Skidurchquerung des Kaisergebirges | BERGSTEIGER Magazin
BERGSTEIGER Serie: Sicher zum Gipfel - Skidurchquerung

Skidurchquerung des Kaisergebirges

Eine Durchquerung des Kaisergebirges zehrt nicht nur an Kraft und Nerven. Sie kann auch zu einem Wettlauf gegen die Zeit werden.

 
Dies ist erst der Auftakt: Anna und Max beim Aufstieg zur Roten-Rinn-Scharte © Andreas Strauß
Dies ist erst der Auftakt: Anna und Max beim Aufstieg zur Roten-Rinn-Scharte
Der Aufstieg in die Rote-Rinn-Scharte scheint unter einem schlechten Stern zu stehen; das merken Anna und Max schon sehr bald. Die Skispuren aus den vergangenen Tagen führen vom Parkplatz Wochenbrunner Alm zwar zielstrebig Richtung Gruttenhütte, schlagen aber bald schon unerwartet Haken und zeigen eine Vorliebe für kurze Zwischenabfahrten und dichtes Buchenunterholz, kurz: Die Vorgänger kannten sich nicht aus.

Trotzdem sind die Spuren besser als die unberührte Schneedecke, durch die man bereits beim ersten Schritt einbricht. Erst in der steilen Rinne kurz vor der Gruttenhütte ändert sich die Schneequalität: Binnen weniger Meter wird aus dem Sumpf ein harter Steilhang, der sich nur mit Harscheisen sicher überwinden lässt. Schneller geht der Aufstieg hier schon, aber dafür kostet er noch mehr Kraft.

Auf 1600 Metern Höhe können die beiden endlich ausschnaufen, denn das Gelände legt sich endlich zurück. Eine wunderbare Winterlandschaft liegt vor ihnen. Tief verschneit steht nur wenige Minuten weiter die Gruttenhütte auf ihrem Aussichtsbalkon. Eingerahmt wird sie von den höchsten Gipfeln des Wilden Kaisers. Unten im Tal dagegen liegt eine Hochnebeldecke und lässt jeden Gedanken an Alltag verschwinden. Nicht einmal eine Andeutung einer Spur zeigt an, wie der Weiterweg aussehen könnte. Vorsichtig steigen Anna und Max über die verharschte Flanke auf. Obwohl auch die Sonne immer höher wandert, hat sie doch noch nicht die Kraft, den harten Schnee aufzuweichen.

Die nächste Änderung der Schneeverhältnisse kommt schleichend. Die beiden übersteigen die Hangkante des Kars unter der Ellmauer Halt und sind nun in dem Karbereich, der anfangs flach und dann immer steiler in die Rote-Rinn-Scharte leitet. Mit einem Hauch von Pulverschnee auf dem Harsch hat es begonnen, jetzt spuren sie durch handtiefen Schnee. Serpentine an Serpentine zieht Max die Spur. Es wird steiler, die Felsen rücken zusammen. Selbst auf einer 25 000er-Karte braucht man eine Lupe, um die Scharte zu sehen, so eng ist der Durchschlupf am Ende. Zwei andere Tourengeher übernehmen schließlich die Führung. Kleine Rutsche aus den Flanken an Treffauer und Ellmauer Halt sorgen für imposantes Donnern. Inzwischen ist der Neuschnee bereits knietief.

Als Anna und Max am späten Vormittag den höchsten Punkt ihrer Tour erreichen, die Rote-Rinn-Scharte auf 2099 Metern sind sie in Wirklichkeit noch nicht weit gekommen, und das ist ihnen nur allzu bewusst. Zur Rechten geht ein Felsgrat zur Ellmauer Halt hinauf, zur Linken ein felsiges Auf und Ab, in dem der Kaiserkopf und der Treffauer die nennenswerten Gipfel bilden. Während südseitig die Sonne mittlerweile große Mengen Neuschnee von den Felsen geschleckt hat, ist die Nordseite eine einzige schneeverkleisterte Wunderwelt. Die Rinne jenseits der Scharte verliert sich nach wenigen Metern ins Nichts. Sie ist so steil, dass man sie nicht einsieht. Keine Spur verrät heute, dass sie befahrbar ist.

Scharte der Entscheidung

Was bis hierher eine »normale Skitour« war, könnte nun zur Skidurchquerung werden. Anna und Max möchten den Kaiserexpress gehen. Neben verschiedenen Varianten besteht der klassische Kaiserexpress aus dem Aufstieg in die Rote-Rinn-Scharte, der Abfahrt in den Oberen und Unteren Scharlinger Boden zum Hans-Berger-Haus und nach Hinterbärenbad, aus einem zweiten Aufstieg hinauf auf die Pyramidenspitze und schlussendlich der Abfahrt durchs Egersgrinn. 2200 Höhenmeter summieren sich so auf, man durchquert sowohl den Wilden als auch den Zahmen Kaiser und – das ist der Knackpunkt – man überwindet die steilste und heikelste Passage in der letzten Abfahrt.

Vor oder zurück? Abfahrt nach Süden in den bekannten, eben aufgestiegenen Hang oder hinein ins Ungewisse? Hinein in diese brutal weiße und kalte Nordseite? Die beiden anderen Tourengeher sind nach ein paar verhaltenen ersten Schwüngen zurück Richtung Gruttenhütte nicht mehr zu sehen und zu hören; allein stehen Anna und Max in der engen Scharte mit ihrer Entscheidung, die ihnen ohnehin niemand abnehmen kann. Blauer Himmel, Lawinenwarnstufe 1 und ausreichend Schnee für die tiefer liegenden Abschnitte sprechen für die Durchquerung. Schwere Beine vom Spuren, die bedrohliche Einfahrt, das Fehlen jeglicher Spuren und die Tatsache, dass sie ein wenig hinter ihrem Zeitplan liegen, lassen sie zögern.

