David Lama: Die Linie am Cerro Torre
Der Cerro Torre - einer der größten Erfolge von David Lama (1990-2019)
Am 16. April 2019 wurde die Bergsteiger-Welt erschüttert. Drei der weltbesten Alpinisten - die Tiroler David Lama und Hansjörg Auer sowie der Amerikaner Jess Roskelley - galten nach einem Lawinenabgang im kanadischen Banff-Nationalpark als vermisst, nachdem sie über eine neue Route zum Howse Peak aufsteigen wollten.
Mehrere Tage lang suchten die Einsatzkräfte im kanadischen Banff-Nationalpark nach den drei Ausnahme-Bergsteigern. Doch schon bald folgte die traurige Gewissheit: Die Lawine hatte die Seilschaft beim Abstieg vom Gipfel erfasst und mit in die Tiefe gerissen. Alle drei Bergsteiger kamen dabei ums Leben. Der Schock in der Bergszene saß tief: Sie hatte drei Alpinisten verloren, die aufgrund ihrer Leistungen, aber auch menschlich einzigartig waren.
Wir blicken zurück auf einen von David Lamas größten Erfolgen: Im Januar 2012 gelingt ihm gemeinsam mit Peter Ortner die erste freie Begehung entlang der Kompressor-Route am Cerro Torre - ein alpinistisches Meisterstück. Wenig später veröffentlicht der Bergsteiger eine Reportage, die wir hier wiedergeben.
David Lama und der Cerro Torre
Angefangen hatte alles im Jahr 2008 in Chile im Cocchamó Valley. In einer kleinen Hütte, in der die Kletterer ihr Basislager eingerichtet haben, findet der damals 18-jährige David ein altes, zerlesenes Klettermagazin und darin ein Bild, das ihn nicht mehr loslassen sollte – vier Jahre lang.
»Ich hatte schon öfter Bilder von der Ostwand des Cerro Torre gesehen, aber diesmal schaute ich genau hin – und ich sah eine Linie, logisch und machbar. Sie brannte sich in meinem Gedächtnis fest und ließ mich nicht mehr los.« Eine Linie, die »seine« Linie werden sollte, eine frei kletterbare Linie durch die Ostwand des Cerro Torre in Patagonien, eines der schwierigsten Berge der Welt.
David Lama fährt zum ersten Mal an den Cerro Torre. Finanziert von seinem Hauptsponsor, der einen Dokumentarfilm über den Berg und die freie Besteigung produzieren will, mit einem Tross von Bergführern und Helfern.
Der Berg wird auf der Ostseite mit Fixseilen versehen, die jederzeit einen Rückzug garantieren sollen. Und es werden zusätzliche Bohrhaken in die »Kompressor-Route« geschlagen, um die fixen Seile abzusichern – vorsichtig gesagt, eine ungewöhnliche Herangehensweise, um eine freie Begehung dieses gewaltigen Granitturmes zu dokumentieren.
Kurz und bündig: Das Wetter wird schlecht, es gibt keine Chance auf einen Durchsteigungsversuch, die Gemüter in El Chalten, dem Mekka aller Bergsteiger in Patagonien, erhitzten sich über diesen Stil – und David steht im Kreuzfeuer der Kritik. Heute (2012, Anm. d. Redaktion) sieht er diese Expedition distanziert: »Wir haben damals viele Fehler gemacht. Die massive Kritik war also nicht unangebracht, und ich konnte dadurch extrem viel dazu lernen. Mein Ziel war es, den Cerro Torre frei zu klettern. Dafür brauche ich kein Kamerateam. Und wenn ich eines mitnehme, so müssen auch sie sich an die Spielregeln beim Klettern halten.«
Auftakt in der "Kompressor-Route"
Im nächsten Winter ist er wieder in Patagonien, wieder wird er von einem Filmteam begleitet, die Herangehensweise ist aber eine komplett andere. Zusammen mit seinem Seilpartner Peter Ortner will er einfach nur den Torre besteigen – und zwar über die »Kompressor-Route«, wie schon viele andere Kletterer vor ihm.
