Hansjörg Auer: »70 werden sollte das Ziel sein«
Hansjörg Auer free solo in Vinatzer-Messner an der Marmolada Südwand
BERGSTEIGER: Sie haben kürzlich ein Video von einem riskanten Abseilmanöver auf Facebook veröffentlicht. Was haben Sie im Moment des Abseilens gedacht?
HANSJÖRG AUER: Ich war nur damit beschäftigt, eine Lösung zu finden. Später denkt man sich natürlich: »Da war ich ganz schön deppert.« Aber eigentlich ist es ja das, was es spannend macht, denn solche Situationen entstehen nur, wenn man reduziert unterwegs ist oder abseits von Normalwegen. Im Nachhinein ärgere ich mich etwas darüber, dass ich es geteilt habe. Ich hatte nicht mit dieser Resonanz gerechnet. Ich stelle immer nur Dinge online, die ich selbst nicht so oft erlebe. Das war auch so etwas. Ein Fehler eben. Für Außenstehende sieht das sicher sehr alarmierend aus, aber für mich war es das nicht.
Wie oft passieren Ihnen solche Situationen?
Wenn ich allein unterwegs bin, sehr selten. Da sollte das nicht passieren. Wenn man zu zweit unterwegs ist, gibt es immer wieder Situationen, in denen man sich denkt, es gibt keinen Ausweg mehr, und dann gibt es doch einen. Es gibt immer einen.
War es Zufall, dass Sie genau in diesem Moment gefilmt haben, oder haben Sie die Kamera immer laufen?
Dass ich die Kamera bereits am Helm hatte, war Zufall. Normalerweise montiere ich die GoPro nie am Helm, bevor ich in eine Wand einsteige. Weil sie aber schon dran war, habe ich sie dann auch angemacht. Aber es hat auch viele negative Stimmen gegeben, mein Bruder hat mich geschimpft. Berechtigterweise.
Auf wen hören Sie, wenn Sie Kritik ernten?
Kritik von Kollegen wiegt mehr und wenn die Brüder oder Freunde etwas sagen, hört man zu 100 Prozent darauf. Bei Außenstehenden ist es oft schwierig, weil das meist irgendwelche Kommentare im Netz sind. Man hat natürlich viel mit Kritik zu tun, Diskussionen in Foren braucht man eigentlich gar nicht lesen, weil immer wieder die gleichen Sachen kommen. Da finde ich Kritik per Mail viel spannender. Das nehme ich ernst und beantworte ich immer gern.
In Ihrem Buch erzählen Sie davon, dass Sie früher ein Außenseiter waren. Wie war es für Sie, dann so offen zu erzählen, zum Beispiel über Ihre Magersucht?
Das war nicht sehr schwierig, es liegt ja zehn Jahre zurück. Die Idee für das Buch gab es schon lange und es war immer klar: Das Buch muss offen und ehrlich, authentisch sein. Da gehört die Magersucht dazu. Nur Leute, die mich besser kennen, wussten oder ahnten es. Das war ja nichts, worüber ich geredet hätte.
Also haben Ihre Freunde es teils erst aus dem Buch erfahren?
Dass es ein Problem gab, haben sie sicher gemerkt, es aber nicht in dem Ausmaß gewusst. Es war interessant, während des Schreibens für mich selbst herauszufinden, wie es dazu gekommen ist und wie der Weg wieder raus war.
Sind Sie sich selbst auch erst durch das Buch bewusst geworden, wie nah Sie an der Kante waren?
Ja, aber auch, wie viele glückliche Zufälle es gab, ohne die es viel schwieriger gewesen wäre. Magersucht ist im Klettersport verbreiteter als man glaubt. Vielleicht hilft das Buch auch anderen. Oft ist es ja so eine graue Zone: Es wird weder schlechter noch besser. Aber für mich war klar, es braucht Veränderung.
