Der Randkluftanstieg: Klassiker im Dachstein

Zu verdanken ist diese Vielfalt den Gletschern der letzten Eiszeit, die an der Südseite des Dachsteins drei Etagen hinterlassen haben, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der ersten Etage in einer Höhe von 1100 bis 1300 Metern liegen verstreut alte Bauernhöfe und moderne Hotels im mäßig geneigten Wiesengelände. Hier ein Bauerngarten, da eine Ahornallee. Pferdewiehern, Kinderlachen und das Klackklack, wenn uns eine Gruppe Nordic Walker passiert. Das Hochtal der Ramsau wird in den nächsten Tagen unsere Ausgangsbasis zur Felsen-Etage und ins vereiste Dach sein, es ist unser Souterrain und unsere abendliche Sonnenterrasse. An den »Keller« verschwenden wir keinen Gedanken: Das Ennstal liegt 400 Meter tiefer und ist von der Ramsau aus weder zu hören noch zu sehen. Vom Rest der Welt reden wir erst gar nicht. Den Ramsauern selbst scheint es ähnlich zu gehen. Dass es eine Welt unterhalb der 1000-Meter-Marke gibt, vergisst man leicht bei so viel Sonne und Nähe zum Himmel. Kein Wunder daher, dass es vergleichsweise lange dauerte, bis der Ort sich dem Tourismus öffnete – es gab einfach keine Verkehrsanbindung.
Noch in den 1920er-Jahren war das Sträßchen aus Schladming herauf einspurig und nur von neun bis zehn Uhr morgens für die Bergfahrt freigegeben. Und selbst dann hatte der Fahrer die Auflage, bei entgegenkommenden Fuhrwerken den Motor abzustellen, um die Pferde nicht zu verschrecken. Heute ist das ein wenig anders. Die Straße in die Ramsau ist gut ausgebaut. Eines ist aber gleich geblieben: Ist man erst einmal heroben in dem kleinen Paradies, dann will man nicht mehr weg.
Zur Dachstein-Südwandhütte hinauf und ein Stück weiter auf dem Höhenweg fühlen wir uns wie von einer Schaf- oder Ziegenherde begleitet. Leises Bimmeln und Klimpern hinter uns. Keine Glöckchen sind es jedoch, sondern die Karabiner der Klettersteiggeher. Vor zwölf Jahren wurde die Dachstein-Südwand durch den Johann-Klettersteig hinauf zur Seethalerhütte erschlossen, es folgte die Erweiterung »Anna«. Beide zählen sie zu den schwierigen Ferrate (D–E). In den nächsten Tagen wollen auch wir auf diesem Weg hinauf ins Dachgeschoss. Wenn wir noch den Schulteranstieg auf den Dachsteingipfel anschließen, haben wir drei der insgesamt 19 Klettersteige der Ramsau am Dachstein begangen.
Ganz so mühelos, wie es uns Geyers Dachsteinführer versprochen hat, wird der Weg nicht. Aber wir verzeihen ihm gern. Wunderbar ist der Blick hinauf zum Dachstein, auf Schladminger und Hohe Tauern sowie die Berchtesgadener Alpen. Über Windlegerkar und Sulzenhals wandern wir zum Rinderfeld, einer einzigartigen Hochfläche mit Lärchen, kleinen Bächen und Felsblöcken. Da erst verlassen wir den »Bibelsteig«, der nun über den Steiglpass weiter in die Gosau ginge. Zu Zeiten der Gegenreformation hatten die lutherischen Ramsauer Bibeln und andere Schriften von der Nordseite des Dachsteins geschmuggelt und dazu diesen Pfad übers Gebirge genutzt.
Am Abend schwärmen wir der Urlauberfamilie in unserer Pension von Austriahütte und Südwandhütte vor. Von Dachsteinblick und zahmen Murmeltieren an der Bachl-alm. Von Blumenwiesen und knorrigen Bäumen am Rinderfeld. Nele und Daniel aber haben mit ihren Eltern morgen schon andere Pläne. »Kali – Kala – Kalalala« heißt ihr Programm. Je nach Alter und Musikgeschmack singen sie es auf die Pipi-Langstrumpf-Melodie oder als Rap.
Kali und Kala sind zwei Kinderklettersteige am Sattelberg, am östlichen Rand der Ramsau. Dort lebt auch der »Ram-saurier«. Den beschreiben uns die beiden sofort. Und ereifern sich in einem Fachstreit über Dinosaurier und Ramsaurier …
Auch die anderen Ferientage haben Nele und Daniel verplant. Schwimmbad, Ponyreiten (Neles Wunsch), Hochseilgarten, die Simpsons, die Sommerrodelbahn und die Mühle anschauen (Daniels Wunsch). Wenn nicht gerade der Nachtisch käme, würden uns die Geschwister noch mehr aufzählen: Langeweile Fehlanzeige!
Bis fast auf dreitausend Meter reicht das Dachgeschoß hinauf. Der Hohe Dachstein ist mit seinen 2995 Metern nach der Parseierspitze der zweithöchste Gipfel der Nördlichen Kalkalpen, aber unvergleichlich einfacher zu erreichen. Gemeinsam mit Ausflüglern, die den Ausblick von der Bergstation genießen wollen, Langläufern in Rennanzügen, Kletterern, Klettersteiggehern und einer Bergsteigergruppe mit Riesenrucksäcken schweben auch wir am nächsten Morgen mit der Dachstein-Gletscherbahn zum Hunerkogel hinauf. Erstes Tagesziel: der Dachstein. Auf einer einfachen Pistenraupentrasse queren wir am oberen Rand des Hallstätter Gletschers. Unter uns ziehen Langläufer ihre Runden auf der Gletscherloipe. Im »Eispalast« im Gletscherinneren empfangen die Simpsons und andere Eisfiguren die Besucher. Die meisten Gäste aber machen sich auf den Weg Richtung Seethalerhütte. Für viele ist es das erste Mal auf einem Gletscher. Entsprechend viel »huch« und »hach« ist da zu hören.
Die Seethalerhütte ist schon deshalb ein Muss, weil man von hier einen wunderbaren Tiefblick in die Dachstein-Südwand hat. Zwischen angenehm schaurigem Grusel und begeisterter Routeninspektion liegt die Gefühlswelt der Betrachter.
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