Mut und Entschlusskraft haben Günter Sturm schon bei seiner ersten Kletteraktion ausgezeichnet: In der Nähe von Eichstätt, wo er am 9. Januar 1940 auf die Welt gekommen war und aufwuchs, beobachtete er mit seinem Freund Hartwig Bauer am Burgstein im Altmühltal eine Seilschaft, die sich an dem 40 Meter hohen Felsen nach der Durchsteigung des „Dolomitenwegs“ (V) ins Wandbuch eintrug. Das imponierte den beiden Buben dermaßen, dass sie die Route ohne Seil hinaufkletterten, ihre Namen im Buch verewigten und wunderbarerweise wieder in den Talboden hinunterkraxelten.
Rückblickend könnte man meinen, dieser Start im steilen Fels sei ein bodenloser Leichtsinn gewesen. Leichtsinn allerdings lässt sich in Günter Sturms langem Bergsteigerleben nicht ausfindig machen, sondern ein ausgeprägter Realitätssinn und ein starkes Verantwortungsgefühl, ein großer Pioniergeist und ein geradezu visionäres Talent, was die Entwicklung des Bergsteigens in den vergangenen sechs Jahrzehnten betrifft.
Der kühne Ausflug zum Wandbuch des Burgsteins in den 1950er-Jahren beeindruckte den jungen Günter derart, dass er sich an die DAV-Sektion Eichstätt wandte und von ihr gefördert wurde, was alpines Basiswissen und auch das Ausleihen von Ausrüstung betraf.
Mit 16 unternahm er die ersten Alpentouren, im Kaisergebirge den »Heroldweg« und die Fleischbank-Ostwand. Nürnberger Kletterer nahmen ihn mit in die Dolomiten, wo an den Drei Zinnen Routen wie die „Demuthkante“ oder der „Preußriss“ glückten. Einer seiner Lehrmeister war das Klettergenie Lothar Brandler, der damals in Neuburg an der Donau lebte.
Seine große Sportleidenschaft gab nach dem Abitur das Studienfach vor: Günter studierte Sport, war als Sportlehrer an verschiedenen Münchner Schulen tätig und machte später in Köln sein Diplom. Längst gehörte er zur Gilde der Extremkletterer, als er sich 1962 zur Ausbildung als Berg- und Skiführer anmeldete. Im gleichen Jahr trat er auch dem Münchner Alpenklub Berggeist bei, wo er arrivierten Kletterern wie Martin Schließler, Herbert Wünsche, Dolf Meyer, Hans Laub, Dieter Hasse und Pit Schubert begegnete. 1965 fungierte er ein Jahr lang als Vorstand der kleinen DAV-Sektion. Mitte der 1960er-Jahre ließ Günter sich von seiner Sportlehrertätigkeit beurlauben und war ein ganzes Jahr lang als Bergführer unterwegs, unter anderem für den „Fahrtendienst des Deutschen Alpenvereins“.
Der „Kletterbrocken“ – die weltweit erste Kletteranlage
1967 übernahm er bei Sport-Scheck in München die Leitung der Bergsteigerschule und war auch Chef der „Biwakschachtel“, der modern konzipierten Bergsportabteilung des Hauses. Für den traditionsreichen Münchner Klettergarten in Buchenhain konnte er sich nicht so recht begeistern und hatte die Idee für den ersten künstlichen Beton-Kletterbrocken, der bald in der „Allwetteranlage Nord“ von Sport Scheck errichtet wurde. Zur Einweihung organisierte Günter Sturm ein Sicherheitssymposium mit illustren Teilnehmern aus der Bergsteigerszene und mit einer Berichterstattung in einigen Medien. Dabei wurde erstmals die dynamische Sicherungsmethode »Karabiner-Kreuzsicherung« vorgestellt. Der Deutsche Alpenverein hatte zu dieser spektakulären Veranstaltung leider keinen Vertreter entsandt, da man für den »Werberummel eines Sporthauses« kein Verständnis zeigte (diesen Satz muss man 2020 zweimal lesen!). Toni Hiebeler, der als Chefredakteur des „Alpinismus“ die neue gedankliche Ausrichtung der Bergsteigerszene forcierte, kritisierte den DAV heftig für dessen ignorantes Verhalten; immerhin begriff man dann bei den Bergsteigerfunktionären doch, dass eine neue Zeit begonnen hatte und gründete bald darauf den Sicherheitskreis. So gehörten zu dessen Gründungsvätern eben nicht nur Toni Hiebeler, Manfred Sturm sowie Dieter Hasse und Pit Schubert, sondern indirekt auch der Vordenker Günter Sturm.
