Sechs Tage Weitwandern im Herzen des Tessins

Auf der Via Alta Vallemaggia durch's Tessin

Auf der Via Alta Valle Maggia im Herzen des Tessins lässt man den Alltag ganz schnell hinter sich. Jede Etappe erfordert hohe Konzentration. Und ist die mal für ein paar Augenblicke zu vernachlässigen, zieht einen sofort die grandiose Aussicht auf diesem Weitwanderweg im Tessin in ihren Bann.
Text & Fotos: Iris Kürschner
 
Weitwandern im Herzen des Tessins © Iris Kürschner
Weitwandern im Herzen des Tessins
Die Sonne brennt gnadenlos. Seit Stunden balancieren wir auf schmalen Graspfaden, springen über Blockfelder, kraxeln durch Couloirs, hieven uns über Felsabsätze. Die Via Alta Vallemaggia (VAVM) ist eine alpine Wanderroute, die Konzentration und Kondition erfordert. Und gutes Wetter. In ein Gewitter zu geraten, könnte fatal enden. Also dankbar über die Sonne sein und den Wasservorrat gut einteilen. Quellen unterwegs sind rar, Wassertankstellen warten oft erst am Etappenziel. Sechs Tage lang folgt die Via Alta Valle Maggia dem schroffen Gebirgszug zwischen dem Maggia- und dem Verzascatal.
 
Rifugio Alpe Spluga
Das Tagesziel ist geschafft: Die Alpe die Spluga

Wandern mit Blick auf Monte Rosa und co.

Ein beständiges Auf und Ab durch ein Labyrinth aus Steinen. Hinter jeder Biegung tun sich neue Perspektiven auf. Arenen, in die sich Seen oder Moorbiotope betten. Gratschneiden, die Weitblick zu den Gletschern von Monte Rosa und Basodino schenken, und immer wieder auch zum Lago Maggiore. Wir starten in Fusio, dem obersten Dorf im Val Lavizzara, einem Seitenarm des Maggiatals. Schon die erste Etappe, am verträumten Lago di Mognòla vorbei zur Capanna Soveltra, sorgt für ordentliche Höhenmeter. Doch noch muss man sich nicht selbst ums Abendessen kümmern. Jede Woche wechseln die Hüttenwirte.

Diesmal ist Gertrud dran, die im Sommer in Monti di Predèe lebt, einer tiefer gelegenen Alpsiedlung. Einst war die Capanna Soveltra ein Stall, Kühe, Ziegen und Schweine tummelten sich auf der idyllischen Alp. Irgendwann gab es keine Nachfolger mehr. Dank des Engagements der Einheimischen wurde dem marode werdenden Stall im Sommer 1997 wieder Leben eingehaucht, nun als Wanderherberge. Mit dem Umbau der Capanna Soveltra wurde auch die Idee einer Via Alta geboren. Initiator: Efrem Foresti, Schreiner aus Prato im Talgrund. Wir treffen ihn am nächsten Etappenziel, dem Rifugio Tomeo. Das Rifugio gehört zu den drei Selbstversorgerhütten auf der Strecke.

Doch hie und da schaut Efrem nach dem Rechten, immer ausgerüstet mit würziger Salami und Bergkäse. Efrem, am Ausbau der Capanna Soveltra maßgeblich beteiligt, kam damals die Vision eines Höhenweges. Unermüdlich kundschaftete er alte Pfade aus, studierte das Gelände nach möglichen Übergängen, versuchte Sponsoren zu finden, markierte und setzte instand. Aber erst durch die Restaurierung der seit langem leerstehenden Steinhäuser der Alpe Spluga (2006) und der Alpe Masnée (2010) zu Wanderherbergen war die Voraussetzung zur Realisierung der VAVM geschaffen. Heute ist Efrem Präsident der Associazione Via Alta Vallemaggia und glücklich, dass der in beide Richtungen gehbare Weg Anklang findet.

Eins werden mit der Natur

Aus dem Felsenkessel glitzert der Lago di Tomeo herauf, als wir anderntags dem Passo di Chènt zustreben. Schuttfelder, Felsbänder, immer wieder brauchen wir die Hände. Dann die unzähligen Auf und Abs. Nicht jeder hält durch, viele müssen sich unterwegs für den Abstieg entscheiden. Aber gerade weil die Route Abenteuer verspricht, ist sie gefragt. In wilder Natur auf sich selbst gestellt sein, seine Bedürfnisse reduzieren, die Gangart entschleunigen – das wäscht den Geist rein, lässt wieder freier atmen und denken. Solche Gedanken lagen den Bergbauern von damals fern, die hier ums Überleben kämpften.

