Alix von Melle im Interview

„Achttausender sind kein Kinderersatz“

Warum Alix von Melle bald zum Everest aufbricht, obwohl der gar nicht ihr Traumberg ist – Deutschlands erfolgreichste Höhenbergsteigerin im Interview.
 
 
Deutschlands erfolgreichste Höhenbergsteigerin: Alix von Melle © www.goclimbamountain.de
Deutschlands erfolgreichste Höhenbergsteigerin: Alix von Melle
Ihre sechs Achttausender sieht man Alix von Melle noch immer nicht an. »Pumperlgsund« statt Nordwandgesicht, würde man in Bayern sagen. Die letzten fünf Tage hat von Melle trainiert, jetzt liegen zwei Tage Arbeit vor ihr – »also bin ich faul«, lacht von Melle. Mehr als 20 Jahre lebt die gebürtige Hanseatin schon in Bayern, immer noch sagt sie „unterweechs“ und „überleecht“. Am häufigsten aber sagt sie: „Andererseits“. Was kein Zeichen des Zögerns ist. Eher ist von Melle wieder im Gleichgewicht, denn mit dem Aufbruch zum Everest ist eine wichtige Entscheidung gefallen.

BERGSTEIGER: Fünf Tage Training, zwei Tage Büro – ist das noch Hobby, oder schon Profibergsteigen?
ALIX VON MELLE: Ich sehe mich in der Mitte. Inzwischen betreibe ich das Bergsteigen professioneller als am Anfang, es ist ein Standbein geworden. Aber ich lebe nicht allein davon. Das wird auch so bleiben, denn den Schritt ins Profibergsteigen hätte ich früher machen müssen. Und mit 60 Jahren sehe ich mich nicht mehr an den hohen Bergen. Acht Wochen lang im Zelt mit dem Hintern auf einem Gletscher zu sitzen, das ist Knochenarbeit, kein Urlaub.

Was ist für die Knochenarbeit wichtiger: Talent oder Training?
Training. Wobei gerade beim Höhenbergsteigen Talent nicht der richtige Ausdruck ist. Da ist eher die Höhenverträglichkeit entscheidend.

Sie haben 2013 gesagt: „Wenn mir einer sagen würde: Hier nimm das Geld und besteige den Everest - dann würde ich das machen, aber eigentlich schreckt er mich eher ab.“ Kommenden Mai wollen Sie über die Nordseite zum Gipfel.
Daran hat sich nicht viel geändert. Ich stehe dem Everest mit sehr gemischten Gefühlen gegenüber. Er ist nicht unbedingt mein Traumberg. Es kann sein, dass ich mich da überhaupt nicht wohlfühle. Vermutlich werden durch das Unglück letztes Jahr an der Südseite die Menschenmassen auf der Nordseite noch ein bisschen zunehmen. Und ich gebe zu: Wenn ich die Expedition komplett selber zahlen müsste, mit 15 bis 20 000 Euro Fixkosten – das wäre mir der Everest nicht wert.

Wer hatte die Idee für den Everest?
Tatsächlich ein Filmteam. Es gibt noch keine deutsche Fernsehproduktion an der Everest-Nordseite, auch keine mit deutschen Athleten. Deshalb ist der BR letzten Sommer auf uns zugekommen. Nach meinem Lungenödem am Makalu habe ich erst Bedenkzeit gebraucht, sogar über ein Jahr Achttausender-Pause nachgedacht. Ich wollte in Ruhe schauen, ob die Lust da ist. Im Januar ist die Entscheidung gefallen, und mit dem Filmprojekt gehe ich völlig locker an die Sache ran. Die Produktion steht im Zentrum und nicht wie sonst der Wunsch, dass der Gipfel klappt. Es wird eine neue Erfahrung. Ob mit oder ohne Gipfel, werden wir sehen.

Ihr Höhen-Lungen-Ödem vom letzten Frühjahr hindert sie nicht? Der Everest ist noch mal 400 Meter höher als der Makalu.
Ja, da habe ich lange überlegt. Die Höhenverträglichkeit war immer meine Stärke. Am Makalu habe ich begriffen, dass es jeden erwischen kann und ein Berg nicht immer beim ersten Versuch klappt. Andererseits bin ich komplett gesund, habe viele Tests und Checks beim Lungenfacharzt gemacht. Letzten Sommer bin ich völlig ohne Training eine Transalp mit dem Mountainbike gefahren, später problemlos auf den Kilimandscharo gestiegen. Danach war der Makalu abgehakt. Falls mich das Ödem am Everest doch beschäftigt, ist das eher eine Bereicherung – damit ich noch mehr Acht gebe.