Nachdem sie – sozusagen zum Warmmachen – die Aguja Poincenot bestiegen haben und nach einer durchzechten Nacht in El Chalten öffnet sich ein neues, kurzes Schönwetterfenster. In einer 30-Stunden-Nonstop-Aktion klettern David und Peter auf den Gipfel des Torre: »Es war wahnsinnig eindrucksvoll!«
Im letzten Abendlicht erreichten wir den Gipfel, und das Licht war so schön wie nirgendwo sonst auf der Welt.« Während des Aufstiegs hat sich David auch ganz intensiv mit »seiner« Linie beschäftigt, die in einigen Wandpartien von der »Kompressor-Route« abweicht: »Beim Abseilen vom Torre war ich mir ziemlich sicher, dass ich ›meine‹ Linie frei gehen kann.« Allerdings nicht mehr im Winter 2010/11, der ein ganz »normaler« Sommer in Patagonien war: kurze Schönwetterfenster, viel Eis, viel Sturm und lange Schlechtwetterperioden ...
Mit den Linien, die man einmal gesehen hat – auf einem Foto oder in einer Felswand –, ist das so eine Sache! Wenn sie sich einmal eingebrannt haben im Gedächtnis, dann lassen sie ihr »Opfer« nicht mehr los – man wacht auf mit dem Gedanken an die Linie und schläft damit ein.
Warum sollte es David Lama anders ergehen? Zwar konnte er im Sommer 2011 eine Tourenbilanz sondergleichen aus den Ost- und Westalpen mit nach Hause bringen – insgesamt zwölf alpine Touren im oberen IX. und X. Schwierigkeitsgrad –, aber seine Gedanken wanderten beinahe täglich nach Patagonien, zum Cerro Torre, zu »seiner« Linie, von der er nun wusste, dass sie möglich ist.
David Lamas Linie
Als David und Peter am 12. Januar 2012 in El Chalten ankommen, wissen sie, dass sie kaum jemals wieder bessere Bedingungen am Cerro Torre antreffen würden. Seit dem letzten Herbst hatten sie ständig die Wetterentwicklung im südlichen Patagonien verfolgt – es war sehr warm und gab nur wenig Niederschläge, immer wieder streifen Hochdruckgebiete den Torre. Kaum Eis, kaum Wind, trockener Fels – die idealen Bedingungen für David, um »seine« Linie zu versuchen.
Am 19. Januar steigen David und Peter hinauf ins »Nipo Nino«, wo sie biwakieren wollen. Während des Aufstiegs kommen ihnen zwei junge Bergsteiger entgegen – Hayden Kennedy und Jason Kruck –, die tags zuvor den Cerro Torre bestiegen hatten. Zwar meist entlang der »Kompressor-Route«, aber sie benutzten die Bohrhaken von Cesare Maestri nur an den Standplätzen.
Die Absicherung erfolgte großteils mit Normalhaken und mobilen Sicherungsmitteln – die erste »faire«, aber immer noch hakentechnische Besteigung des Cerro Torre über die Südostseite war verwirklicht. Und sie erzählen den beiden Tirolern, dass sie in der Gipfelwand alle Bohrhaken außer den Standplätzen abgeschlagen hätten, denn sie waren der Meinung, dass der Beweis erbracht sei, dass zur Besteigung des Torre keine Bohrhaken notwendig seien.
Rückblickend meint David Lama: »Die beiden sind echt nette Typen, aber was sie da am Torre gemacht haben, find’ ich nicht okay. Die Bolts von Maestri waren 40 Jahre in der Route, und man kann die Geschichte eines Berges nicht dadurch ändern, dass man einfach Haken abschlägt. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen; soll ich nun, weil ich keinen einzigen Bohrhaken auf meiner Freiklettervariante benutzt habe, ihre Bohrhaken auch noch abschlagen? Alle anderen dazu zwingen, so zu klettern wie man selbst, ist anmaßend.«
Während David und Peter weiter zu ihrem Biwakplatz aufsteigen, erhitzen sich die Gemüter der Alpinisten in El Chalten bereits über das, was die beiden Nordamerikaner »angerichtet« haben, und in den Wochen darauf sollten die Blogs im Internet voll sein mit »pro und contra« zu den abgeschlagenen Haken...
Was David und Peter im Augenblick allerdings weniger kümmert. Um drei Uhr in der Früh brechen sie vom Biwakplatz auf und steigen hinauf zum Col de la Paciencia, wo sie noch einmal ausgiebig rasten und einen Teil ihrer Ausrüstung zurücklassen. »Wir hatten eine spezielle Strategie für unsere Besteigung entwickelt, nach oben hin wurde unsere Ausrüstung immer weniger, so dass wir schneller klettern konnten – und unser Zeitplan ging, bis auf wenige Minuten, exakt auf«, erzählt David.