Weit mussten sie in die unwirtlichen Höhen hinaufsteigen, um noch die letzten Grashälmchen für ihre Ziegen zu finden. Schon bald erreichen wir die Alpe Nimi, das Refugium von Pietro Zanoli. Ein illustres Leben hat der aus Gordevio stammende Pietro hinter sich: Banker an der Zürcher Börse, Direktor eines Locarneser Campingplatzes, Skilehrer, Animateur bei Club Med. Eine Zeit, während der sein Onkel auf der Alpe Nimi sömmerte, dann aber altersbedingt nicht mehr konnte. Pietro wollte nicht zusehen, wie alles verfällt. Kurzerhand wälzte er sein Leben um und wurde Geissenpeter, wie er sich gerne nennt. Allmorgendlich ruft er seine über 150 Ziegen zusammen, melkt von Hand.

Die Attraktion: eine Open-Air-Badewanne. Baden mit Blick auf Lago Maggiore und Monte Rosa! Nachmittags verarbeitet Pietro die Ziegenmilch zu Käse. Im Sommer 2005 wurde er mit dem Prix Wilderness ausgezeichnet für sein Engagement. Dass das Maggiatal seit langem stark von der Abwanderung betroffen ist, hat man auf der Via Alta nur allzu deutlich mitbekommen. Nicht nur wertvolles Alpgelände wächst zu. Auch Traditionen und lokale Erzeugnisse gehen verloren.
Via Alta Valle Maggia
Alpe Nimi: Badewanne mit Aussicht

Alle Infos zur Via Alta Valle Maggia

Via alta Vallemaggia Karte
  • WIE ANKOMMEN? Am bequemsten per Zug nach Locarno und mit dem Bus ins Maggiatal nach Fusio, Fahrpläne gibt es unter: www.sbb.ch
  • SICH ORIENTIEREN Swisstopo 1:50 000, »266 T Valle Leventina « und »276 T Val Verzasca«
  • WO WOHNEN? Zum Start empfiehlt sich die Antica Osteria Dazio, www.osteriadazio.ch
  • WO ESSEN? Kulinarisches Highlight ist die Capanna Soveltra. Auch auf der Alpe Nimi und auf der Cimetta kann man sich bekochen lassen. Man muss nicht alle Lebensmittel mitschleppen. Das Notwendigste wie Spaghetti oder Reis kann man teils nachkaufen. Die Küchen der Selbstversorgerhütt en sind bestens ausgestattet mit Gasherd, Kochutensilien, Geschirr. Oft lassen Wanderer angebrochene Packungen zurück.
  • WANN AUFBRECHEN? Besser nicht zu früh im Jahr – die Gipfel müssen schneefrei sein. Ob das so ist, lässt sich mitt els der Webcam von Cardada kontrollieren: www.cardada.ch. Die ideale Zeit ist von Juli bis in den Herbst.
  • WIE FIT MUSS MANN SEIN? Die VAVM ist eine alpine Wanderroute und nach der Schweizer Schwierigkeitsskala mit T4, die erste und letzte Etappe mit T3 eingestuft . Trittsicherheit, Schwindelfreiheit und Kondition sind Voraussetzung. Hie und da leichte Klett erstellen. Heikle Passagen sind mit Drahtseil und Tritten gesichert. Immer mal wieder ist die Route auch weglos, aber bestens blau-weiß markiert.
  • WO ANKLOPFEN? Ticino Turismo: www.ticino.ch. Vallemaggia Turismo: www.vallemaggia.ch. Alles Wesentliche zur Via Alta auf www.vialtavallemaggia.ch.
  • MEHR ERFAHREN Eine genaue Wegbeschreibung findet sich im Wanderbuch »Vallemaggia« von Thomas Bachmann, Rotpunktverlag 2012, 30 €. Zum Einstimmen empfiehlt sich der Bildband »via alta della vallemaggia« von Roberto Buzzini, Edizioni A2, Cevio 2011, 45 CHF, zu bestellen unter bodesign@bluewin.ch.
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 10/2015. Jetzt abonnieren!
 
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