Vorsichtig queren sie die Flanke zu Fuß, um von einem erhöhten Punkt in die Rinne hineinzufahren. Mit viel Gefühl rutscht Max die ersten Meter auf einen Sporn hinab und blickt prüfend in den Schlund darunter. Sein Kommentar ist knapp: »Kannst kommen.« Solange der Harschdeckel noch eine Neuschneeauflage hat, können die beiden vorsichtig ihre Schwünge setzen. Bei etwa 40 Grad Steilheit versteht es sich von selbst, dass Sicherheit vor Fahrvergnügen geht. Bald wird die Schneeauflage dünner. Die Kanten der Ski scharren übers Weiß, so dass es einen fast schmerzhaften Ton gibt, der von den umliegenden Felswänden vervielfacht wird. Der Harsch geht in eine eisglasierte Fläche über, steil und nicht mehr kontrolliert zu befahren.

Das steilste Stück überwinden sie schließlich zu Fuß, schlagen mit den Schuhspitzen die Eisglasur auf. Endlich erlaubt es die Geländeform, wieder in die Bindung zu steigen. In großen Bögen kratzen sie das Kar hinab, froh über jede Verflachung, in der man eine Richtungsänderung wagen kann. Erst die letzten Schwünge im Unteren Scharlinger Boden führen in die Sonne. Hinterbärenbad, Halbzeit. Pause für die durchgerüttelten Muskeln und Zeit für ein Stück Brot. Jetzt müssen sie den Zeitplan korrigieren, denn für die Abfahrt haben sie bei diesen Verhältnissen fast genauso lange gebraucht wie für den Aufstieg. Was tun? Drei Möglichkeiten existieren, um von Hinterbärenbad die Tour abzuschließen.

Szenario 1: Zurück in die Rote-Rinn-Scharte und hinunter zur Wochenbrunner Alm. Das wären fast 1300 Höhenmeter durch das vereiste Kar und dann eine aufgeweichte südseitige Abfahrt. Immerhin steht hier aber das Auto.
Szenario 2: Auf der Forststraße hinaus durchs Kaisertal. Das heißt vermutlich bald Skitragen, Treppenstufen nach Kufstein, Taxi zum Auto. Problemlos, aber geringer Funfaktor.
Szenario 3: Weiter auf dem Kaiserexpress. Südseitig gut 1000 Meter Aufstieg, dann die steile Einfahrt ins Egersgrinn. Wenn hier dieselben Bedingungen herrschen wie am Scharlinger Boden, dann wären sie über 2000 Höhenmeter gegangen für keinen einzigen schönen Abfahrtsmeter. Und ungefährlich ist das Egersgrinn bei diesen Verhältnissen auch nicht. Nachdem sie nochmals genau durchgerechnet haben, wann sie im schlechtesten Fall auf der Pyramidenspitze sein werden und feststellen, dass die Zeit noch immer reicht, um notfalls ins Kaisertal abzufahren und nach Kufstein abzusteigen, wagen sich Anna und Max an den Aufstieg Richtung Pyramidenspitze.

Es ist nicht jeder Schritt, der Überwindung kostet. Aber es sind doch einige harte Meter während der gut 1200 Höhenmeter von Hinterbärenbad bis zur Pyramidenspitze. Vor allem der steile Wald im unteren Abschnitt ist mühsam. Stellenweise fehlt bereits der Schnee und man muss immer wieder entscheiden, ob man mit den Fellen geht oder ob nicht die Ski im Rucksack besser aufgehoben wären. Fast eineinhalb Stunden sind die beiden unterwegs, bis sich die Bäume und Latschen lichten und wieder freie Hänge dominieren. »Hoffentlich müssen wir hier nicht abfahren, wenn das Egersgrinn nicht geht!«, ist Max’ einziger Gedanke.

14:30 Uhr. Eine kurze Trinkpause, um den schlimmsten Durst zu löschen. Der Blick zurück zeigt an, wo am Vormittag die Abfahrt in den Scharlinger Boden lag – sie scheint Lichtjahre zurückzuliegen. 15:30 Uhr. Endlich kommt Max am Gipfel der Pyramidenspitze an. Schnell die Felle abziehen, einen Bissen essen, kurz auf Anna warten. Das große Durchatmen kommt erst, wenn sie die steile Stelle im Egersgrinn überwunden haben. Ein richtiger Nervenkitzel ist das, diese Schlüsselstelle am Ende der Tour, nach über 2200 Höhenmetern.

17:00 Uhr. Die beiden schwingen die letzten Meter über einen flachen Wiesenhang hinab zum Gasthof Köllenberg. Es ist geschafft! Die Einfahrt ins Egersgrinn? An diesem Tag war sie auf Ski nicht machbar und die Harschdecke so beinhart gefroren, dass Anna und Max die etwa 45 Grad steile Stufe vorsichtig und Schritt für Schritt mit Steigeisen hinuntergestiegen waren. Mit Traumabfahrten konnte der Kaiserexpress heute nicht punkten. Aber eines war dieses Mal wichtiger: glücklich und heil anzukommen.

Von Andrea (Text) und Andreas Strauß (Fotos)
 
Die Durchquerung des Kaisergebirges. Von Andrea (Text) und Andreas Strauß (Fotos)
 
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