Beim Tauchen spricht man vom Tiefenrausch. Jetzt haben sie schon sechs Achttausender. Gibt es einen Höhenrausch?
Das ist schon eine Sucht, die sich entwickelt. Wir hatten einen Run, mit sechs Erfolgen aus acht Versuchen eine super Quote. Wir probieren es jetzt weiter, solange es finanziell geht und wir gesund sind. Ich muss aber wirklich nicht jeden 8000er besteigen. Ich habe viel Respekt vor der Annapurna, weiß auch gar nicht, ob ich am Everest die Höhe ohne künstlichen Sauerstoff schaffe. Auch der Kangchenjönga ist ein echter Brocken.

Sie haben sich wegen der Berge bewusst gegen Kinder entschieden. Macht Ihnen das jetzt Druck?
Überhaupt nicht. Diese Entscheidung ist mit den hohen Bergen gewachsen. Mein Mann Luis kommt aus einer kinderreichen Familie, ich hab drei Geschwister. Zuerst dachten auch wir, dass wir sicher mal eine Familie gründen werden. Aber manchmal kommt das Leben dazwischen. Für Luis sind die Berge sein Beruf, da hätte ich nicht sagen können, du machst zuhause Elternteilzeit und ich gehe auf die hohen Berge. Und auch mir waren die Berge zu wichtig, als dass ich darauf verzichtet hätte. Man kann nicht alles Glück dieser Welt haben, sondern muss sich für die Dinge entscheiden, die einem wichtig sind – und auch dazu stehen. Wir hätten die Kinder nie von Oma eins zu Oma zwei wegorganisiert, um auf die hohen Berge fahren zu können.

Können Achttausender ein Kinderersatz sein?
Ich glaube nicht, dass Achttausender ein Kinderersatz sind. Aber es gibt viele Dinge im Leben, die genauso schön sein können wie Familie, und für uns sind es eben die hohen Berge, so banal das klingt.

Sie sind Deutschlands erfolgreichste Höhenbergsteigerin. Werden Sie oft auf der Straße erkannt?
Definitiv nicht wie ein Fußballer. Aber es ist schon nett, wenn der Bäcker von schräg gegenüber sagt: „Ich hab Sie im Fernsehen gesehen“. Es kam auch schon vor, dass jemand den Namen auf der Kreditkartenrechnung gelesen hat und sagte: „Ah, Sie sind die tolle Bergsteigerin!“

Sie haben 2011 in einem Interview gesagt: „Ich habe gar nicht so viel zu erzählen, was für meine Leser interessant sein könnte.“ Jetzt erscheint im Mai 2015 ein Buch von Ihnen. Was ist passiert?
Das war eben eine Chance, die man nehmen muss, wenn sie kommt – was eine Philosophie von mir ist. Schon vor ein paar Jahren ist ein Verlag auf uns zu gekommen, da bin ich schon stolz darauf. Ich kenne viele, die tolle Geschichten schreiben, die aber nie veröffentlicht werden. Trotzdem wird es erstmal mein letztes Buch gewesen sein. Das Schreiben war mindestens so anstrengend wie eine Achttausender-Besteigung. Ich bin gespannt, ob wir den Spagat geschafft haben, dass es für die Leser noch interessant ist und uns eine Privatsphäre bleibt.

Kein Ghostwriter?
Nee! Kein Ghostwriter. Viele machen das ja, aber es war irgendwie unser Anspruch, das schon selber zu schreiben. Natürlich mit Lektorat. Aber die Sätze, die drinstehen, sind auch wirklich von uns.

Der Titel „Leidenschaft fürs Leben“, wie sind sie auf den gekommen?
In der Küche, beim Gemüseschnippeln. Einer meiner zwei kreativen Momente im Jahr. Die Doppelung drückt eben beide Leidenschaften aus: Die Leidenschaft füreinander, er für mich und ich für ihn, und die Leidenschaft für die hohen Berge.

