Des Watzmanns vergessene Kinder | BERGSTEIGER Magazin
Stille Touren in den Berchtesgadener Alpen

Des Watzmanns vergessene Kinder

Die Berchtesgadener Alpen haben weit mehr zu bieten als die bekannten Touren auf Watzmann und Untersberg. Teilweise reicht es schon, auf Nebenpfade auszuweichen, um sehr stille und ausgefallene Routen zu finden.

 
Des Watzmanns vergessene Kinder © Mark Zahel
Das Hohe Brett bietet einen Paradeblick auf die Berchtesgadener Alpen.
König Watzmann und Gefolge gehören zu den charismatischsten Landschaften Bayerns. Schon von frühen Reiseschriftstellern wurde das Berchtesgadener Land in schwärmerischen Ergüssen beschrieben. Vom »Yellowstone der deutschen Alpen« war da die Rede oder von der »Schweiz im Kleinen«. Objektiv betrachtet ist das topografische Gefüge absolut bemerkenswert. Acht unverwechselbare Gebirgsstöcke gruppieren sich um den Berchtesgadener Talkessel einschließlich der markanten Königsseefurche (der Hochkönig als neunter steht etwas abseits), und zwar in einer Anordnung, die wie ein effektvoll gestaltetes Bühnenbild der Natur anmutet. Tourenklassiker, die man unbedingt persönlich erleben möchte, gibt es in der Region zuhauf.

Es können Wanderausflüge zu Hütten und lieblichen Almen sein, vor allem aber auch strammere Bergtouren auf die Gipfelprominenz. Wer denkt da nicht an die mitunter allzu frequentierte Watzmann-Überschreitung? Doch erst wenn man die Standardrouten verlässt, kann man die Berchtesgadener Alpen wirklich kennenlernen. So wie bei den acht Touren, die im Folgenden beschrieben sind.

Untersberg

Mittagsloch und Rauher Kopf: Geteiltes Revier

Den Untersberg teilen sich die Salzburger und Berchtesgadener als heimatliches Revier. Das klappt angesichts der chaotischen Weitläufigkeit eines wasserzerfressenen Karststocks ganz gut. Die attraktivere Seite gehört freilich den Bayern, denn sie haben die fotogene kilometerlange Wandflucht auf der Süd- und Ostseite. Nackter Fels erregt halt immer noch die meiste Aufmerksamkeit. Kletterführen gibt es am Untersberg diverse, jüngst ergänzt durch einen rassigen Sportklettersteig, der Anwärter ganz schön auf Trab hält. Daneben gibt es aber auch eine Reihe verschlungener Pfade sowie Finessen, die gewiss nicht jeder Berg zu bieten hat.

Unter Umständen kann man sogar arglose Wanderer erschrecken, wenn man wenige Meter neben ihnen plötzlich aus dem Erdboden gekrochen kommt. Das Mittagsloch ist ein echter Clou – zu erreichen vom Scheibenkaser her über einen ausgesetzten Schrofensteig. Dann tastet man sich mutig in ein glitschiges Höhlenportal und entsteigt dem düsteren Loch mittels einer Leiter. Wer pfiffige Schleichpfade mit gelegentlichen Hindernissen schätzt, kann anschließend gleich noch den Kammausläufer zum Rauhen Kopf überschreiten und damit eine exklusive Untersbergtour perfekt machen.

Latengebirge

Vom Predigtstuhl zum Karspitz: Weg in die Stille

Das Lattengebirge ist eine Art graue Maus unter den Berchtesgadener Massiven. Die Höhe ist bescheiden, das alpinistische Renommee ebenso. Natürlich versäumt niemand, aus gewissen Perspektiven die »Schlafende Hexe « in Augenschein zu nehmen; natürlich birgt das Lattengebirge mit der »Steinernen Agnes« ein sagenumwobenes Geotop und wird rund um die Reichenhaller Predigtstuhlbahn auch stark frequentiert. Eine ausgesprochen faszinierende Tour ist die Längsüberschreitung, auf der man nach einer Weile die offiziellen Routen verlässt und via Törl- und Karschneid zum Pfadsucher wird. Früher war das durchaus ein verzwicktes Unterfangen, doch sind nun in regelmäßigen Abständen Farbkleckse zu sichten. Einerseits schade, andererseits kann man sich so sicher sein, dass man auch wirklich ankommt. Einsam wird die Tour trotzdem bleiben, so dass man gute Aussichten hat, das Rastbankerl am Karspitz unbesetzt anzutreffen.

