Onsight heißt: Eine Route im Vorstieg, in einem Zug und ohne Fremdwissen zu klettern

Onsight klettern

Onsight-Klettern gilt als Königsdisziplin der Sportkletterei. Erfolgreich onsight unterwegs ist aber nur, wer sich taktisch klug verhält. Wie das geht und was das mit dem Lesen zu tun hat, zeigt Michael Hoffmann.
 
Bei Taktiklehrgängen und Trainerausbildungen stelle ich den Teilnehmern regelmäßig die Frage, welche Taktik sie anwenden, wenn sie einen Onsight-Versuch in einer unbekannten Route machen. Die häufige Antwort: »Na ja, ich klettere jetzt mal so weit, wie ich komme, und dann sehen wir schon.« Um ehrlich zu sein: Hin und wieder bin ich auch mit dieser Einstellung unterwegs. Einfach klettern, ohne sich viele Gedanken zu machen. Es gibt auch gar nichts Verwerfliches an dieser Haltung, keinerlei ethische Bedenken. Und überhaupt darf zum Glück immer noch jeder so klettern, wie es ihm gefällt. 

Nur – man schöpft seine Möglichkeiten nicht aus, wenn man irgendwie in eine Route einsteigt, irgendwann feststellt, dass es anstrengend wird, sich dann erst konzentriert, anfängt zu kämpfen, erbittert kämpft und schließlich beim vorletzten Haken rausfliegt. Der Effekt: Onsight-Versuch beim Teufel, dicke Arme, null Erinnerung an die Züge. Wer bei einem Onsight-Versuch das Optimum herausholen möchte, sollte anders vorgehen. Sollte einen Plan haben und diesen umsetzen. Sollte taktisch vorgehen. Aber wie geht das?

Voraussetzungen

Zunächst muss man sich für den richtigen Schwierigkeitsgrad entscheiden. Zwei Grade unter dem Limit ist zu leicht, denn dort lässt sich auch ohne Taktik souverän klettern (meistens jedenfalls; ich habe mich aber auch schon in vermeintlich leichten Routen recht dämlich angestellt). Zu hart ist dagegen ein Onsight-Versuch direkt am absoluten Rotpunktlimit nach Ausbouldersessions. Den Versuch kann man sich sparen, das Ergebnis ist absehbar (Ausnahme: Jemand trainiert für Wettkämpfe und will an seinen Onsight-Fähigkeiten arbeiten; dann lohnt es sich immer, Routen onsight zu probieren). Nächster Punkt: Motiviert mich die Route? Gefällt mir die Linie? Nur in Routen, die ich als lohnendes Ziel ansehe, werde ich kämpfen und meine Onsight-Fähigkeiten wirklich ausspielen. 

Vom Boden aus

Wenn die richtige Route gefunden ist, beginnt das eigentliche taktische Vorgehen. Und viel davon findet statt, bevor man überhaupt einsteigt – am Boden. Das Wichtigste: die Sicherungssituation einschätzen – brauche ich eigenes Material oder hängen alle Exen? Wo steht der Sicherungspartner auf den ersten Metern (rechts oder links)? Gibt es Stellen, an denen ich nicht stürzen darf? Wo erscheinen besondere Sicherungsmaßnahmen (z. B. extra Schlappseil, damit man sich nicht den Kopf an einer Dachkante anschlägt) sinnvoll? 

Erst wenn diese »lebenswichtigen« Fragen geklärt sind, geht es ans »Lesen« der Route. Bei Kunstwandrouten ist das relativ einfach, doch auch am Fels kann man oftmals viel vom Boden aus sehen. »Lesen« einer Route heißt, die folgenden Fragen so gut wie möglich zu beantworten: Wie geht die Abfolge der Züge? Wo sind Griffe oder Tritte, die man während des Kletterns voraussichtlich nicht mehr sieht und die man deshalb besonders gut abspeichern sollte? Gibt es uneindeutige Stellen, die mehrere Optionen zulassen? Wo sind No-Hand-Rests oder Schüttelpunkte? Wo sind die besten Clippositionen? Wo vermute ich die Schlüsselstelle(n)? Wie plane ich mein Tempo? 

Die Erfahrung zeigt: Allein schon diese theoretische Auseinandersetzung mit einer Route verändert die Einstellung während des Kletterns gravierend. Der Wille, oben anzukommen und den Umlenker zu clippen, ist ungleich höher als bei der Na-ja-mal-Schauen-(Anti-)Taktik.  Rituale Hat man eine Route wie beschrieben analysiert, wichtige Aspekte gespeichert und Sequenzen mental visualisiert, dann geht es an die Vorbereitung des Durchstiegs. Viele Kletterer setzen hier – übrigens unabhängig davon, ob sie einen Onsight-Versuch unternehmen oder nicht – auf feste Rituale. Das kann bedachtes Schuhbinden ebenso sein wie eine ausführliche Schuhsohlenreinigung oder Schattenklettern unmittelbar vor dem Lossteigen. Es kann auch eine Abfolge mehrerer Dinge sein – egal. Der Effekt ist immer derselbe: Konzentration aufs Kommende.

Los geht’s! 

Während des Kletterns lautet die Hauptaufgabe dann, schnell zu entscheiden, wann der bestehende Plan umgesetzt werden kann bzw. wo er modifiziert werden muss. Ich kenne es gut, wenn man unflexibel an einer Idee klebt und dann letztlich deswegen runterfällt. Ich kenne aber auch die Situation, wenn man vom Plan abweicht (»weil’s so gerade besser läuft«) und dann mit der falschen Hand an einem zwingenden Griff landet. Wie auch immer: Den einmal am Boden gefassten Plan sollte man in jedem Fall im Kopf haben. Dann passiert es einem nicht, dass man z. B. einen Ruhepunkt ungenutzt überklettert. 

Nur Mut!

Taktisch kluges Onsight-Klettern ist ausgesprochen effektiv, aber es ist keine einfache Sache.Nicht nur das Festlegen eines Plans und die situationsangemessene Umsetzung sind kompliziert. Darüber hinaus setzt das Entwerfen einer Taktik viel Klettererfahrung voraus. Ohne Erfahrung kann man nämlich weder Fels noch Plastik »lesen«, weil man schlicht und einfach keine Bewegungsabläufe kennt und Griffe und Tritte aus der Ferne nicht beurteilen kann. Davon sollte man sich aber nicht entmutigen lassen, denn umgekehrt gilt: Taktisches Klettern ist immer besser als Klettern ohne Taktik. Denn selbst bei einem taktisch gekletterten, aber grandios gescheiterten Versuch lernt man etwas über sich und über seine Taktik dazu. Das lohnt sich immer.
Text: Michael Hofmann, Foto: Marco Kost
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