Bergsteigen in der Jungfrau-Region | BERGSTEIGER Magazin

Bergsteigen in der Jungfrau-Region

Die Jungfrau ist nicht nur ein interessantes Sternzeichen, sondern auch ein besonders anziehender Berg: der erste 4000er, der in der Schweiz bestiegen wurde und zwar am 3. August vor 200 Jahren. Von Iris Kürschner (Text & Fotos)

 
Wandern vor gigantischer Kulisse – die Jungfrau dominiert das Panorama beim Aufstieg der beiden Wanderer aus dem Lauterbrunnental © Iris Kürschner
Wandern vor gigantischer Kulisse – die Jungfrau dominiert das Panorama beim Aufstieg der beiden Wanderer aus dem Lauterbrunnental
Männlichen, Wixi, Bumps, Busenalp – kuriose Ortsbezeichnungen rund um die Kleine Scheidegg. Hat womöglich die Jungfrau die Phantasie angeregt? »Zauberberg der Männer«, wie es so schön im Untertitel der Bergmonographie von Daniel Anker heißt. Dabei könnten es Frauen gewesen sein, die hinter der Jungfrau stecken. Denn die zu ihren Füßen liegenden Alpgründe waren im Besitz des Nonnenklosters Interlaken und schon vor der ersten schriftlichen Erwähnung des berühmten Berges anno 1577 als »Jungfrauen Alpen« bezeichnet. Gerne wird aber auch die weiße Reinheit angeführt, die zur Namensbezeichnung inspiriert haben könnte. Männerphantasien eben. Die Frauen standen damals noch hinterm Herd und Waschzuber. Obwohl, es gab schon ein paar Ausbrüche aus der festgefahrenen Welt. Im Jahre 1809 bestieg die erste Frau mit dem hübschen Namen Marie Paradies den Mont Blanc. In der Schweiz bewunderte man erst einmal von unten. Die Gipfelgiganten, die zuvor Furcht einflößten, hatten seit Albrecht von Hallers Alpengedicht 1729 ein neues Bild bekommen: schrecklich und schön zugleich. Künstler, Musiker und Literaten klinkten sich ein und schwärmten, was das Zeug hielt, von der Urgewalt der Natur, die sich im Berner Oberland auf das Eindrücklichste entfaltet. So kam es, dass die monströse Felsmauer mit dem Dreigestirn von Eiger, Mönch und Jungfrau, die man zudem bis weit ins Ausland sieht, beispielsweise von den Höhen des Schwarzwaldes oder der Vogesen, berühmt wurde, lange bevor das Matterhorn in die Schlagzeilen geriet. 

»Madame Meyer« wird First Lady der Schweiz

Der Seidenbandfabrikant Johann Rudolf Meyer aus Aarau war leidenschaftlicher Gebirgsliebhaber und gab ein Kartenwerk in Auftrag, das erste, das die gesamte Schweiz umfassen sollte. Dieser Meyer-Weiss-Atlas, oder auch Atlas Suisse, entstand in den Jahren 1786 bis 1802 und die ganze Familie Meyer half mit. Hatte Meyer senior bereits den Titlis und das Hangendgletscherhorn bestiegen, wollten sich die Söhne an die Erforschung der Berner Oberländer Eisregion wagen und die Jungfrau besteigen. Dabei nahmen sie einen weiten Umweg, quasi rund um das heutige UNESCO-Welterbe vom Grimsel über Aletsch-, Oberaletschgletscher und Lötschental, schien doch der Weg von Norden unüberwindbar. Am frühen Nachmittag des 3. August 1811 standen sie mit zwei bewährten Gamsjägern auf dem schmalen Eisgrat der Jungfrau. Eine Heldentat, wenn man ihre dürftige Ausrüstung, weder Pickel noch Steigeisen usw., bedenkt. Doch die Anerkennung im Tal blieb aus, sah man doch ihre in den Schnee gerammte Gipfelfahne nicht.

Um die Familienehre zu retten, zog ein Jahr darauf die ganze Familie erneut gen Jungfrau und Gottfried, der Sohn von Rudolf junior, schaffte es am 3. September 1812 bis zum Gipfel und positionierte die Fahne so, dass sie nun auch von unten sichtbar war. Aus der unberührten Jungfrau wurde im Volksmund »Madame Meyer«. Lange Jahre blieb es still um die schöne Lady. 1828, 1841; Gottlieb Samuel Studer, der später die Gründung des Schweizer Alpenclubs anregte, rammte am 14. August 1842 mit seiner Seilschaft die fünfte Gipfelfahne in den Schnee. Nicht ohne Humor: Sie hatten die Schürze der Wirtin im Ausgangsdorf Niederwald entwendet. In »Über Eis und Schnee« geht er ausführlich auf die Erstbesteigungen der Jungfrau ein: »Am 20. August 1863 wurde die Jungfrau zum ersten Mal von einer Dame bestiegen. Die Gesellschaft bestand aus Hrn. Winkworth aus England und seiner Gemahlin…« Im Januar 1874 schaffte Meta Brevoort mit ihrem Neffen Coolidge die erste Winterbegehung. Seit der Eröffnung der Jungfraubahn 1912 ist es gar »Halbschuh-Touristen« möglich, dem weißen Busen ganz nah zu sein. Zumindest von der Aussichtsterrasse des höchsten Bahnhofes Europas. Top of Europe: 3453 Meter über dem Meer. Da packt nicht nur Asiaten der Schwindel. Am 3. August 2011 werden einheimische Profialpinisten die Originalroute in historischer Ausrüstung begehen, um den Erstbesteigern ihre Ehre zu erweisen. Mit Bergsteigerprominenz aus allen fünf Kontinenten, die in Sterntouren aufsteigen, werden sie sich am Gipfel treffen. Der Höhepunkt einer Jubiläumswoche, die vom 30. Juli bis 7. August mit zahlreichen Veranstaltungen die Jungfrau in den Mittelpunkt stellt. 