David Lama in der Headwall des Cerro Torre. Foto: Lincoln Else/Red Bull Content Pool
Vier Uhr am Nachmittag – jetzt gilt es! David und Peter müssen die Realiserbarkeit der »gedachten« Linie verifizieren, und zwar mit der freien Variante zum Maestri’schen Bohrhakenquergang. Für David das große Fragezeichen: Geht die »gedachte« Linie oder nicht? Erst entlang eines Risses bis zu zwei Bohrhaken, die Ermanno Salvaterra im Jahr 1999 hier hinterlassen hatte, als er die Umgehung der Bohrhakentraverse von Maestri vollendete, die schon 1969 Engländer versucht hatten. Dann Neuland!
Links der Südostkante versucht es David, stürzt aber ins Seil. Ein, zwei weitere Versuche – kleine, abschüssige Griffleisten und schlechte Tritte in abdrängender Wand, wieder ein Sturz. Schließlich findet er die richtige Sequenz, kann danach einen Friend legen und zum Stand klettern. Ablassen zurück zu Peter, Seil abziehen, ausruhen – auch am Cerro Torre gelten die Regeln des Sportkletterns, dass jede Seillänge frei und sturzfrei geklettert werden muss.
Und es gelingt – im zweiten Versuch kann David die Schlüsselseillänge ohne zu stürzen klettern. Die weiteren Seillängen hinauf zu den Ice Towers bieten keine größeren Schwierigkeiten mehr, und in der Abenddämmerung hacken sich David und Peter einen Biwakplatz aus dem Eis... Die Nacht ist lang, der Schlaf ist kurz – wie bei den meisten Biwaks.
Um sechs Uhr in der Früh kriechen Peter und David aus ihren Schlafsäcken, kochen mit dem letzten Rest Gas aus der Kartusche etwas zum Trinken und klettern durch das Mixed-Gelände der Ice Towers unter die Gipfelwand. Hier haben Jason und Hayden vor einigen Tagen ganze Arbeit geleistet, außer an den Standplätzen sind alle Bohrhaken abgeschlagen. Bergschuhe aus- und Kletterschuhe anziehen, Haken und Klemmkeile am Gurt sortieren – und los geht es.
Fünf Seillängen trennen David und Peter noch vom Gipfel des Torre, und diese haben es noch einmal in sich! Die erste Länge besteht aus brüchigen, hohlen Schuppen und ist nicht sehr schwer – »6c«, schätzt David –, die zweite Länge ist schwieriger und brüchiger und nass dazu, in der dritten Länge wartet ein großer Eisblock darauf, am Stand auf Peter zu stürzen. Nun nochmals Neuland: wiederum hohle, ineinander geschachtelte Granitschuppen, die an der senkrechten Wand kleben und vorsichtig belastet werden wollen. »Unguad«, nennt David die Kletterei – ins Normalkletterer-Deutsch übersetzt »extrem gefährlich«.
Besonders die letzte Länge sei »echt unguad« gewesen, erzählt David – vor allem, weil sich an der schwierigsten Stelle die letzte zuverlässige Sicherung gute 15 Meter unter den Füßen befindet. »Naja, a vierziger Brez’n hätt’s werden können«, so David lapidar. Aber es wird keine – David behält die Nerven, schleicht zwischen hohlen Schuppen im Grad 7b nach oben, macht instinktiv alles richtig und keinen Fehler und vertraut darauf, dass er nicht stürzt...
Gipfelsieg am Cerro Torre
»Ohne meine Erfahrung als Sportkletterer hätte ich am Torre ebenso wenig eine Chance gehabt wie ohne die letzten drei Jahre, in denen ich alpin sehr viel dazugelernt habe«, sagt David heute (2012, Anm. d. Red.). Und er setzt noch einen drauf: »Ich habe viel gelernt am Cerro Torre; jetzt schaue ich hin- auf, sehe die Linie und verbinde damit gewaltige Erlebnisse. Ich erinnere mich daran, was lässig war und was Scheiße.« Er grinst: »Aber um ehrlich zu sein, möchte ich keinen Moment missen. Manchmal kann auch Scheiße lässig sein ...« – wie wahr, David!