Reiteralm

Edelweißlahner: Logenplatz über dem Hintersee

Die Reiteralm ist einer der typischen Plateaustöcke, welche die Berchtesgadener Alpen prägen. Oben sanft gewellt, in weiten Bereichen aber auch von unwegsamen Karrenfeldern durchsetzt, an den Rändern hingegen steil und abweisend. Dass die Mühlsturz- und Grundübelhörner alias »Ramsauer Dolomiten« nur etwas für gewiefte Kletterer sind, erkennt man sofort; dass die Schrofenflanken über dem Hintersee sogar für den Normalbergsteiger Durchschlupfe bieten, jedoch nicht unbedingt. Wer den Edelweißlahner über die Traunsteiner Hütter ansteuert, muss sich auf einen langen Hatscher gefasst machen. Es gibt aber auch einen Direktanstieg zum Edelweißlahner. Diese Variante, die sich gleich noch mit dem Eisberg kombinieren lässt, gewährt ungeahnt faszinierende Perspektiven. Abrupte Szenenwechsel, einzigartige Tief blicke zum blauen Auge des Hintersees und ins Ramsauer Tal. Allerdings muss man sich auch auf mentale und physische Herausforderungen im »extremen« Wandergelände gefasst machen.

Hochkaltergruppe

Steinberg: Der Handzahme unter den Wilden

Dem Hochkalter hängt seit jeher der Nimbus des ewigen Zweiten an. Dabei ist der Hochkalter der höchste Gipfel eines ausgedehnten zerklüfteten Massivs, das speziell gegen Süden hin eine brüchig-wilde Einsamkeit fristet. Da sind Bergsteiger alter Schule gefragt! Eine nicht alltägliche, aber auch nicht zu waghalsige Fährte führt auf den Steinberg. Der ist dem imposanten Blaueiskar-Hufeisen nordseitig vorgelagert und gewährt somit neben aller grimmigen Felsenwucht auch einen klasse Blick ins grüne Tal. Unmittelbar bei der Schärtenalm schlägt man einen unscheinbaren, nicht beschilderten Pfad ein, der zur freien Nordabdachung des Steinbergs hinaufleitet. Nennenswerte Kletterhürden sind dort ebenso wenig zu erwarten wie auf der Abstiegsseite zur Blaueishütte. Fazit: ein toller Bergwandergipfel am sonst so anspruchsvollen Hochkalterstock!

Watzmannstock

Kleiner Watzmann: Die Frau im Schatten des Königs

Millionen Bewunderer und Zigtausende Besteiger zählt der Watzmann alljährlich. Die Ostwand, jäh und dräuend über dem Königssee emporschießend, wurde zum Mythos, die Berchtesgadener Nordansicht des siebenköpfigen Gipfelensembles zum klischeehaften Motiv alpiner Erhabenheit. Ehrlich: Wen dieser Berg nicht in seinen Bann zieht, der ist ein (gefühls)armer Mensch. Und hinauf will man natürlich auch, lieber heute als morgen. Deshalb kann es mitunter eine Weile dauern, ehe man in seinem Traumtourentaumel um die legendäre Gratüberschreitung auch dem Kleinen Watzmann gebührende Aufmerksamkeit widmet. Figürlich ist die Watzfrau – wie der Ableger im Volksmund genannt wird – zwar schon auf den ersten Blick sehr ansprechend, aber auch ein wenig unnahbar. Mit den Händen in den Hosentaschen ist ihr selbst auf den leichteren Routen nicht beizukommen.

