Hochtouren-Klassiker im Mont-Blanc-Massic

50 Jahre Frêneypfeiler

Manche nennen ihn den schönsten Aufstieg zum höchsten Alpengipfel. Der Frêneypfeiler gehört zu den absoluten Extrem-Klassikern – nicht nur im Mont-Blanc-Gebiet! Vor 50 Jahren wurde er erstmals durchstiegen – nach einem der grausamsten Unglücke in der Alpingeschichte. Von Uli Auffermann

 
50 Jahre Frêneypfeiler © BERGSTEIGER
Die Frêneyseite des Mont Blanc, die drei Pfeiler liegen im Schatten
Der Frêneypfeiler am Mont Blanc – mit ihm ist ganz großer internationaler Alpinismus verbunden. Aber im Gegensatz zur Eiger-Nordwand hat es die rund 800 Meter hohe Granitsäule am höchsten Berg der Alpen nicht in die Köpfe einer breiten Allgemeinheit geschafft. Unter den extremen Bergsteigern aber nimmt die Begehung einen ganz besonderen Platz ein. Es ist die Schönheit, die Logik der Route, die direkt hinaufzieht zur weißen Gipfelkuppe des »Monarchen«. Vor allem aber sind es die technischen Schwierigkeiten und die grandiose Kletterei, die den Pfeiler nach ganz oben auf die Wunschliste all derer setzt, die richtig gut klettern können, gleichzeitig aber auch über große Routine an den hohen Bergen der Westalpen verfügen. Denn die Höhe weit über der 4000-Meter-Marke, in der hart zu Werke gegangen werden muss, macht sich auch beim konditionsstärksten Alpinisten deutlich bemerkbar. Überdies stellt der komplizierte und lange Zustieg zum Pfeiler hohe Anforderungen an die Erfahrung im vergletscherten Hochgebirge. Die Geschichte der Erstbegehung des Frêneypfeilers lebt von großen Namen, von Freundschaft und Kameradschaft, von Euphorie und Überlebenswillen – vor allem aber von Abschied und Verlust!

Die Tragödie am Frêneypfeiler nimmt ihren Lauf…

Bis Anfang der 1960er Jahre spielte der Frêneypfeiler in den Köpfen der meisten Bergsteiger keine große Rolle. Walkerpfeiler und Eiger-Nordwand hießen die Top-Ziele für die extremen Alpinisten. Das sollte sich im Sommer 1961 jedoch schlagartig ändern. Denn die kühne Granitsäule an der Südostwand des Mont Blanc wurde zum Schauplatz eines Unglücks, das an Tragik und Dramatik in der Geschichte des Alpinismus seinesgleichen sucht. Nicht nur, weil die Ereignisse zum Traurigsten und Fürchterlichsten gehören, was das Bergsteigen auf der dunklen Seite bereithält, sondern vor allem auch, weil es richtig gute und erfahrene Männer traf, die planvoll und keineswegs leichtsinnig zu Werke gingen. Allen voran gewiss der Alpinist, der in jenen Jahren als bester Bergsteiger der Welt galt: Walter Bonatti.

Nachdem er 1959 zusammen mit Andrea Oggioni und Roberto Gallieni einen Versuch am Pfeiler unternommen hatte, startet er 1961 mit seinen beiden Gefährten Anfang Juni erneut Richtung Mont-Blanc-Südseite. Als sie an der Biwakschachtel am Col de la Fourche ankommen, treffen sie auf die französischen Bergsteiger Pierre Mazeaud, Antoine Vieille, Pierre Kohlmann und Robert Guillaume. Mazeaud hatte ebenfalls schon einen Versuch am Pfeiler unternommen, war 1960 zusammen mit René Desmaison und vier weiteren Gefährten eingestiegen. Jetzt also begegnen sich in der Biwakschachtel sieben Alpinisten aus zwei Nationen. Man könnte meinen, dass Konkurrenz, Argwohn und Enttäuschung nun die Atmosphäre bestimmen. Doch weit gefehlt – Pierre Mazeaud erinnert sich in seinem Buch »Schritte himmelwärts«:

»Die Türe öffnet sich, drei Männer erscheinen (…) Es wird uns sofort klar: Walter Bonatti, den wir im Halbdunkel erkennen, kann nirgends anders hin wollen als zum Pfeiler. Und wir wähnten ihn noch in Peru! Wir stellen uns vor. (…) Sofort wird der Sache auf den Kern gegangen. Bonatti, dieser wunderbare Mensch, lässt uns den Vortritt. Er, der direkt von Courmayeur kommt, wusste nichts von unserer Gegenwart. Er würde woanders hingehen, sagt er, vielleicht die Zweitbegehung durchführen. Prächtiger Walter. Antoine Vieille schlägt vor, dass wir alle zusammen gehen sollten. Es gibt keine Minute des Zögerns, wir umarmen uns gegenseitig.«

Eine starke Ethik! Bonatti will den Franzosen den Vortritt lassen. Aus Respekt und dem glasklaren Wert, dass auch diese Männer das Recht hätten, ihren Traum zu verwirklichen. Und da sie vor ihm unterwegs waren, zieht er sich lieber zurück, als sie im harten Wettbewerb einfach zu überholen.

Vier Männer sterben am Frêneypfeiler 

So machen sich die sieben Bergsteiger gemeinsam auf, die Erstbegehung am Frêneypfeiler anzugehen. Ohne größere Zwischenfälle gelangen sie bis zur Kerze, zur Chandelle, wo nur noch wenige Seillängen, wenn auch die schwersten, auf sie warten. 80 Meter trennen die Alpinisten vom Kopf des Pfeilers, als sie mit voller Wucht die Gewalt eines schweren Wettersturzes trifft. Die Verhältnisse in dieser Höhe verschlechtern sich rapide – Schneemengen und Vereisung wie selten im Hochsommer stellen sich ein. Es bleibt nur noch der mühevolle, lange Rückzug, der zur Katastrophe wird, in dessen Folge vier Männer sterben und nur Bonatti, Mazeaud und Gallieni überleben werden. Erfahrene Alpinisten, die es schaffen, dem Inferno zu entkommen, jedoch gezeichnet von den Ereignissen und dem Verlust der Freunde. Selbstzweifel und belastende Gefühle, ob sie alles richtig entschieden und im Beistand für die Gefährten alles gegeben haben, begleiten sie eine lange Zeit. Werner Bittner, Jahrgang 1938, bekannt geworden durch seine Wintererstbegehungen der »Hasse-Brandler« an der Nordwand der Großen Zinne (1961) und der Matterhorn-Nordwand (1962), erlebte mit Pierre Mazeaud ein Unwetter am Peutereygrat des Mont Blanc:

»Ich kenne Pierre gut und auch das Drama vom Frêneypfeiler. Pierre und ich sind einmal zusammen den Peutereygrat geklettert und dabei in ein Gewitter gekommen. Das war für Pierre ganz schlimm – die ganze Geschichte ist wieder in ihm hochgekommen. Aber bei uns ging alles gut.« Bittner gelang der Frêneypfeiler mit Klaus Werner, und seine Begehung fasst er ganz nüchtern zusammen: »Wir sind damals mit der Seilbahn hoch. Dann den ganzen Weg über den Gletscher, mit schweren Abseilstellen und großen Spalten über den Col de Peuterey zur Wand, dort haben wir biwakiert. Ein weiteres Biwak brauchten wir noch im Pfeiler, bevor wir zur Vallot-Hütte kamen – alles lief ganz normal ab, es ist eine schöne Kletterei.«