Die nepalesische Kultur hat es Ihnen angetan. Was fasziniert Sie daran?
Am Makalu machen es ja viele so: Per Heli ins Basislager, dann Berg, dann wieder zurück, am nächsten Tag Kathmandu und dann wieder Deutschland. Ich finde das schrecklich. Für mich ist eine Expedition eine Pilgerreise, eine Erdung des eigenen Lebens. Der Wasserkocher, der zuhause ganz normal ist, wird nach so einer Reise wieder zum Luxusgut. Die Kinder spielen so fantasievoll in Nepal, ohne Playmobil oder Playstation, die haben nicht mal ein Kinderzimmer. Da könnte ich stundenlang zugucken. Dieses einfache Leben und die Kulturen und Religionen in fremden Ländern erleben zu dürfen, ist genauso viel wert wie der Berg selbst.

Ist Ihnen bewusst, dass ihre Art des Bergsteigens, als Frau ganz frei hohe Berge zu bereisen, lange Zeit nicht möglich war?
Auf jeden Fall. Ich sehe das als Privileg an. Es geht in einigen Kulturkreisen immer noch überhaupt nicht oder steckt gerade in den Anfängen. Man merkt häufig, wie oft Menschen immer noch in ihre Welt hineingeboren werden und schlicht nie die Chance bekommen, so etwas zu machen.

Viele Alpinistinnen hatten eine Art Mission, solche Widerstände zu brechen. Gerlinde Kaltenbrunner etwa hat immer darauf geachtet, die gleichen Lasten wie Männer zu tragen. Verspüren sie den Drang, sich da zu engagieren?
Ich bin nicht so emanzipiert, dass mir das wichtig wäre. Jeder muss seine Leistung bringen. Eine reine Frauengruppe ist nicht unbedingt meins. Als einzige Frau in einer reinen Männergruppe zu sein, ist aber auch nicht so spaßig. Die Chemie muss stimmen, wenn die Privatsphäre acht Wochen lang so groß ist wie die eigene Isomatte. Die letzten Jahre war ich ja oft zu dritt unterwegs, mit meinem Mann und einem unserer Freunde. Wenn ich mit zwei Männern im Zelt liege, ist das für mich gar kein Problem.

Im „Twin-Camp“, das Sie bald veranstalten, geht Luis mit den Männern was Wildes und Sie was Genüssliches mit den Frauen.
Das ist schon ein Klischee, ja. Wir haben auch schon Anfragen bekommen, ob man die Gruppe wechseln kann, was natürlich auch ok ist. Aber ich finde, es ist schon eher der Alltag, dass die Männer fitter sind und schneller gehen wollen, und die Frauen gemütlicher.

Schon mal bei einer Globetrotter-Betriebsfeier in der Kältekammer dabei gewesen? Es gibt da so Gerüchte…
Ja, bei einer Filialeröffnung wird immer um Mitternacht mit Wodka in der Kältekammer angestoßen. In München war ich dabei, aber ich hab‘s mir nur von außen angeschaut, damit auch nichts schief läuft um die Uhrzeit.

Sie trinken keinen Alkohol, sind Vegetarierin, machen Yoga und sagen über sich, dass Sie kein Partymensch sind. Wo lassen Sie die Sau raus?
Mein Mann sagt immer: Lass doch mal die Sau raus. Aber ich glaube, ich bin wirklich so. Ich lebe ein eher ruhiges Leben und bin total zufrieden, mir fehlt überhaupt nichts. Bei dem vielen Training hätte ich auch keine Energie, abends noch wegzugehen. Es ist wie mit den Kindern: Alles geht einfach nicht. Ein Abend mit guten Gesprächen und Kochen ist mir wichtiger als eine Party, wo ich das eigene Wort nicht verstehe.

Zur Person
Alix von Melle, 43, ist mit sechs Achttausendern Deutschlands erfolgreichste Höhenbergsteigerin. Die gebürtige Hamburgerin zog 1993 für ihr Geographie-Studium nach München, wo sie ihren heutigen Mann, den Bergführer Luis Stitzinger kennenlernte. Von Füssen aus bereisen sie gemeinsam seit 1998 die hohen Berge der Welt, meist auf den Normalwegen, aber stets ohne künstlichen Sauerstoff. Bei ihrer Expedition zum Makalu im Frühjahr 2014 erlitt von Melle ein Höhenlungenödem und musste vom Basislager ausgeflogen werden. Von Melle arbeitet als Pressesprecherin bei der Globetrotter-Filiale in München. Nach Gasherbrum II (2006), Nanga Parbat (2008), Dhaulagiri (2009), Cho Oyu (2010), Broad Peak (2011) und Shisha Pangma (2013) will von Melle im Frühjahr 2015 mit dem Everest ihren siebten Achttausender besteigen.
Interview: Thomas Ebert
Tags: 
 
Mehr zum Thema