Sturztraining gibt dem Stürzenden wie dem Sicherenden Vertrauen

Sturztraining

Nein, fliegen wie ein Vogel könnt Ihr hier nicht lernen – aber schwerer klettern, ohne die lähmende Angst vor dem Sturz ins Leere! Sturztraining ist ein wichtiger Schritt,um schwierigere Routen on sight klettern zu können. Von Andreas Kubin
 
Du willst möglichst schwer klettern? Du willst an deiner Könnensgrenze klettern? Dann musst du die Angst vor dem Stürzen überwinden. Das ist zugegebenermaßen nicht ganz einfach, denn die Angst vor dem Fallen ist eine der Ur-Ängste des Menschen. Aber mit gezieltem Training kannst du so weit kommen, dass ein möglicher Sturz dir keine Angst mehr macht, sondern dass das Stürzen – sofern man es korrekt macht – zum Kletter-Alltag gehört. In der Kletterhalle findet man die idealen Voraussetzungen, um Schritt für Schritt die Angst davor, ins Leere zu fallen, zu überwinden. Im Folgenden wollen wir aufzeigen, was beim Sturztraining zu beachten ist und wie es systematisch aufgebaut werden kann. 

Mag das Seil noch so viele Normstürze aushalten, mögen die Haltekräfte der Karabiner und Expressschlingen noch so groß sein – wenn der Kletterer Fehler macht, dann wird Sturztraining gefährlich! Auch wenn du das Gefühl hast, in der Halle sei alles sicher (was es ja in der Tat ist), so musst du dir bewusst sein, dass du als Kletterer/Sichernder ein Unsicherheitsfaktor bist. Also – beim Sturztraining (wie übrigens in allen anderen Situationen beim Klettern auch) muss man sich immer darüber im klaren sein, dass man sich in einem (wenn auch in der Halle sehr kleinen) Gefahrenraum bewegt. Durch ein zielorientiertes Sturztraining soll die lähmende Angst vor dem Fallen überwunden werden, denn nur so kannst du an (und manchmal sogar über) deiner persönlichen Leistungsgrenze klettern.

Man darf sich aber nie darüber hinwegtäuschen, dass das Klettern grundsätzlich eine Risiko-Sportart bleibt – in der Halle zwar weniger als am natürlichen Fels, aber die Tatsache, dass in der Halle alles nach Sicherheits-Standards genormt ist, darf uns nicht unvorsichtig werden lassen. Deshalb gilt auch (und ganz besonders) für das Sturztraining: Es bleibt stets ein Rest-Risiko, mit dem wir bewusst umgehen müssen…

Sturztraining Step One

Der erste Schritt beim Sturztraining heißt: »Vertrauen ins Seil und in die Sicherungskette (= Haken, Karabiner, Sicherungspartner) bekommen.« Und gleichzeitig die Ur-Angst abbauen, die jeder Mensch vor dem Fallen hat. Dazu steigt der Kletterer im Toprope eine leicht überhängende Route bis zur Umlenkung und hält sich am Ausstiegsgriff fest. Die Umlenkung darf nicht überklettert werden, muss redundant sein und das Seil mit verschlussgesicherten Karabinern halten. Der Sichernde gibt nun eine gewisse Menge Seil aus (am Anfang einen Meter, später eventuell mehr) und der Kletterer lässt auf Kommando los. Glaubt mir, das ist für die Zuschauer weitaus lustiger als für den armen Menschen oben in der Wand, der zum ersten Mal loslassen soll … 

Nach einigen Stürzen kann man die Fallhöhe vorsichtig steigern, wobei der Sichernde wie auch der Kletterer feststellen werden: Je größer die ausgegebene Seilmenge, desto weicher ist der Sturz – was wiederum für die weiteren Schritte von großer Bedeutung sein wird. Bei Sichernden, die zum ersten Mal einen Sturz halten sollen, sollte »hintersichert« werden, d. h. ein dritter Kletterer hält das Sicherungsseil hinter dem Sicherer mit fest. Alternativ verhindert auch ein kurz hinter der Bremshand geknoteter Sackstich den unkontrollierten Seildurchlauf.