Dafür braucht ein Massenandrang wie gegenüber am Watzmanngrat kaum befürchtet werden, es sei denn, eine ganze Gebirgsjägerkompanie betätigt sich gerade an einer Kletterübung. Auch die Normalroute über den Kederbichl im Bergauf, mit dem sogenannten »Gendarm « als luftige Schlüsselstelle hat ihre Besonderheiten, doch die Überschreitung hinüber zum Mooslahnerkopf bietet das gewisse Extra!

Göllstock

Hohes Brett: Modeberg auf die andere Tour

Mit seinen teils ausladenden Gratarmen besitzt der Göllstock eine starke Präsenz im Berchtesgadener Land. Der klassische Anstieg vom Purtschellerhaus, der abwechslungsreiche Mannlgrat – beide mit mäßig schwierigen Klettersteigeinlagen – sowie die Überschreitung vom Hohen Göll zum Hohen Brett oder umgekehrt stehen bei ambitionierten Berggängern hoch im Kurs. Ein besonders eindringliches Erlebnis bietet der ostwärts Richtung Salzachtal ausstreichende Kuchler Kamm, der eine Handvoll eigenständige Erhebungen aufwirft und weithin weglos begangen wird –was für ein Abenteuer! Doch zurück auf die Berchtesgadener Seite: Hier ist das eher unspektakuläre Hohe Brett ein beliebtes Wanderziel aus dem Jennergebiet. Wer die Ruhe schätzt, sollte den Anstieg über die Brettgabel wählen. Zumal sie eine der reizvollsten Aussichtskanzeln über dem Talkessel ist.

Hagengebirge

Rothspielscheibe und Fagstein: Vergessene Berge über dem Königssee

Geheimnisumwittert erstreckt sich die Hochfläche des Hagengebirges gegen das Salzachtal – die wohl einsamste Ecke der gesamten Berchtesgadener Alpen. Spuren der Wanderer verlieren sich in dem unübersichtlichen Geflecht aus Kuppen und Mulden. So bleiben die alten Bestrebungen der Jagdherren, das Gebiet frei vom Tourismus zu halten, im Grunde wirksam. Nur der bayerische Anteil des Hagengebirges, mitunter als Gotzenberge bezeichnet, weist eine gewisse Erschließung auf: die Wege der Kleinen Reib’n, zur Gotzenalm und hinüber in die Röth. Das sind feine Wanderungen, bei denen man dem Trubel gut entfliehen kann. Sie lassen sich auch mit etwas Abenteuer würzen, etwa indem man den Fagstein über die vorgelagerte Rothspielscheibe erkundet.

Steinernes Meer

Funtenseetauern: Im Ozean der Erdgeschichte

Steinernes Meer – der Name liest sich wie eine Metapher. Was sich zwischen dem tief eingeschnittenen Königsseetal und dem Salzburger Pinzgau bis in Höhen von über 2600 Meter auf baut, gilt als Musterbeispiel eines ostalpinen Karstgebirges. Die Emotionen hier können sehr unterschiedlich sein. Den einen verängstigt diese weltverlorene Ödnis regelrecht, während sich ein anderer an einer unversehrten Alpennatur in ungeahntem Ausmaß begeistert, auch wenn ihre lieblichen Momente selten sein mögen. In der Funtenseemulde liegt so ein oasengleiches Fleckchen, wo ringsum doch allenthalben die Strenge des bleichen Kalkgesteins regiert.

Wer sich von den offiziellen Übergängen entfernt, braucht viel Erfahrung und einen guten Orientierungssinn. Oft geben dann allenfalls noch Steindauben eine Leitlinie vor – wie etwa beim Anstieg von der Wasseralm zum Funtenseetauern. Das Beschreiten der rauen, vom Zahn der Zeit zernagten Karrenfelder kann beschwerlich und ermüdend sein, manchmal aber auch der reinste Genuss im Geist des freien Bergsteigens. Egal ob ermüdend oder nicht – einen Abstecher ins Kärlingerhaus sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen.
Des Watzmanns vergessene Kinder - Text: Max Rudess, Fotos: Mark Zahel
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 05/2013. Jetzt abonnieren!
 
Mehr zum Thema