Simon Gietl: "In einem Punkt bin ich asozial" | BERGSTEIGER Magazin
Simon Gietl im Interview

Simon Gietl: "In einem Punkt bin ich asozial"

Er ist so etwas wie der Shootingstar der Südtiroler Bergsteiger- und Kletterszene. Die Meldungen über Erstbegehungen von Simon Gietl in den heimischen Dolomiten und Expeditionen an hohe Berge reißen nicht ab. Im Interview ist seine Leidenschaft beinahe mit Händen zu greifen. Doch der 35-Jährige spricht auch über Zweifel, Ängste und Konflikte.
 
Simon Gietl nach der erfolgreichen Erstbegehung der Route »Can you hear me« (8+/A2) © Storyteller-Labs/ Matteo Mocellini
Simon Gietl nach der erfolgreichen Erstbegehung der Route »Can you hear me« (8+/A2)
Bergsteiger: Herr Gietl, Sie sind mittlerweile Profi-Bergsteiger. Arbeiten Sie eigentlich noch als Bergführer?
SIMON GIETL: In den letzten Jahren hat es schon nachgelassen, weil die eigenen Projekte Priorität haben. Aber ich führe immer noch sehr gerne! Egal welche Touren es sind, es freut mich jemanden dabei zu unterstützen, seinen Traum zu verwirklichen. Wenn du das Strahlen deines Gastes auf dem Gipfel siehst, weißt du, dass du alles richtig gemacht hast.

Und welche Gäste kommen zu Ihnen?
Das ist ganz unterschiedlich. Manche wollen einfach nur mit mir zusammen in meiner Heimat wandern gehen, manche wollen aber auch wirklich schwierig klettern.

Dabei haben Sie selbst erst mit 18 Jahren zu klettern begonnen.
Das war eigentlich purer Zufall. Eines Tages bin ich per Anhalter von Toblach nach Bruneck gefahren. Ein älterer Herr, ein Kletterer, hat mich mitgenommen und mir von der Großen Zinne erzählt: von seinen Erlebnissen und Abenteuern, davon dass man am Berg seinen eigenen Weg gehen kann, dass es dort oben kein Richtig oder Falsch gibt und dass einem niemand nehmen kann, was man dabei über sich selbst lernt. Das alles hat mich so fasziniert, dass ich mir dachte: Damit musst du auch anfangen!

Wie sahen die ersten Versuche aus?
Als ich heimgekommen bin, habe ich die Geschichte meinem Bruder erzählt, der auch sehr abenteuerlustig ist. Zusammen mit unseren Freunden haben wir uns in der Stadtbibliothek das Buch »Sicher im Fels« ausgeliehen und sind einfach losgezogen. Wir waren voll motiviert, aber hatten keine Ahnung. In dieser Zeit hatten wir großes Glück, denn wir haben wirklich jeden Fehler gemacht, den man machen kann. Die erste große Unternehmung – eine Winterbegehung des Sellastock – endete zum Beispiel mit einem zehntägigen Krankenhausaufenthalt.

Zwei Jahre später sind Sie alle Nordwände der Drei Zinnen geklettert – innerhalb von nur 17 Stunden.
Mit dem Bergsteigen entdeckte ich, dass Tischler zwar mein Beruf, aber nicht meine Berufung ist, und ich habe einfach alles ins Bergsteigen investiert. Innerhalb eines Monats bin ich aus dem Fußball-, Lauf- und Mountainbike-Verein ausgetreten und habe meine ganze Freizeit den Bergen gewidmet. Am liebsten wäre ich jeden Tag Klettern gegangen. Die ersten Erfahrungen haben mir viel gegeben: der Kampf mit meiner Höhenangst, das Gefühl über meinen eigenen Schatten springen zu können, die Freiheit. Das hat mich so fasziniert, dass ich mich auch dazu entschieden habe, die Bergführerausbildung zu machen. Die Erfahrungen aus anderen Sportarten haben mir natürlich geholfen. Am wichtigsten war aber der Biss, durchzuhalten. Ich würde nicht sagen, dass ich besonders talentiert bin – ich bin besonders motiviert.



