Es ächzt, kracht, poltert. In der vermeintlich erstarrten Welt ist mächtig was los. Der
Gletscher ist am Rückzug. Er schiebt und stöhnt und schwitzt. Zurück bleibt das Skelett: Schutt, Steine, glattpolierter Fels. Jahr für Jahr mussten neue Leitern angebaut werden, damit die Oberaletschhütte auf der Felsterrasse über dem schrumpfenden Oberaletschgletscher überhaupt erreichbar blieb. Dennoch wurde der Anstieg schwieriger. Immer öfter passierte es, dass die Gäste den Weg über den schuttübersäten Gletscher nicht fanden oder an den senkrechten Leitern umkehrten. Irgendwann war das Maß voll.
Peter Schwitter, von 2000 bis 2013 Wirt auf der Oberaletschhütte, zugleich Bergführer und Chef der örtlichen Bergrettung, studierte das Gelände. Nordseitig der Gletscherfurche musste es möglich sein. Die Hürden von Bürokratie und Naturschutz kosteten Zeit und Nerven. Dann endlich durfte Schwitter loslegen. 5000 Arbeitsstunden, eine Tonne Sprengstoff, 1000 Eisenstöcke und ein Kilometer Kettensicherungen: Das ist die trockene Bilanz einer mehr als dreimonatigen, risikoreichen Schufterei, um an der Südflanke der Fußhörner einen sicheren Wanderweg mit vorgeschriebener Breite von 60 Zentimetern zu bauen.
Belle-Epoque-Hotel mit Gletscherblick
2005 wurde der neue Oberaletsch-Panoramaweg offiziell eingeweiht. Seither ging es mit den Gästezahlen auf der Hütte wieder bergauf. Längst sind es mehr Wanderer als Alpinisten, die das Haus ansteuern. Der Weg von der Belalp ist spektakulär. Vom Ausblick auf den Aletschgletscher und die
Walliser Viertausender waren die Alpenpioniere so begeistert, dass sich in den Jahren 1856/57 der Bau eines Belle-Époque- Hotels lohnte. Das Hotel Belalp steht noch heute, freilich den Bedürfnissen und dem Geschmack unserer Zeit etwas angepasst. Gleich oberhalb des Hotels ließ sich der irische Physiker John Tyndall seine Sommervilla bauen. Von dort aus stellte er seine Gletscherforschungen, Licht- und Wärmeuntersuchungen an. Mit dem Blick, den der Wissenschaftler als »the most beautiful of the Alps« bezeichnete, startet die Tour zur Oberaletschhütte, die sich zu einem mehrtägigen Hüttentrekking durch das UNESCO-Weltnaturerbe »Schweizer Alpen Jungfrau- Aletsch« ausbauen lässt.
Auf einem kunstvoll angelegten Saumweg geht es abwärts zu den Wiesenhängen des Aletschji und zwischen blökenden Schafherden stetig bergan zur Seitenmoräne des Oberaletschgletschers. Ein letzter Blick über die Schulter auf die grünen Matten vor der Kulisse von Weissmies, Mischabelgruppe und Weißhorn, deren Gletscher am südlichen Horizont blitzen. Dann geht es hinein in die raue Welt aus Fels und Eis, durch den tief eingeschnittenen Tobel mit dem Schmelzwasser des Oberaletschgletschers auf dem neuen Panoramaweg zur Hütte.
Abschied vom Hüttenwirt am Oberaletsch
Noch vor einem Jahr empfingen – welche Überraschung auf 2640 Metern – gackernde Hühner die Bergsteiger am Etappenziel. Doch die glücklichen Gletscherhühner nahmen es mit der Arbeit in der Höhenluft nicht mehr allzu genau. »Mit dem Eierlegen hat es ein bisschen gehapert«, schmunzelt Peters Frau Debi, während die beiden Töchterchen Joline (4) und Laya (2) um sie herum springen. Das Leben der Familie im eisigen Herzen des Weltnaturerbes war eine echte Herausforderung, zumal auf der Hütte nur wenig Raum für Privatsphäre bleibt. Aus diesem Grund haben die beiden sich schweren Herzens von ihrem Wolken-Haus verabschiedet und es im Jahr 2014 an Richard Walker aus dem Urner Ort Attinghausen übergeben.
