Die Ramsau am Dachstein
Die Ramsau am Dachstein ist ein kleines Paradies für sich
Zu verdanken ist diese Vielfalt den Gletschern der letzten Eiszeit, die an der Südseite des Dachsteins drei Etagen hinterlassen haben, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auf der ersten Etage in einer Höhe von 1100 bis 1300 Metern liegen verstreut alte Bauernhöfe und moderne Hotels im mäßig geneigten Wiesengelände. Hier ein Bauerngarten, da eine Ahornallee. Pferdewiehern, Kinderlachen und das Klackklack, wenn uns eine Gruppe Nordic Walker passiert. Das Hochtal der Ramsau wird in den nächsten Tagen unsere Ausgangsbasis zur Felsen-Etage und ins vereiste Dach sein, es ist unser Souterrain und unsere abendliche Sonnenterrasse. An den »Keller« verschwenden wir keinen Gedanken: Das Ennstal liegt 400 Meter tiefer und ist von der Ramsau aus weder zu hören noch zu sehen. Vom Rest der Welt reden wir erst gar nicht. Den Ramsauern selbst scheint es ähnlich zu gehen. Dass es eine Welt unterhalb der 1000-Meter-Marke gibt, vergisst man leicht bei so viel Sonne und Nähe zum Himmel. Kein Wunder daher, dass es vergleichsweise lange dauerte, bis der Ort sich dem Tourismus öffnete – es gab einfach keine Verkehrsanbindung.
Noch in den 1920er-Jahren war das Sträßchen aus Schladming herauf einspurig und nur von neun bis zehn Uhr morgens für die Bergfahrt freigegeben. Und selbst dann hatte der Fahrer die Auflage, bei entgegenkommenden Fuhrwerken den Motor abzustellen, um die Pferde nicht zu verschrecken. Heute ist das ein wenig anders. Die Straße in die Ramsau ist gut ausgebaut. Eines ist aber gleich geblieben: Ist man erst einmal heroben in dem kleinen Paradies, dann will man nicht mehr weg.
Die Ramsau am Dachstein: Ganz nahe vor Augen
»Die Austriahütte bietet die Möglichkeit zu vielen mühelosen Excursionen auf den Almböden am Fusse der grossen Dachsteinmauer. Letztere zählen zu den lohnendsten Partien, welche es in den Ost-Alpen gibt, da sie selbst ganz schwachen Bergsteigern die überwältigende Grösse des Hochgebirges ganz nahe vor Augen führen«, schrieb Georg Geyer voller Begeisterung in seinem Führer durch das Dachsteingebirge von 1886.Ob »ganz schwach« oder gut zu Fuß – der erste Stock über der Ramsau am Dachstein ist für alle schön. Dieser erste Stock liegt etwa auf 1700 bis 1900 Metern, zwischen dem Ramsauer Hochtal und dem Wandfuß von Dachstein & Co. Auf weiten Almflächen grasen Kühe, Jungvieh und Pferde. Wanderwege verbinden die Almen. Einen der schönsten haben wir für heute vorgesehen: den Bibelsteig.
Vom Frühstückstisch aus können wir loslegen. Das erste Ziel heißt – ganz im Sinne Georg Geyers – Austriahütte: Dort begann im Jahr 1880 die alpine Hüttenerschließung der Dachsteinregion. Vorbei an alten Höfen und an den farbenfrohen Ahornriesen durchqueren wir das Hochtal in die oberste westliche Ecke. Nach einer Stunde Aufstieg stehen wir am 1724 Meter hohen Brandriedl. Dichter Peter Rosegger hat ihn den »Betschemel vor dem Altar Dachstein« genannt. Tatsächlich sitzt man in genau dem richtigen Abstand zur riesigen Wandflucht des Dachstein-Massivs. Dass bei diesem Anblick Dichter und nüchterne Führerautoren ins Schwärmen kommen, wundert nicht. Eine scheinbar senkrechte Kalkmauer schließt das Wiesengelände ab. Torstein, Mitterspitz, Dachstein, Dirndln und Hunerkogel bilden ein vier Kilometer langes Wunderwerk aus Felsplatten, Wül-
sten, Verschneidungen und Bändern. An der höchsten Stelle sind es tausend Meter Wandhöhe. Das Herz des Kletterers macht einen Freudensprung bei der Vorstellung des rauen Gesteins unter den Schuhsohlen und der luftigen Seillängen.
Vorbei an der Austriahütte und weiter zur Türlwandhütte geht es. Letztere hätten wir auch auf der Dachsteinstraße erreichen können, die hier, an der Talstation der Dachstein-Gletscherbahn, endet. Aber zu Fuß war es schöner.
Begleitet von Karabiner-Klimpern
Zur Dachstein-Südwandhütte hinauf und ein Stück weiter auf dem Höhenweg fühlen wir uns wie von einer Schaf- oder Ziegenherde begleitet. Leises Bimmeln und Klimpern hinter uns. Keine Glöckchen sind es jedoch, sondern die Karabiner der Klettersteiggeher. Vor zwölf Jahren wurde die Dachstein-Südwand durch den Johann-Klettersteig hinauf zur Seethalerhütte erschlossen, es folgte die Erweiterung »Anna«. Beide zählen sie zu den schwierigen Ferrate (D–E). In den nächsten Tagen wollen auch wir auf diesem Weg hinauf ins Dachgeschoss. Wenn wir noch den Schulteranstieg auf den Dachsteingipfel anschließen, haben wir drei der insgesamt 19 Klettersteige der Ramsau am Dachstein begangen.