War der Schritt, Profi zu werden die logische Konsequenz?
Es war jedenfalls nie mein Plan. Ich habe nie daran gedacht, mit Sponsoren zusammenzuarbeiten. Das war viel zu weit weg. Irgendwann habe ich mir eine Salewa-Jacke gekauft und festgestellt, dass die Kapuze zu eng für den Helm ist. Der Händler hat mich überredet, direkt bei Salewa anzurufen, die mich wiederum gleich nach Bozen eingeladen haben, wo ich dem Inhaber persönlich, Heiner Oberrauch, das Problem schildern sollte. Am Ende des Gesprächs gab er mir einen Karton mit Ausrüstung mit. Ich war im siebten Himmel! Ein Jahr später wurde ich ins Athleten-Team aufgenommen – ich konnte mein Glück kaum fassen. Nach und nach wurden dann auch andere Sponsoren auf mich aufmerksam.

Sie sind auf dem Höhepunkt Ihrer Leistungsfähigkeit. Denken Sie manchmal daran, was nach der Kletter-Karriere kommt?
So konkret nicht. Der einzige Gedanke ist, dass ich glücklich und zufrieden mit meiner Familie alt werden möchte. So lange ich Freude am Bergsteigen habe, kann ich mir nichts anderes vorstellen.

Mit Aktionen wie der Free-Solo-Begehung der Route »Lacedelli « (7a) in der Südwestwand der Cima Scotoni 2018 kann es aber auch schnell ganz vorbei sein.
Es ist schwierig zu erklären. Manchmal habe ich einfach ein Gefühl, das mir sagt, dass ich auch mal alleine unterwegs sein muss. Das möchte ich nicht missen. Ich bereite mich dann auch entsprechend vor. Trotzdem ist dieser Stil definitiv nicht mein Schwerpunkt, dazu bin ich zu gerne mit Freunden unterwegs. Ein paar Sachen hätte ich allerdings schon noch im Kopf. Aber es kommt, wie es kommt.

Wie gehen Sie mit der unmittelbaren Todesgefahr bei solchen Projekten um?
Im Februar 2019 hatte ich bei einer Lawine beim Eisklettern sehr großes Glück. Da war es so knapp wie noch nie zuvor. Das ist mir wirklich tief unter die Haut gegangen. Anschließend habe ich mich viel mit dem Thema Tod beschäftigt. Seit dieser Erfahrung versuche ich gewisse Dinge, die ich mir vornehme, nicht mehr aufzuschieben. Es ist mir zum Beispiel sehr wichtig, Menschen, die mir viel bedeuten, regelmäßig zu besuchen. Oft denkt man sich: »Dem muss ich mal wieder Danke sagen.« Doch dann verschiebt man es über Monate oder Jahre und irgendwann gibt es die Möglichkeit nicht mehr.

Mittlerweile sind Sie Vater. Hat das etwas verändert?
Relativ wenig. Ich passe jetzt nicht mehr auf mich auf als zuvor, weil es schon immer mein Ziel war, alt zu werden und ich schon immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe. Wenn ich jetzt klettern gehe, darf ich das zu Hause allerdings nicht mehr laut sagen, denn dann wollen meine Kinder mit und es gibt eine halbe Stunde lang Theater.



Ihre Frau klettert nicht. Versteht sie Ihre Leidenschaft?
Meine Frau hat mich in meiner wilden Zeit kennengelernt und hatte es nicht immer leicht mit mir. Aber sie steht voll und ganz hinter mir. Dass sie mich so unterstützt, ist ein großes Glück. Sie ist auch ein wichtiger Gegenpol für mich. Dadurch, dass sie nicht klettert, haben wir ganz andere Gesprächsthemen. Ich wüsste nicht, ob ich es aushalten würde, wenn wir zu Hause auch noch die ganze Zeit übers Klettern sprechen würden. Mir gefällt es auch sehr, etwas mit ihrem Freundeskreis zu unternehmen, weil da jeder eine andere Leidenschaft hat – sei es Musik oder Kunst. So höre und sehe ich einfach mal etwas anderes.