Neue Ideen, moderne Ausbildung, neue Strukturen
1969 wechselte Günter dann von Sport-Scheck zum Deutschen Alpenverein und übernahm die Leitung des 1957 ins Leben gerufenen „Fahrtendienstes“. Im gleichen Jahr wurde auch der Deutschen Bergführerverband gegründet, mit Anderl Heckmair als erstem Vorsitzenden. In der Kontroverse um die Ausbildungskompetenz, die sich zwischen DAV und Bergführerverband entwickelte, vermittelte Günter Sturm erfolgreich mit seiner großen Kompetenz und seinem Sinn für pragmatische Problemlösungen.
In seiner ersten Entscheidung als DAV-Angestellter verpasste Günter Sturm dem Fahrtendienst einen neuen Namen – »Berg- und Skischule des Deutschen Alpenvereins«. Als nächstes krempelte er die Berg- und Skiführerausbildung um, modernisierte sie auf der Basis moderner Ausbildungsrichtlinien, und brachte mit seinem Freund Fritz Zintl erste, revolutionäre Lehrpläne heraus. Die Berg- und Skischule bot 1969/70 neben Kursen und Hochtourenwochen in den Alpen bereits attraktive Auslandsbergfahrten an. Auch da konnte Günter Sturm seine Erfahrungen aus erster Hand einbringen: Karakorum oder Himalaya, der Chef der Berg- und Skischule probierte das, was er später ins Programm nahm, zunächst einmal selber aus – nicht ohne sein Diktiergerät.
Begleiter waren bei diesem Neuaufbau Günters Freunde Martin Schließler und Erich Reismüller, aber auch die Bergführer-Kollegen Arnold Hasenkopf oder Hermann Wolf. Der Nepalkenner Christian Kleinert (leitete das deutsche Entwicklungshilfeprojekt in Bhaktapur) wurde zum wichtigen Berater, und 1970 tauchte im Katalog erstmals der in Mitteuropa unbekannte Begriff »Trekking« auf. Günter Sturm unterstütze mit seinem Know-how die Firma Koflach beim Bau des ersten Trekkingschuhs, und für das Erscheinungsbild der Berg- und Skischule holte er den bergsteigerisch beschlagenen Grafiker und Designer Franz Leander Neubauer in sein Team. Der prägte mit seinem unverwechselbaren Stil für viele Jahre die »Corporate Identity«.
Große Expeditionen
Günter Sturms Tatendrang beschränkte sich natürlich nicht auf den Job am Schreibtisch. Die „alpine Tat“ kam nicht zu kurz und der Spielplatz waren die Berge der Welt: So glückte ihm 1973 mit George Aikes die Erstbesteigung des Cerro Moreno (heute Cerro dos Cumbres, 3249 m) überm patagonischen Inlandeis über einen 1400 Meter hohen Grat mit Felsschwierigkeiten bis VI und steilem Eis. Es folgte die erste Ski-Überschreitung des Mount McKinley innerhalb von zehn Tagen mit Erich Reismüller, Ekke Gundelach und Lutz Freier und 1975 der Yalung Kang, der Kangchendzönga-Westgipfel (8438 m). Fast die komplette Mannschaft konnte – auf neuer Route – den Gipfel erreichen. 1977 stand Günter auf dem Lhotse (8511 m), 1980 als Leiter der Ersten Deutschen Tibet-Expedition auf dem Gipfel der Shisha Pangma (8013 m). 1982 ging es auf teilweise neuer Route auf den Gasherbrum I (8068 m), und zwei Jahre später klappte es mit dem Manaslu (8156 m) über die Normalroute. Auch bei diesen Unternehmungen fungierte Sturm als Expeditionsleiter. Zusammen mit Michl Dacher und Fritz Zintl erhielt er in Bonn das Silbernen Lorbeerblatt, die höchste Auszeichnung für deutsche Sportler.