Sturztraining Step two

Jetzt wird’s ernst – zumindest ein bisschen, denn jetzt wird »echt« gestürzt. Voraussetzung für ein sinnvolles Sturztraining ist eine überhängende Wand, um die Verletzungsgefahr durch Aufprall an die Wand oder Hängenbleiben an einem Griffelement zu minimieren. Der Kletterer steigt im Vorstieg bis zur vorletzten Expressschlinge einer mindestens zehn Meter hohen Wand, hängt diese ein und macht ein oder zwei weitere Kletterzüge. Dann lässt er los und stürzt. Wichtig! Beim Loslassen nicht von der Wand wegspringen, sondern sich einfach fallen lassen; durch das Wegspringen entsteht eine Pendelbewegung des Stürzenden, und die Wucht des Anpralls an die Wand steigt. Beim Sichern des Vorsteigers kommt dem Sicherungspartner eine aktive Aufgabe zu – er muss versuchen, den Sturz möglichst weich zu gestalten. Dazu springt er in dem Augenblick, in welchem die Sturzbelastung auf ihn einwirkt, leicht vom Boden weg; dadurch vernichtet er aktiv Sturzenergie. Beim Sturztraining in der Halle wird deshalb die erste Zwischensicherung ausgehängt, damit der Sichernde sich beim Hochgerissen-Werden daran nicht verletzen kann. Beim Sturztraining sollten zudem immer zwei etwa gleichgewichtige Partner miteinander arbeiten; ist der Sichernde deutlich leichter als der Stürzende, so entfällt das Hochspringen, denn er wird automatisch mehr oder weniger weit hochgerissen.

Wichtig! Sturztraining erfolgt möglichst weit oben in der Wand (mindestens sechs Zwischensicherungen überklettern!) und idealerweise in einer möglichst überhängenden Zone.  Nach einigen Sturzeinheiten wird man feststellen, dass die anfängliche Ur-Angst vor dem Fallen geringer wird und nur eine gewisse Beklemmung vor dem Loslassen übrig geblieben ist. Je nach Höhe der Kletterhalle steht es dem Kletterer nun frei, die Sturzhöhe zu vergrößern. Idealerweise klettert man dazu eine weit überhängende Route bis zur Umlenkung und springt dann in die letzte Zwischensicherung; auch hier empfiehlt es sich, die erste Zwischensicherung nicht einzuhängen (Verletzungsgefahr für den Sichernden). 

Im Augenblick des Sturzes nimmt der Kletterer eine gebückte Hockhaltung ein, die Hände werden vor dem Körper gehalten, um einen eventuell auftretenden Aufprall an die Wand abfedern zu können. Ganz wichtig: Das Seil darf auf keinen Fall hinter dem Fuß oder dem Schenkel laufen, sonst erfolgt der Sturz kopfüber – und dabei besteht erhebliche Verletzungsgefahr!  Grundsätzlich gilt: Je größer die Sturzhöhe wird, desto größer ist auch die potentielle Gefahr. Deshalb: Stürzen beinhaltet immer ein gewisses Restrisiko, das nur durch einen bewussten Umgang damit minimiert werden kann.

Sturztraining Step three

In der Kletterpraxis stürzt man normalerweise nicht auf Kommando, sondern dann, wenn man sich verklettert hat oder wenn einem die Kraft ausgeht. Bei unangekündigten Stürzen ist der Sichernde gefordert. Er muss seine Sicherungstechnik so weit perfektioniert haben, dass er beim Halten des Sturzes automatisch die richtigen Reaktionen zeigt (weich sichern = nach oben springen, eventuell kontrolliert zusätzlich Bremsseil ausgeben). Auch hier gilt, wie übrigens in allen Bereichen des Kletterns: »Übung macht den Meister!«  Und jetzt geht’s erst richtig los! Also ab nach draußen an die »richtigen« Felsen, wo allerdings die Hakenabstände größer und die Routen länger sind. Die meisten Sportkletterrouten am natürlichen Fels sind so eingerichtet, dass ein Bodensturz unmöglich ist – falls weder Sichernder noch Kletterer gravierende Fehler machen. Nur dann, wenn sich der Kletterer blind auf seinen Sicherungspartner verlassen kann, ist er in der Lage, die maximale Leistung abzurufen, denn das Haupt-Hindernis, die Angst vor einem Sturz und dessen Folgen, ist nun ausgeschaltet – auf geht’s in die Meisterklasse, zum On-Sight-Klettern! 

Download: Sturztraining
 
Text: Andreas Kubin, Fotos: Thomas Ullrich, Andreas Enkens
 
Mehr zum Thema