Sie versuchen Ihr Familienleben und den »Beruf« zu trennen. Es gibt zum Beispiel keine Kletterbilder in Ihrem Haus. Warum?
Momentan dreht sich 95 Prozent meines Lebens ums Bergsteigen. Nicht nur im Beruf, auch in meinem Freundeskreis sind lauter Bergführer oder Kletterer. Wenn ich nach Hause komme, bin ich froh, wenn es mal nicht um dieses Thema geht. Außerdem bemerkt mittlerweile vor allem der Große – er ist jetzt sechs Jahre alt –, wie die Leute auf mich reagieren. Vor kurzem hat er zu mir gesagt: »Gell Papa, die Leute lieben dich, weil du so gut kletterst.« Dann versuche ich ihm zu erklären, dass nicht das Klettern das Wichtige ist, sondern wie man die Menschen behandelt. Meine Frau hat mir in dem Punkt die Augen geöffnet und das möchte ich weitergeben: Es geht im Leben nicht darum, wer den kleinsten Griff halten kann. Für mich sind die Berge der richtige Weg, aber ich will meine Kinder nicht in eine Richtung drängen.

Wie war das in Ihrer Kindheit?
Die Schulzeit war für mich eine große Belastung. Dementsprechend schwer habe ich mich getan. Ich habe mich dort als Person nicht verstanden gefühlt. Der Sport – Laufen, Fußball und Mountainbiken – hat mir sehr geholfen. Denn dort war ich nicht immer der Schlechteste. Das hat mich auch dazu motiviert, im Leben danach zu suchen, was das Richtige für mich ist.

Jetzt haben Sie es gefunden. Was geben Ihnen die Berge?
Sicher hat das Bergsteigen selbst einen sehr großen Anteil an meinem Leben. Aber wenn ich zum Beispiel im Biwak liege und zur Ruhe komme, denke ich oft an die Dinge, die mir wirklich wichtig sind. In solchen Momenten denke ich nicht an irgendwelche Touren oder Erfolge, sondern an meine Familie. Das habe ich so erst durchs Bergsteigen erfahren.

Beinahe monatlich liest man Meldungen über neue Erstbegehungen von Ihnen. Machen Sie so viel mehr als Ihre Kollegen oder vermarkten Sie sich besser?
Erstens inspiriert es mich sehr, eigene Spuren zu hinterlassen, und zweitens habe ich das große Privileg, Zeit zu haben. Viele Kletterkollegen arbeiten Vollzeit und haben Familie. Da bleibt ihnen vielleicht ein Tag in der Woche zum Klettern. Ich kann mir das ganz anders einteilen. Und je mehr ich unterwegs bin, desto mehr Linien sehe ich, die mich reizen.



Wie finden Sie diese Linien?
In den Dolomiten könnte ich tagelang mit dem Auto umherfahren und würde immer etwas Neues entdecken. Oft ist auch die Uhrzeit oder die Jahreszeit entscheidend. Die Sonneneinstrahlung zeigt mir manchmal Linien, die ich eine Stunde später nicht mehr sehen würde.

Viele ihrer Routen kann nur eine Handvoll Menschen überhaupt wiederholen.
Wenn ich ehrlich bin, bin ich da relativ asozial und denke nur an mich. Wenn jemand eine Tour von mir wiederholt, freut mich das, weil ich weiß, dass sie nicht geschenkt war, und ich gönne es ihm. Aber deswegen mache ich es nicht.

Sie setzen bei Erstbegehungen auch keine Bohrhaken.
Eine Erstbegehung fängt eigentlich schon zu Hause beim Packen des Materials an. Ich will das Fragezeichen, ob eine Route gelingt oder nicht so groß wie möglich halten. Wenn ich die Bohrmaschine mitnehme, weiß ich, dass ich die Linie schon irgendwie schaffen werde. Wenn ich sie aber zu Hause lasse, bleibt das Fragezeichen solange stehen, bis ich auf dem Gipfel bin.

Eine weitere Erstbegehung in den Dolomiten oder eine Expedition zu einem Traumberg. Wofür würden Sie sich entscheiden?
Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich die Dolomiten wählen. Das ist meine Heimat, da schlägt mein Herz. Ich durfte schon viele schöne Gegenden wie Grönland, Alaska, China, Indien, Pakistan, Peru oder Patagonien entdecken, aber ich würde nie mit den Dolomiten tauschen wollen.
 
Interview: Stefan Moll
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 10/2019. Jetzt abonnieren!
 
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