Die Erstbegehung durch britische und französische Alpinisten

Zurück ins Jahr 1961: Nur wenige Wochen später, im August, bekommt der Frêneypfeiler schließlich seine erste Begehung. Britische und französische Alpinisten, darunter Chris Bonington und René Desmaison, vollenden das Werk. Sechs Jahre lang wagt sich anschließend keiner mehr an die Route, bis 1967 Desmaison erneut Hand anlegt – diesmal im Winter. Zusammen mit Robert Flematty klettert er erstmals in der kalten Jahreszeit über den Pfeiler hinauf auf den Mont Blanc. Dann, im Sommer desselben Jahres, taucht ein junger Tiroler auf, der später noch viel von sich reden machen wird: Peter Habeler. Er berichtet über seine Begehung:

»Ich war damals auf dem Bergsteigertreffen der ENSA in Chamonix. Alle rieten mir ab, denn meine Ausrüstung war ziemlich primitiv, so hatte ich nur meinen alten Aschenbrenner-Pickel dabei. Doch für mich hatte diese Tour einen sehr großen Stellenwert. Ich dachte, wenn wir das schaffen, kommen wir überall auf der Welt durch! Große Schwierigkeiten machten die Steigeisen, die nicht an den Brennerpatschen (sehr weicher, schmaler Bergschuh, Anm. d. Verfassers) halten wollten. Dafür konnten wir im Granit mit den Patschen recht ordentlich auf Reibung klettern. 17 Stunden benötigten Michl Meirer und ich für den Pfeiler. Als wir wieder in Chamonix ankamen, wurde uns von den Franzosen erst gar nicht geglaubt. Doch wir hatten an der Kerze deponierte Sachen gefunden und mitgebracht, darunter einen Eispickel. Der gehörte René Desmaison, der das auch bestätigte und mir zudem den Pickel überließ.«

Peter Habeler war die dritte, gleichzeitig die erste deutschsprachige und österreichische Begehung gelungen. Jetzt war klar, dass der Pfeiler bei brauchbaren Verhältnissen von guten Leuten machbar war. Die Wiederholungen mehrten sich, und der Frêneypfeiler wurde zur begehrten Tour großer Namen. Über diese Himmelsleiter das Dach Europas zu erreichen war für die Bergsteigerelite beinahe Pflicht. Doch das Eindrückliche, das Respektvolle, der Mythos blieben. Vor allem, als Lothar Brandler 1972 einen der authentischsten und mitreißendsten Bergfilme aller Zeiten schuf und unter dem Titel »Der Blitz – Inferno am Montblanc« die schrecklichen Ereignisse von 1961 nachzeichnete.

Das Charisma des Frêneypfeilers bleibt

Jenseits der traurigen Begebenheiten beim Erstbegehungsversuch ist der Frêneypfeiler aber eine positiv besetzte Route: sonnig, exzellenter Granit, und wenn auch in großer Höhe, doch vergleichsweise kurz. Den düsteren Nimbus einer Eiger- oder Matterhorn-Nordwand hat er nicht. Und obwohl die Tour im Laufe der Jahre – auch ausrüstungsbedingt – für Spitzenalpinisten zur anstrengenden, doch an einem Tag zu bewältigenden Angelegenheit wurde, bleibt ihr ein besonderes Charisma. »Das ist schon eine spezielle Route mit ihrer eigenen Geschichte, die man im Hinterkopf hat«, sagt Norbert Joos, der bekannte Schweizer Alpinist und Bergführer. »Ich habe den Pfeiler mit 22 Jahren gemacht. Wir waren jung, haben Vollgas gegeben, und es hat uns richtig beeindruckt. Die Verhältnisse haben gestimmt, und wir waren schnell durch. Auch heutzutage ist es eine sehr große Tour, die man nicht unterschätzen darf. Ich hoffe, die jungen Bergsteiger werden in Zukunft solche Unternehmungen wieder mehr angehen. Die meisten zieht es nur noch zum Sportklettern, aber Sachen wie den Frêneypfeiler sollte man doch gemacht haben, denn das gehört als Bergsteiger irgendwie dazu!«

50 Jahre Frêneypfeiler
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 09/2011. Jetzt abonnieren!
 
Mehr zum Thema