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Reisen – sozialverträglich und umweltbewusst
Nach der Umwandlung der Berg- und Skischule in eine „kommerzielle DAV-Tochtergesellschaft“ 1977 folgte 1984 eine weitere Umbenennung in „DAV Summit Club – Bergsteigerschule des Deutschen Alpenvereins“. Damals konnte man sich noch über den Anglizismus aufregen, aber Günter Sturm meinte, dass das alljährliche Trekkertreffen in Berchtesgaden, zu dem Tausende von Kunden, Bergführern, Reiseleitern und Agenten anreisten, deutlich eine Art »Club-Atmosphäre« ausstrahle. Dieser moderne DAV Summit Club war erfolgreich und warf durchaus auch etwas Glanz auf den Verein.
Und Günter Sturm hatte nicht nur einen guten Geschäftssinn, sondern erahnte auch Trends. Summit-Club-Projekte bemühten sich erkennbar um Sozialverträglichkeit und Umweltbewusstsein. Angesichts des Raubbaus an Nepals Wäldern wurden die Partner dazu verpflichtet, mit Kerosin statt mit Holz zu kochen, die Träger wurden ordentlich ausgerüstet, verpflegt, versichert und bergsteigerisch ausgebildet, das Lodge-Trekking entwickelt. Der Summit Club war nicht nur der größte Arbeitgeber für deutsche und österreichische Bergführer geworden, sondern auch ein beachtlicher für Einheimische vor Ort (Trekking-Guides). Mehr als 2000 Kunden reisten zu Hoch-Zeiten jährlich mit dem Summit Club nach Nepal, ein kleiner Teil davon versuchte sich dabei auch – vielfach mit Erfolg – an anspruchsvollen 8000er-Gipfeln.
Auch als Höhenbergsteiger verfolgte Günter Sturm mit großem Interesse die Entwicklung des Sportkletterns und wagte sich 1988 auf ein völlig neues Terrain: In Köln veranstaltete der Summit Club den ersten internationalen Kletterwettbewerb an einer künstlichen Wand in Deutschland. Das Interesse in der „Community“ war groß, mit Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus ganz Deutschland, sowie aus den „großen Kletternationen“ Belgien und Holland. Die spektakuläre „Action“ und die Stimmung lockten sogar Zuschauer an, die noch nie von diesem Sport gehört hatten. Auch zwei junge Burschen aus dem Chiemgau waren gekommen (Thomas und Alexander Huber) und bestaunten Gerhard Hörhager aus dem Zillertal, der als Star und hoher Favorit antrat, dann aber sensationell dem „Nobody“ Guido Köstermeyer unterlag.
Der Spruch „Der Weg ist das Ziel“ wird seit Jahren inflationär zitiert, und eigentlich immer als eine Weisheit aus einer fernöstlichen Denkschule angesehen, Laotse oder Konfuzius werden als Väter des Gedankens genannt. Günter Sturm, der die fünf Worte als Slogan des DAV Summit Club verwendete, hatte sich bei dieser Wahl allerdings an einem Text des Berg- und Skipioniers Henry Hoek orientiert, der in dem Buch „Wege und Weggenossen“ geschrieben hatte: „(…) verstehen und billigen wird meine Ansichten und mein Leben nur, wer mit mir im Wandern ein Sinnbild des Lebens sieht, nur wer, wie ich, wandert um des Wanderns und nicht um des Zieles willen. (…) nur wem sein Blut mit jeder Welle flüstert: ›Mein Weg ist mein Ziel‹, und wer so denkt und fühlt, wird mir Recht geben und kann mich verstehen.“
Als erfahrener und erfolgreicher Alpinist wusste Günter Sturm, dass „eine Auslandsbergfahrt oder Expedition auch ohne Gipfel eine wertvolle Erfahrung und ein großartiges Erlebnis“ ist. „Der Gipfel ist nicht alles. Deshalb habe ich ›Der Weg ist das Ziel‹ – gelesen bei Henry Hoek – als unsere Reisephilosophie eingebracht.“
Günters persönlicher Weg ist bemerkenswert und seine Innovationskraft in Bezug auf die Bergsteigerei der letzten 60 Jahre ist den allermeisten Bergsteigern und Bergsteigerinnen nicht bewusst. Aber das stört einen großen Geist wie Günter nicht. Er genießt das Leben mit seiner Familie, „arbeitet“ am nahen Golfplatz an seinem Handicap und genießt sein Glück.
Alles Gute zum 80. Geburtstag!
Basis dieser Laudatio ist ein Artikel, den Horst Höfler 2009 im Bergsteiger veröffentlichte. Etliche Passagen sind wörtlich übernommen.