Haben andere Kletterer Sie schon darauf angesprochen?
Generell wurde ich ganz wenig darauf angesprochen, vor allem nicht von Leuten, die mich kennen. Das Buch ist in der Öffentlichkeit ab und zu auf diese Thematik reduziert worden. Es steht ja auch hinten auf dem Cover drauf, was ich eigentlich vermeiden wollte. Ich habe aber kein Problem damit – auch sonst mit nichts im Buch – weil es die Wahrheit ist.
Wem erzählen Sie von Ihren Projekten?
Meinen Geschwistern. Meinen Freunden. Und die Szene hört es halt. Ich habe nie sehr viele verschiede Kletterpartner gehabt. Wenn meine Freunde keine Zeit haben, mache ich eher was anderes, alleine. Seitdem ich davon lebe, habe ich mehr Zeit als andere, daher bin ich jetzt schon mal mit anderen, mit Jüngeren unterwegs. Aber immer aus dem Ötztal. Ich bin keiner, der sich mit Alex Honnold oder so verabredet. Für mich ist das nichts, wenn es sich nicht von selbst ergibt. Ich bin niemand, der zehn verschiedenen Leuten eine SMS schreibt, ob sie nächste Woche Zeit haben.
Foto: Archiv Auer
Wer war der Drahtzieher bei den Projekten mit David Lama?
Ich habe ihn über den Nationaltrainer Heiko Wilhelm, einen meiner besten Freunde, kennengelernt. Mit dem David war ich bei weitem nicht so viel und auf die gleiche Art unterwegs wie mit meinen anderen Seilpartnern, wie mit Much Mayr, Alex Blüml oder wie mit Gerry (Auers Jugendfreund, der bei der gemeinsamen Expedition am Nilgiri Süd verunglückte, Anm. d. Red.). Oder mit meinen Brüdern natürlich. Mit David war es immer mehr ... wie soll ich es sagen? Der Zweck verbindet uns wohl mehr als eine tiefe Freundschaft.
Hat sich das im Laufe der Zeit geändert?
Wenn man jung ist, ist es sehr wichtig, wie schwer, wo und was man klettert. Aber später wird immer wichtiger, mit wem man klettert. Unsere letzte Expedition haben wir nach der Ama Dablam abgebrochen und sind nicht mehr zur Annapurna, weil ich gemerkt habe, dass es nicht so ganz passt. Generell ist der Kreis an Personen, mit denen man alpine, schwierige Sachen in der Höhe machen will, nicht groß. Für mich ist Freundschaft an den hohen Bergen ganz wichtig. Und wenn einen nur der Zweck verbindet, geht es auf Dauer nicht. Mit dem David ist die Zeit am Berg sensationell, er klettert auch in der Höhe wirklich sehr stark. Nichtsdestotrotz ist die Zeit dazwischen von großer Bedeutung, Gemeinsamkeiten abseits des Bergsteigens und Kletterns.
Und das haben Sie an der Ama Dablam gemerkt?
Für große Projekte muss man fit und gesund sein, gleichzeitig muss auch im Team die richtige Stimmung herrschen. David und ich sind vom Charakter her sehr verschieden. Meine Expeditionsvergangenheit ist eine völlig andere. Und da kommt man an Grenzen. Wir haben zwar miteinander funktioniert, aber nur auf einer Ebene, die für mich auf Dauer zu wenig ist. Der Abbruch der Expedition war für ihn schwierig zu verstehen, vielleicht weil ihm dieses Gefühl nicht so viel bedeutet. Und es tut mir auch leid. Aber schlussendlich ist es wichtig, ehrlich zu sich selbst zu sein, auch wenn das mal weh tut. Es war keine einfache Entscheidung, aber eine wichtige Ehrfahrungen für alle Beteiligten. Wir werden irgendwann sicher wieder zusammen unterwegs sein.
Sie haben eine Ihrer Routen »Bruderliebe« genannt. Ist das für Sie das stärkste Band?
