Früher war Galtür ein ganz normales Dorf: mit ein paar alten Höfen, vielen Hotels und Pensionen rund um die Kirche. Heute kennzeichnen futuristische Steinwälle das Ortsbild. Die nackten Hänge über dem Dorf sind verbarrikadiert mit Gittern gegen die Lawinen. Trotzdem schieben sich hie und da kleine, dreckig braune Rinnen Richtung Tal. Die Frühjahrssonne bringt Bewegung in den Schnee. Erst wenn sie hinter den Gipfeln verschwunden ist und die Hänge mit Einbruch der Dunkelheit wieder erstarren, wird der Wirt der Jamtalhütte seinen Gästen grünes Licht geben. Die Hütte steht ein Stück oberhalb des Talgrunds, dort ist man in Sicherheit vor Lawinen. »Seit 1882 steht sie an dieser Stelle. Wir haben uns nie gefürchtet, nie ist etwas passiert«, sagt Lorenz. Der kleine Mann mit den halblangen grauen Haaren spricht wenig. Zurückhaltend wirkt er, vorsichtig sein Gang, wenn er in der großen, verwinkelten Gaststube nach dem Wohl der Gäste sieht. Nie war etwas passiert. Bis zum 22. Februar 1999. Seit einigen Tagen hatte es ununterbrochen geschneit. Gottlieb Lorenz war mit drei Gästen und einem Handwerker auf der Hütte. Am Morgen war ihm klar: »Heute lasse ich niemanden runter ins Tal.« In der Hütte waren sie in Sicherheit, so dachte er. Gottlieb Lorenz kennt die Hütte, das Jamtal und die Silvrettagipfel, seit er ein kleiner Junge war. Seit vier Generationen sind die Lorenz’ Wirte der Jamtalhütte.
Die Katastrophe von Galtür
Am frühen Abend des 22. Februar trafen zwei Staublawinen auf den Ostteil der Hütte. »Die Gaststuben im Erdgeschoss waren mit Schnee gefüllt. Glasscherben von den Fensterscheiben sind am Boden gelegen. Alles war voller Schnee«, erinnert sich Gottlieb Lorenz. Niemand kam zu Schaden. »Aber wir hatten keinen Kontakt zur Außenwelt mehr.« Weder Funk noch Telefon funktionierte. Und es schneite unaufhaltsam weiter. Erst zwei Tage später schaffte es der Hubschrauber mit Gottfrieds Vater an Bord bis auf die Hütte. Von ihm erfuhr der junge Wirt, dass eine verheerende Lawine seinen Heimatort Galtür verwüstet und 31 Menschen das Leben gekostet hatte – darunter auch seine Mutter und seine schwangere Frau. Die Sterbebilder der beiden haben heute einen prominenten Platz in der Gaststube der Hütte. Ende Dezember 1999, zehn Monate nach der Katastrophe von Galtür, war die Region wieder in den Schlagzeilen; wieder mit einem Lawinenunglück: Nur wenige Meter von der Jamtalhütte entfernt starben neun Teilnehmer einer Tour des DAV Summit Club in einer Staublawine. Gottlieb Lorenz ist dadurch noch wachsamer geworden. Bricht ein Gast trotz eindringlicher Warnung bei Lawinengefahr von der Hütte auf, kann der sonst so ruhige Wirt fuchsteufelswild werden.
Neues Leben nach der Tragödie
Bei der Instandsetzung der Jamtalhütte nach dem Lawinenunglück im Februar 1999 haben die Sektion und der Hüttenwirt vorgesorgt: Die Außenwände und das Dach sind seither mit Stahlbeton verstärkt. Auf der Ostseite, von wo die zerstörerischen Lawinen kamen, wurde das Dach heruntergezogen bis zum Erdgeschoss, Fensterrahmen wurden stabiler gemacht. Gottlieb Lorenz ist nun sicher: »Wenn eine Situation wie damals wieder eintreten sollte, schließt man einfach die Fensterläden. Sollte dann die Lawine wirklich nochmal bis zum Haus kommen, gleitet sie über das Dach hinweg.« Auch sonst herrscht auf der Hütte alles andere als Härte und Entbehrung. Eine warme Dusche ist hier kein Luxus, sondern Selbstverständlichkeit, ebenso wie gutes und reichliches Essen. Zur Halbpension mit Frühstücksbuffet und Drei-Gänge-Menü am Abend gehört nachmittags eine heiße Suppe mit selbstgebackenem Brot dazu. Direkt neben der Hütte steht ein Eisturm. Ein paar Gondeln und ein Sessellift-Sessel baumeln am Seil eines einsamen Stützpfeilers. Daneben duckt sich eine weitere, kleinere Hütte, an deren Eingang ein grünes Kreuz mit Edelweiß prangt: das Zeichen des österreichischen Bergrettungsdienstes. Auf dem Übungsgelände rund um die Hütte trainieren die Bergretter für den Ernstfall. Für alle Hobbybergsteiger hat der DAV Summit Club in der Jamtalhütte ein Ausbildungszentrum eingerichtet. Eins der Hauptthemen ist natürlich: Lawinenkunde.
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