Ruhe im Sturm in der Jungfrauregion

Mit heute rund 1,8 Millionen Übernachtungen pro Jahr gehört die Jungfrauregion zu den gefragtesten Urlaubszielen der Schweiz. Doch bekanntlich werden von der Masse nur die Klassiker abgeklappert. Schon 1859 muss das ähnlich gewesen sein, als sich am 9. August der St. Galler Alpenpionier Weilenmann ins Hintere Lauterbrunnental aufmachte, flüchtend vor der »Zudringlichkeit der Wegelagerer, welche in Gestalt von Führern und Sesselträgern, Erd- und Himbeerverkäufern, Alphornbläsern und Echoerweckern, Marqueurs de bâtons, Schnitzereien- und ›Souvenirs du Staubbach‹- Händlern«. Dann aber »überrascht es angenehm, wenn er, kaum das Dorf und den Staubbach im Rücken, sich unversehens von der hehren Stille eines unentweihten Alpenthales umgeben sieht.« Und weil das Hintere Lauterbrunnental mit ins UNESCO-Welterbe aufgenommen wurde, wird das auch so bleiben. Das Tal der 72 Wasserfälle, von Goethe poetisch verewigt, zeigt seine besondere Magie im Bergfrühling. Mächtig donnern dann die Holdri- und Schmadribachfälle. Kraftorte, an denen man nicht selten ganz alleine steht. Nur zu Fuß erreichbare Berghotels sorgen für nostalgische Übernachtung. Obersteinberg, das höchstgelegene, hat sich als Kerzenhotel einen Namen gemacht. Abenteuerlich ist der Weg zur Silberhornhütte, ein gewagter Gang durch Felsabstürze. Trittsicher und schwindelfrei muss man sein. Oben in der archaischen Hütte auf dem Sattel zwischen Schwarzmönch und Jungfraumassiv darf man sich dann fühlen wie ein Alpenpionier. Nur hatten diese es nicht ganz so bequem. Das Feuerholz ist bereits vorhanden. Idealerweise hat man ein Käsefondue mit im Rucksack. 

In Spitzenposition

Zugegeben, die Schau vom Panoramaweg Schynige Platte – First auf die Berner Gipfelparade ist eine Wucht. Aber an sonnigen Wochenenden kann die Hölle los sein. Warum nicht ein Hintertürchen nehmen: Vom Bachsee führt ein stiller Pfad ins Hiendertelli und zwischen Wildgärst und Schwarzhorn hindurch zum verträumten Hagelseeli. Oder ein Vordertürchen nehmen, zum Beispiel den Höhenweg »2200« von der Bussalp zum Bachsee. Auf dem Faulhorn thront ein legendäres Berghotel. »Ich bin im höchsten Wirthshaus Europas«, schreibt der deutsche Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy an seine Schwester. »Hu, wie mich friert! Es schneit draußen mit Macht.« Es ist der 15. August 1831. Schnee im Sommer ist auch heute noch möglich, aber immer seltener. Die Berge zerbröseln, weil der Permafrost die Steine nicht mehr hält. Der dafür sensationslüsternste Schauplatz: Das Bäregg. Dort kann man gemütlich auf der Terrasse am »Schümli-Pflümli« nippen und immer wieder herunter krachendes Gestein beobachten.

Ohne Angst; man sitzt an einem sicheren Platz, nachdem das Vorgängerhaus Stier egg Rutschungen zum Opfer gefallen ist. Heute zählt die Route zum Bäregg zu einem der sieben Klimapfade der Region und das iPhone funktioniert als Klimaguide. Auch von Boneren hat man einen Blick auf das Drama, nur kennt den Weg kaum jemand. Wildromantisch führt er hinauf zum Berghaus Alpiglen, von wo man sich in den Eiger- Trail einfädeln oder noch spektakulärer über den Rotstock-Klettersteig mit dem Eiger auf Tuchfühlung gehen kann. Tief unten breiten sich die herrlichen Wälder des Arvengarten aus, wo sich die Blaue Glunte versteckt, ein Idyll mit glasklarem Forellenweiher. Nicht leicht hinzufinden – ein paar Geheimnisse müssen bleiben, jungfräulich eben. 
Bergsteigen in der Jungfrau-Region, von Iris Kürschner
 
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