Kurvenkarussell - Bergtouren mit Start an Passstraßen | BERGSTEIGER Magazin
Bergwandern an Alpenpässen

Kurvenkarussell - Bergtouren mit Start an Passstraßen

Pässe verbinden Täler und Alpenländer, weil der niedrigste Punkt einer Gebirgskette meist den leichtesten Übergang darstellt. Für Bergsteiger wiederum bedeutet ein Pass einen hoch gelegenen Ausgangspunkt für die Tour.
 
Legendär: die 24 Haarnadelkurven an der Südrampe des Gotthardpasses im Val Tremola, dem »Tal des Zitterns« © Eugen E. Hüsler/ Berthold Steinhilber
Legendär: die 24 Haarnadelkurven an der Südrampe des Gotthardpasses im Val Tremola, dem »Tal des Zitterns«
Tobias, ein Mittvierziger mit Halbglatze, mag Kurven nicht. Straßenkurven. Serpentinen, tornanti, lacets. Allein schon der Gedanke an die legendäre Tremola am Gotthardpass mit ihren 24 Links-Rechts-Wendungen verursacht ihm ein leichtes Unwohlsein. Dann lass es halt bleiben, möchte man ihm zurufen. Zu kurz gedacht, denn sein Hobby ist Bergsteigen, und viele Touren beginnen halt irgendwo am Ende einer Almstraße oder oben auf einem Pass. Und da liegen zwischen ihm und seinem Wanderziel dann ein paar Haarnadelkurven zu viel.

Deshalb steigt er gerne bereits im Tal aufs Mountainbike, was seiner Kondition und dem empfindlichen Magen gleichermaßen gut tut. Denn letzterer rebelliert nur gegen die im fahrenden Auto entstehenden Fliehkräfte. Zu weiblichen Rundungen, das sei hier nicht verschwiegen, hat Tobias ein ausgesprochen entspanntes Verhältnis: Sie gefallen ihm einfach. Oder anders formuliert: Anziehungs- statt Fliehkräfte.

Kurvenfahrten in den Berner Hochalpen

Heute ist Tobias mit seinem Spezl Willy unterwegs. Im Postauto. Am Simplonpass. Der hat nicht viel mehr Kurven als die Champs-Élysées – sehr angenehm! In einer guten halben Stunde befördert sie der Bus hinauf zur weiten Scheitelhöhe; zwei-, dreimal lässt er dabei das Signalhorn erschallen: dü-dä-do.

Das Wetter passt, die Berner Hochalpen werden ihrer Funktion als Bollwerk gegen Zürcher Schmuddelwetter gerecht, und der trockene Fallwind sorgt für glasklare Sicht: Nordföhn. Tobias interessiert an Bergstraßen vor allem ihre Geschichte. Wie beim Simplon. Früheste archäologische Funde sollen aus der Steinzeit stammen, und später nutzten auch die Römer den Pass, der das Oberwallis mit der Poebene verbindet.

Aber erst der geniale Kaspar Jodok Stockalper (1609–1691) erkannte die wirtschaftliche und strategische Bedeutung der Route. Dabei kam ihm zugute, dass als Folge des Dreißigjährigen Krieges in weiten Teilen Europas Anarchie herrschte, so manche Handelsstraße kaum zu nutzen war.

Stockalper ließ den Passweg ausbauen, richtete Hospize und Herbergen ein – und kassierte tüchtig. In seinem Palast, der das Städtchen Brig buchstäblich in den Schatten stellt, herrschte unschweizerischer Luxus; der »König des Simplons« umgab sich mit einem ganz Hofstaat von dienstbaren Geistern. Die Großen Europas überhäuften den gewandten Diplomaten, der fünf Sprachen beherrschte, mit Ehrungen; der Papst verlieh ihm Kette und Schwert der Goldenen Miliz, der Kaiser ernannte ihn zum Ritter des Heiligen Römischen Reichs.

Stockalper mehrte zielstrebig Macht und Vermögen; bereits 1647 hatte er das Salzmonopol inne, er vermittelte Söldner nach Frankreich, ließ bei Gondo nach Gold schürfen und plante sogar einen schiffbaren Kanal im untersten Rhonetal. Mehr als ein Jahrhundert nach Stockalper entstand unter Napoleon eine moderne Fahrstraße über den Simplon, angelegt aus strategischen Gründen. Wie am Gotthard bedeutete auch hier die Eröffnung eines Eisenbahntunnels (1906) das Ende der Postkutschenzeit. Im gleichen Jahr überquerten bereits 444 (!) Automobile den Simplon – Vorboten einer noch ungleich mobileren Zukunft.
Simplon Pass
Ein neun Meter hoher Adler bewacht den Simplonpass

Das Passland Schweiz

Hohe Gipfel, faszinierende Straßenzüge. Die Schweiz ist das klassische Passland, keine Frage. Weder im Westen noch im Osten des Alpenbogens gibt es eine vergleichbare Dichte an Passstraßen, die nicht bloß touristische Bedeutung haben. Ins Engadin kommt man nur über hohe Pässe, und die Zentralschweiz wartet mit der einzigartigen Passfolge Furka – Grimsel – Susten auf: 100 Kilometer und gleich viele Kehren – eine echte Herausforderung!

Eigentlicher Zentralpass der Alpen ist der St. Gotthard, zum nationalen Mythos geworden durch die Réduit-Strategie des Generals Henri Guisan im Zweiten Weltkrieg: die Alpen als Bollwerk gegen die Nazis. Kein anderer Pass ist so stark in des Schweizers Seele verankert. Tobias und Willy genießen den aussichtsreichen, wenig beschwerlichen Gang auf der Südseite des Simplons, staunen über die Vielfalt der Alpenflora, die in voller Blüte steht.

Anderthalb Stunden später sitzen sie im Dorf Simplon bei einem Bier und warten auf das Postauto, das sie über den Pass zurück nach Brig bringen wird. Oben am Simplon steigt eine junge Frau zu – sportliche Figur, Pferdeschwanz, Rucksack. »Darf ich?« fragt sie und setzt sich neben Tobias. Sie war heute am Sirwoltesee, erfährt er – noch so eine tolle Simplonwanderung. Vielleicht könnte man ja… Tobias spürt ein ganz leichtes Kribbeln im Bauch. Mit den Straßenkurven hat das allerdings nichts zu tun. Ganz bestimmt nicht.

> Zehn ausgewählte Pässetouren

BUCHTIPP:

Berthold Steinhilber, Eugen E. Hüsler: Passbilder - Landschaften der Alpenpässe

PassbilderAuf schmalen Saumfaden überquerten Menschen bereits in der Bronzezeit die Alpen. Pilgerwege, Militärstraßen und später Autobahnen ebneten dem Menschen den Weg durch die majestätische Landschaft. In diesem Bildband spürt Berthold Steinhilber der Faszination auf 77, teils wenig bekannten, Alpenpässen nach.

240 S., ca. 200 Abb., 26,8 x 28,9 cm, Hardcover mit Schutzumschlag
Frederking & Thaler Verlag, München, 2015
Preis: 49,99 €
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Eugen E. Hüsler
Fotos: 
Eugen E. Hüsler, Berthold Steinbihler
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 12/2015. Jetzt abonnieren!
 
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