Ganz so mühelos, wie es uns Geyers Dachsteinführer versprochen hat, wird der Weg nicht. Aber wir verzeihen ihm gern. Wunderbar ist der Blick hinauf zum Dachstein, auf Schladminger und Hohe Tauern sowie die Berchtesgadener Alpen. Über Windlegerkar und Sulzenhals wandern wir zum Rinderfeld, einer einzigartigen Hochfläche mit Lärchen, kleinen Bächen und Felsblöcken. Da erst verlassen wir den »Bibelsteig«, der nun über den Steiglpass weiter in die Gosau ginge. Zu Zeiten der Gegenreformation hatten die lutherischen Ramsauer Bibeln und andere Schriften von der Nordseite des Dachsteins geschmuggelt und dazu diesen Pfad übers Gebirge genutzt.
Kali – Kala – Kalalala
Am Abend schwärmen wir der Urlauberfamilie in unserer Pension von Austriahütte und Südwandhütte vor. Von Dachsteinblick und zahmen Murmeltieren an der Bachl-alm. Von Blumenwiesen und knorrigen Bäumen am Rinderfeld. Nele und Daniel aber haben mit ihren Eltern morgen schon andere Pläne. »Kali – Kala – Kalalala« heißt ihr Programm. Je nach Alter und Musikgeschmack singen sie es auf die Pipi-Langstrumpf-Melodie oder als Rap.
Kali und Kala sind zwei Kinderklettersteige am Sattelberg, am östlichen Rand der Ramsau. Dort lebt auch der »Ram-saurier«. Den beschreiben uns die beiden sofort. Und ereifern sich in einem Fachstreit über Dinosaurier und Ramsaurier …
Auch die anderen Ferientage haben Nele und Daniel verplant. Schwimmbad, Ponyreiten (Neles Wunsch), Hochseilgarten, die Simpsons, die Sommerrodelbahn und die Mühle anschauen (Daniels Wunsch). Wenn nicht gerade der Nachtisch käme, würden uns die Geschwister noch mehr aufzählen: Langeweile Fehlanzeige!
Bis fast auf dreitausend Meter reicht das Dachgeschoß hinauf. Der Hohe Dachstein ist mit seinen 2995 Metern nach der Parseierspitze der zweithöchste Gipfel der Nördlichen Kalkalpen, aber unvergleichlich einfacher zu erreichen. Gemeinsam mit Ausflüglern, die den Ausblick von der Bergstation genießen wollen, Langläufern in Rennanzügen, Kletterern, Klettersteiggehern und einer Bergsteigergruppe mit Riesenrucksäcken schweben auch wir am nächsten Morgen mit der Dachstein-Gletscherbahn zum Hunerkogel hinauf. Erstes Tagesziel: der Dachstein. Auf einer einfachen Pistenraupentrasse queren wir am oberen Rand des Hallstätter Gletschers. Unter uns ziehen Langläufer ihre Runden auf der Gletscherloipe. Im »Eispalast« im Gletscherinneren empfangen die Simpsons und andere Eisfiguren die Besucher. Die meisten Gäste aber machen sich auf den Weg Richtung Seethalerhütte. Für viele ist es das erste Mal auf einem Gletscher. Entsprechend viel »huch« und »hach« ist da zu hören.
Die Seethalerhütte ist schon deshalb ein Muss, weil man von hier einen wunderbaren Tiefblick in die Dachstein-Südwand hat. Zwischen angenehm schaurigem Grusel und begeisterter Routeninspektion liegt die Gefühlswelt der Betrachter.
Die Ramsau: Das Dachgeschoss
Vom Gipfel aus überblicken wir einen Teil des Weiterwegs: hinüber zum Koppenkarstein und dann über das riesige Karstplateau »Auf dem Stein«. Kilometerweit erstrecken sich Felskuppen und Latschendickicht, nur wenige Steige berühren oder queren dieses Phänomen. Ohne Steig wäre man gänzlich verloren. Vom Guttenberghaus kann man anschließend absteigen in die Ramsau und so die Runde schließen. Oder man bleibt über Nacht und besucht anderntags den Eselstein-Klettersteig. In diesem Sommer ist zudem am zweiten Hüttenberg, dem Sinabell, ein neuer Klettersteig entstanden. Wer es gänzlich still mag, durchstreift die Gegend östlich des Guttenberghauses. Höllsee, Grafenbergalm, Nothgasse – es gibt wenige Gebirgsgegenden in den Nordalpen, die so einsam sind. Wieder zurück in der Ramsau am Dachstein, sind wir mitten im Heute. Nele und Daniel sorgen dafür: Ihr »Kali-Kala-Kalalala« ist schon von weitem zu hören. Für sie trifft jedenfalls zu: Wer erst einmal hier ist, will nicht mehr weg.