Auf alle Fälle. Mit Geschwistern in den Bergen zu sein, ist ein großes Privileg. Ich bin froh, dass ich das erleben kann. Andere kennen und brauchen das nicht, die können die schwierigsten Sachen auf einem 7000er klettern – ohne Freundschaft.
Was ist das Besondere an der Bruderliebe?
Man kennt sich einfach viel besser, kann streiten und versteht sich dann wieder. Und der Erfolg des einen stärkt das ganze Familienkonstrukt. Ich komme aus einer großen Familie und für mich ist Familie auch heute noch zentral. Obwohl wir uns nicht täglich sehen, ist es fein zu wissen: Die Familie ist im Hintergrund.
Ihrer Mutter haben Sie damals erzählt, dass Sie sich auf den Weg in den »Fisch« machen.
Ja, ich habe immer alles erzählt, weil es für mich ganz normal war. Sie hätte mich auch nicht davon abbringen können. Mittlerweile bin ich nicht mehr so offen zu ihr. Ich will die Mama – sie ist über 60 – nicht mehr mit solchen Sachen belasten. Früher habe ich gar nicht an so etwas gedacht. Außenstehende meinen immer, es müsse so ein starker Schlag für sie gewesen sein. Aber das hat sich ja über die Jahre entwickelt.
Foto: Archiv Auer
Was hätten Sie gemacht, wenn dieses Ehepaar Sie nicht im »Fisch« gesehen hätte?
Für mich war der »Fisch« einfach eine logische Konsequenz von dem, was ich davor gemacht hatte. Ich bin davor ja schon viele Solos geklettert. Ich wusste, dass es ein großes Kaliber ist, aber ich hätte nicht gedacht, dass es mein Leben dermaßen verändern würde. Zwar wäre es auch ohne das Ehepaar aufgekommen. Das hätte man nicht geheim halten können, und ich hätte es wohl sowieso erzählt. Aber so war es wie aus dem Drehbuch. Und gottseidank gab es ein Beweisfoto.
Sie sind mit dem Thema Dokumentation konfrontiert.
Ja sicher. Aber wenn man etwas erreicht, das den Alpinismus weiterbringt, hat man auch das Bedürfnis, es festzuhalten. Es gibt natürlich Expeditionen, bei denen die Kamera kaputt ist. Aber wenn du bei jeder Aktion ehrlich bist und auch Sachen erzählst, die nur für die Szene interessant sind, zum Beispiel welches Material du genommen hast, dann stärkt das deine Authentizität. Es gibt ja keinen Grund, nicht ehrlich zu sein.
Heute stehen Sie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sehen Sie sich trotzdem noch manchmal als Außenseiter?
Gute Frage. Ich hadere ständig mit dem Thema, reflektiere viel. Wir sind aus einer bescheidenen Familie und für mich war früher immer klar: Ich will gut klettern können und hohe Berge besteigen, aber ich will nicht davon leben. Letztlich hat es sich anders entwickelt. Ich bin zwar irgendwie reingerutscht, wollte es aber in gewisser Weise auch. Dabei habe ich mich verändert. Für mich als Person war es gut, dass es ein langsamer Prozess war.
Naja, die Bekanntheit kam schon über Nacht.
Ja, aber ich war erst mal immer noch Lehrer und habe nicht von Sponsoren gelebt. Mittlerweile habe ich gelernt, damit umzugehen. Das ist jetzt mein Beruf. Deshalb mache ich auch manche Dinge, die ich früher nicht gemacht hätte, und das beschäftigt mich sehr. Zum Beispiel, wenn ich so ein Video hochlade. Wenn das so die Runde macht, macht es mir ein bisschen Angst.
Haben Sie schon mal konkret daran gedacht, die extremen Sachen sein zu lassen? Nach Gerrys Tod etwa?
