück

Letzte Woche verhängte die Stadtverwaltung eine Regelung, unter der an geraden Tagen nur Autos mit einer geraden Zahl, und an ungeraden Tagen, die mit einer ungeraden Zahl fahren durften. „Ich habe Glück, denn mein Käfer hat eine gerade Zahl und das Auto meines Fahrers Suben hat eine Ungerade,“ erzählte mir die Himalaya Chronistin Miss Elizabeth Hawley mit einem schelmischen Lächeln.

Leider haben die meisten Nepalesen nicht so viel Glück wie Elizabeth Hawley. Sie müssen sich in überfüllte Busse quetschen, zu Fuß gehen oder sich auf ein Fahrrad schwingen – was natürlich die sonst so schlechte Luftqualität Kathmandus enorm verbessert hat. Viele besitzen aber kein Rad oder haben einfach keine Erfahrung mit dem Drahtesel. „Mit tut alles weh und ich glaube nicht, dass ich noch einen Meter fahren kann“, meinte Kanchang, ein Angestellter des Yogastudios Pranamaya in Kathmandu.

Aber wo Schatten ist, da ist auch Licht und manche sehen in dieser schwierigen Situation auch die Chance, etwas zu verändern. „Wir müssen einfach autarker und unabhängiger werden“, sagte mein Zahnarzt Neil Pande als ich ihn mit Meterstab und Leiter vor seiner Praxis herumhantieren sah. „Ich will hier Solarpanelen anbringen, denn meinen Generator kann ich bald abschalten und dann geht bei den täglichen Stromsperren von bis zu acht Stunden kein Bohrer mehr.“

Obwohl Nepal reichlich Wasser hat um genügend Energie zu erzeugen, wird aufgrund politischer Instabilitäten nur 1% dieser Ressource genutzt, was das Land noch mehr von den Treibstofflieferung Indiens abhängig macht. Die Situation hat natürlich auch den internationalen Luftverkehr betroffen. Fluggesellschaften, wie China Southern Airlines haben ihre Flüge zum Tribuvhan International Airport suspendiert, da sie dort nicht mehr auftanken können. Andere Fluglinien wie Turkish Airlines oder Air Arabia landen in Delhi oder Lucknow, wo sie den nötigen Treibstoff für den Heimflug bekommen. Dann gibt es Airlines, wie die indische Jet Airways, die zwar ihre Passagiere nach Kathmandu bringen, ihr Gepäck jedoch in Delhi lassen.

„Kein einziges Gepäckstück meiner indischen Trekker ist in Kathmandu angekommen“, meinte Reiseveranstalterin Judy Smith nachdem sie einige Stunden am Flughafen verbracht hatte, um das fehlende Gepäck zu bekommen. „Anscheinend wird hier Gewicht gespart wegen des größeren Treibstofftransports und es ist unglaublich, dass den Passagieren nicht gesagt wurde, dass sie ohne ihr Hab und Gut reisen müssen.“

Für den Tourismus, den das Land gerade jetzt nach dem Erdbeben dringend braucht, ist das natürlich ein weiterer Nagel im Sarg. Wer aber am meisten unter diesen Engpässen leidet, ist die nepalesische Bevölkerung, denn diese Krise ist für viele ein wirtschaftlicher Ruin. „Wenn wir nicht bald Treibstoff bekommen, müssen wir die Eröffnung des Last Resorts verschieben. Wir haben so hart daran gearbeitet, den Schaden des Erdbebens zu beseitigen und unseren Angestellten wieder Arbeit zu geben,“ so Sam Voolstra, Teilinhaberin eines Bungy Jumping Resorts im Osten Nepals.

Dann gibt es natürlich auch Menschen, die von dieser Krise profitieren. Rickshaw Fahrer haben so viel Arbeit wie schon lange nicht mehr und Fahrradläden sind wie leergefegt. „Ich hoffe, dass die Leute auch nach der Krise weiter mit dem Rad fahren,“ sagt ein Inhaber eines leergeräumten Radladens im Zentrum der Stadt. Das Rad ist natürliche eine geniale Lösung für Kathmandu, jedoch beginnt Mitte Oktober das größte nepalesische Festival ‚Dashain’, was in seiner Bedeutung wohl unserem Weihnachtsfest gleichkommt. Zu dieser Zeit besuchen die meisten Stadtbewohner ihre Verwandten auf dem Land, wobei sie auf Busse und Autos angewiesen sind. Wenn diese Krise anhält, wird dieses Jahr vielen Menschen das Dashain Festival mit ihrer Familie verwehrt bleiben, was in den besten Jahren schon tragisch wäre. Einem Volk, das sich physisch und psychisch noch nicht von einer schweren Naturkatastrophe erholt hat, dieses Familienfest zu verweigern ist fast eine Verweigerung des Menschenrechts.

Fotograf Folkert Lenz hat sich ebenfalls in Nepal umgesehen und einige eindrucksvolle Aufnahmen des Landes vor und nach der Katastrophe mitgebracht.

Die Autorin

Billi BierlingBilli Bierling
1967 in Garmisch-Partenkirchen geboren und aufgewachsen. Seit 2004 lebt sie in Kathmandu, der Hauptstadt Nepals und arbeitet für die "Everest-Chronistin" Elizabeth Hawley. Sie stand schon auf dem Gipfel des Mount Everest, sowie des Manaslu und des Makalu. Billi Bierling schreibt für Bergsportmagazine und Medien in aller Welt.

 
Fotos: 
Jo Chaffer
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