Ein Watzmann-Gschichtl' | BERGSTEIGER Magazin
Eine nächtliche Bergtour mir Sonnenaufgang am Gipfel

Ein Watzmann-Gschichtl'

Keine Ostwandstory aus der berühmtesten Wand zwischen München und Wien. Keine Staureportage von der beliebtesten Gratüberschreitung der Nordalpen. Aber eine etwas verrückte Geschichte, die passiert, wenn man für den BERGSTEIGER unterwegs ist. Von Andrea (Text) und Andreas (Fotos) Strauß

 
St. Bartholomä im Durchlauf. Waschmittelgeruch und Bierkrug-Klirren? Ein anderes Mal... © BERGSTEIGER
St. Bartholomä im Durchlauf. Waschmittelgeruch und Bierkrug-Klirren? Ein anderes Mal...
»Wenn man nicht weiß, wohin man will, so kommt man am weitesten.« Soll Shakespeare gesagt haben. Aber ohne mein Ziel hätte ich um diese Uhrzeit nicht einmal den Weg bis zum Frühstückstisch gefunden. Ich brauche ein Bild vom Ankommen. Je länger der Weg, desto farbiger und schärfer muss das Bild in meinem Kopf sein. Und der geplante Weg durchs Wimbachgries ist selbst in Berchtesgaden als langer Hatscher verschrien.

Kopfbilder beim Wandern am Watzmann

Es ist ganz still. Ein leichter Wind lässt die Grashalme wogen. Die ersten Sonnenstrahlen streicheln über die Felsen, liebkosen die Grate und Bänder. Die Luft ist samtig und riecht ein bisschen nach Freiheit. – So sieht das Bild aus. In meiner Vorstellung sitze ich mit dem Gipfelkreuz im Rücken, die Watzmann Südspitze keine 2000 Meter entfernt und genieße die ersten Minuten des neuen Tages. Ich bin der zufriedenste Mensch auf der ganzen Welt – bilde ich mir ein.

Kurz nach Mitternacht klingelt der Wecker. Es war kaum wert ins Bett zu gehen, so kurz war die Nacht. Die Straßen sind leer, nicht einmal aus dem Führerhaus der Brummis auf den Parkplätzen dringt ein Lichtstrahl. Kurz vor der Wimbachbrücke duckt sich ein junger Fuchs ins Gras, dann biege ich in den großen Parkplatz ein. Gleich kann’s losgehen. Zwölf Kilometer und knapp 1500 Höhenmeter trennen mich von meinem Wunschgipfel. In knapp vier Stunden sollte der Aufstieg zu schaffen sein. Vier Stunden nächtlicher Marsch für einen Sonnenaufgang auf einem Gipfel, den keiner kennt.

Letzte Handgriffe: Die Jacke im Rucksack verstaut, denn die Nachtluft ist lau, dann gehe ich los. Auf der Asphaltstraße zunächst ins Wimbachtal. Bald schon muss ich mich entscheiden, ob ich durch die Klamm gehen will. Das wäre doch super gespenstisch! Die dunklen, donnernden Wassermassen im Schluchtgrund und ich ganz mutterseelenallein auf dem Klammsteig. Nach ein paar Metern meine ich mich aber an ein Absperrgitter zu erinnern und das ist morgens um zwei Uhr gewiss verschlossen. Zeitreserven für Umwege gibt es keine. Also drehe ich um und bleibe auf der Straße. Die erste Steigung gehe ich zu schnell an. »So schaffst du das nie! Wenn du jetzt schon außer Puste kommst!«, ermahne ich mich. Während der schmale Stirnlampenkegel die nächsten Meter beleuchtet, rechne ich den Zeitplan nochmals durch. Wäre ich nur eher losgefahren, die Gehzeiten habe ich mir viel zu optimistisch zurechtgelegt!

Plötzlich ein heftiges Flügelschlagen in einem der Bäume am Wegrand. Unwillkürlich leuchte ich auf das Blätterdi­ckicht. Nichts zu sehen. Und wieder Stille. Immer noch geht es fast flach dahin. War das immer schon so weit? Der Bach ist ganz nah an den Weg herangerückt, er übertönt alles.

Der musikalische Wegbegleiter

»I can’t dance! I can’t talk! The only thing about me is the way I walk.« Phil Collins singt in meinem Kopf diesen Refrain rauf und runter. Immer wieder die gleiche Zeile. Kann der Typ nicht endlich aufhören! Das geht schon mindestens eine Stunde so!
Die Welt ist grau. Dunkelgrau mit einem kleinen hellgrauen Lichtkegel. Und die Welt besteht aus Gehen. Jeder Schritt gleich lang, gleich schnell. Hunderte und tausende. Was, wenn es immer Nacht bleibt und das Wimbachtal nie endet? Verrückte Geschichten kommen mir in den Sinn: Dürrenmatts beängstigende Tunnelerzählung von der nie endenden Zugfahrt. Der Wald zu beiden Seiten ist einem Geröllstrom gewichen. Das muss der große Schuttfächer sein, der vom Loferer Seilergraben, vom Steintalhörndl und Ofentalhörndl herabkommt. Jetzt ist es nicht mehr weit zur Wimbachgrieshütte. Es ist noch immer stockdunkel. Der Gedanke »warum eigentlich« flackert kurz auf. Dabei bin ich nicht müde, nicht k.o; eher in einer Art Trance.

Hinter der Wimbachgrieshütte beginnt der Pfad allmählich zu steigen. Rund neun Kilometer und 700 Höhenmeter sind zurückgelegt, jetzt steht nur noch eine »normale« Bergtour an: 800 Höhenmeter und knappe eineinhalb Stunden bis zum Sonnenaufgang. Ich bin gut in der Zeit. Am Trischübelpass liegt ein fahles Licht über der Landschaft. Mir wird klar, dass ich beim Aufstieg hier herauf etwas Zeit verloren habe und schlage ein schärferes Tempo an. Mit mir kann ich’s ja machen. Zu zweit oder in der Gruppe würde mir der Temposprung sicher mehr zusetzen. Mein Weg biegt nach links ab und zieht in Serpentinen den steilen Wiesenhang hinauf. Schweißtropfen laufen mir über die Schläfen. Phil singt wieder vom Tanzen, meine Schritte werden immer schwerer. Noch ein kurzes Stück, dann ist der Halbkreis um den Watzmannstock fertig. Am Watzmannhaus brechen jetzt sicher schon ganze Scharen für die Überschreitung auf und auch in der Ostwand dürften Seilschaften unterwegs sein.

Ja! Ein kurzer flacher Wiesenstreifen und dort drüben steht das Gipfelkreuz. Als ich den Rucksack abstelle und ein paar trockene Kleidungsstücke auspacke, spitzt der erste Sonnenstrahl übers Hagengebirge. Shakespeare war nie auf der Hirschwiese, sonst hätte er nicht behauptet, dass man ohne Ziel weiter kommt!
Von Andrea (Text) und Andreas (Fotos) Strauß
 
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