»Hühner und Katzen haben wir zwar nicht mehr auf der Hütte«, sagt der neue Wirt, »aber sonst ist alles beim Alten geblieben«. Draußen bessert Peter den Zustieg zur Hütte aus. Er ist nach wie vor oft heroben und steht dem frisch gebackenen Chef der Oberaletschhütte mit Rat und Tat zu Seite. Punkt halb sieben serviert Richard das Drei-Gänge-Menü. Während die Crew später mit dem Abwasch beschäftigt ist, wechseln die Gäste zur Abendschau auf die Hüttenterrasse. Die Sonne haucht ihre letzten Strahlen auf die hochgereckte, weiße Nase des Nesthorns und überm Taleinschnitt, wo eine Menge Hörner (Helsehorn, Hillehorn, Bettlihorn, Bortelhorn) und der Monte Leone Spalier stehen, geht der Mond auf. Das beliebteste Ziel der Bergsteiger auf der Oberaletschhütte verbirgt sich ums Eck: das Aletschhorn. Um zwei Uhr nachts werden die Gipfelaspiranten geweckt. Wanderer hingegen dürfen ausschlafen.
Überschätzt am Aletschhorn
Der Weg auf das Aletschhorn ist lang, sehr lang. »Die ersten kommen mittags zurück, die letzten um Mitternacht«, ist Debis Kommentar. »Die meisten überschätzen sich.« Seit auf Initiative von Peter Katzenaugen zur Wegfindung und Sicherungsstangen im Gratbereich installiert wurden, sind immerhin kaum noch Unfälle zu verzeichnen. Der heutige Normalweg über die Südwestrippe auf das Aletschhorn wurde erst populär, als die SAC-Sektion Chasseral 1891 eine einfache Holzhütte am Oberaletschgletscher errichtete. Ihr folgte 1973 der Neubau wenige Meter oberhalb. Die Alpenpioniere nahmen noch den Weg vom Eggishorn über den Großen Aletschgletscher, biwakierten am Mittelaletschgletscher, um schließlich über das Aletschjoch den Gipfel zu erklimmen. Der Brite Francis Fox Tuckett eröffnete 1859 diese Route, der zehn Jahre später auch John Tyndall folgte.
Hütteneinmaleins Oberaletschhütte
Lage: Auf einer Felsterrasse über dem Oberaletschgletscher auf 2640 Metern Höhe am Fuße des Westgrats vom Gross Fusshorn
Eigentümer: SAC-Sektion Chasseral
Zugang: Von Blatten mit der Seilbahn zur Belalp. Von der Bergstation rechts auf breitem Weg zum Hotel Belalp, weiter am Hang entlang zur Schlucht und jenseits der Brücke über einen in den Fels gehauenen Pfad auf die nördliche Seitenmoräne. Auf dieser aufwärts und über den neuen Panoramaweg zur Hütte, 4–5 Std.
Kapazität: 58 Lager in vier Räumen sowie 12 Betten in der alten Hütte (Winterraum)
Öffnungszeiten: Anfang Juli bis Mitte September sowie zur Skitourensaison Anfang April bis Mitte Mai
Hüttenwirt: Richard Walker
E-Mail: info@oberaletsch.chInternet:
www.oberaletsch.chTelefon: 00 41/(0) 27/9 27 17 67 oder 00 41/(0) 79/4 34 31 41
Karten: Swisstopo 1:50 000, Blatt 264T »Jungfrau« und 274T »Visp«
Literatur: Thomas Bachmann »Jungfrau- Aletsch-Bietschhorn – 35 Wanderungen im und ums UNESCO-Weltnaturerbe«, Rotpunktverlag
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