Die ersten Wochen waren natürlich schwierig. Aber die Frage stellt sich bald nicht mehr, weil es das ist, was dich antreibt.
Wie stellen Sie sich Ihr Leben mit 50, 60 Jahren vor?
Ich hoffe, dass ich mit 50, 60 nicht unbedingt noch vom Alpinismus leben muss, dass ich dann nicht mehr von Sponsoren abhängig bin und vielleicht auch ruhiger werde. Nicht mehr so extreme Sachen mache. Denn es ist ja immer Risiko dabei. Aufhören geht aber nicht, weil es deine Leidenschaft ist; das, was dich zum Leben motiviert. Allerdings kann man mehr Qualität statt Quantität machen: In einem Jahr vielleicht nicht auf Expedition gehen, um sich auf das nächste Jahr zu konzentrieren.
Foto: Archiv Auer
Sie haben mit Reinhold Messner einen Film gedreht. Ist Messner ein Vorbild für Sie?
Was das Alter betrifft, auf jeden Fall. In seinem Museum in Bozen gibt es eine Tafel mit allen bekannten, großen Kletterern, die 70 geworden sind. Das sollte das Ziel sein, sagt er immer. Es ist mein Leben, mit den Burschen in den Bergen beim Klettern zu sein, aber andere Sachen sind heute genauso wichtig. Ich versuche zumindest, mir das oft zu sagen. Früher war es unmöglich für mich, eine Freundin zu haben, weil mich jede Einschränkung in meiner Freiheit geärgert hat.
Wenn Ihnen Familie so wichtig ist, möchten Sie dann selbst auch eine gründen?
Ja. Ich glaube, dass es im Grunde das Einzige ist, das einen im Alter glücklich macht. Es gibt immer Gründe dagegen. Aber wenn man sich darauf einlässt, ist es im Nachhinein der richtige Moment. Sofern man ein Familienmensch ist.
In Ihrer Familie war der Glaube sehr wichtig. Was haben Sie davon mitgenommen?
Für mich gibt es eine höhere Macht und ich sehe das als Unterstützung. Meiner Mutter hilft das total in manchen Momenten. Warum sollte man nicht glauben, wenn es einen so positiven Einfluss auf das Wohlbefinden hat und in schwierigen Situationen helfen kann? Ich bete immer vor schwierigen Aktionen. Auch wenn es vielleicht mehr Ritual als Glaube ist. Ich bin diesbezüglich auch ganz offen und schäme mich nicht dafür. Wenn meine Schwägerin vor einer Expedition sagt, ich solle aufpassen, weil sie einen Taufpaten für das dritte Kind braucht, muss man das an sich ranlassen.
Haben Sie noch andere Rituale vor schwierigen Touren?
Mit der Mutter müssen wir vorher immer eine Kerze anzünden und sie schaut, dass die nie ausgeht. Das gehört zu den Sachen, die man respektieren muss. Und wenn das über einen gewissen Zeitraum geht, färbt es ab. Auf dem Land entkommst du dem nicht.
Wohin lassen sich heute die Grenzen im Klettern noch verschieben? Immer mehr Risiko?
Es geht vor allem um die Art, wie man Projekten begegnet. Das Solo im »Fisch« hätte man von den Schwierigkeiten her auch schon früher machen können. Aber es hat diesen frechen Zugang gebraucht. Je mehr du überlegst, umso wahrscheinlicher lässt du es sein. Zu Reinhold Messner haben damals alle gesagt: »Ohne Flaschensauerstoff kommst du runter wie ein Depp.« Und er ist trotzdem so auf den Everest gestiegen. Solche Menschen wird es immer wieder geben und gleichzeitig steigen die körperlichen Voraussetzungen und das Niveau. Und wenn das alle heiligen Zeiten in einer Person zusammen kommt, gibt es etwas, was man sich bis dahin nicht vorstellen konnte. Es bleibt also dynamisch.
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