Bergnot

Ulrich Liedholz aus Berlin hat uns seine Erzählung "Bergnot" zur Veröffentlichung zugesandt. Nachdem wir sie unseren Lesern präsentiert hatten, schrieb Jochen Biederer eine Fortsetzung der Erzählung. Beide Geschichten lesen Sie hier.
 
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In Bergnot
Sie saßen unterhalb der Gratkante und warteten auf den Helikopter. Dreißig Meter weiter unten lag der Engländer. Sie hatten ihn so gut es ging verbunden, in eine Aluminiumfolie gehüllt und auf eine Steinplatte gebettet. Dann waren sie nach oben gestiegen, um besser nach dem Helikopter Ausschau halten zu können. Erwin stand auf, nahm die Sonnenbrille ab, kniff die Augen zusammen und blickte um sich. Die Schneekuppen der umliegenden Berggipfel glänzten in der Nachmittagssonne. Das tief eingeschnittene Tal lag im Dunst. Es war ein schöner, windstiller Tag. Nur das Stöhnen des Engländers war zu hören. »Verdammt!« fluchte Erwin, setzte sich wieder neben Hubert und zog aus seiner Hemdtasche Zigaretten und Streichhölzer heraus, zündete sich eine Zigarette an und warf das abgebrannte Streichholz in die Tiefe. Mit leerem Blick sah er auf den Rauch, der von der Zigarettenspitze kerzengerade aufstieg.

Hubert nahm die Wollmütze ab und fuhr sich durch das strähnige, sonnengebleichte Haar. Mit dem linken Daumennagel schabte er über seinen rotbraunen Stoppelbart. Seine Nase war von der Sonne verbrannt. Hautfetzen lösten sich.
»Was macht denn der Peter so lange« , knurrte Erwin und schnippte die Asche neben seine Stiefel, »der müsste doch schon längst unten bei der Hütte sein.« Er sog den Rauch tief in sich hinein und stieß ihn erst nach einer Weile langsam und stoßweise wieder aus.

»Der Schnee ist weich«, gab Hubert, der Schmächtigere der beiden, zurück, »und er muss allein durch das steile Couloir.« Erwin trat die Zigarette aus und erhob sich wieder. »Ich geh mal zum Engländer runter... « Hubert schnürte seinen gelben Rucksack auf und zog eine Thermoskanne heraus. »Vielleicht trinkt er jetzt was«, sagte er und reichte sie Erwin, »und paß auf den Steinschlag auf.«

Erwin setzte die Sonnenbrille auf und machte sich vorsichtig an den Abstieg. Sein kariertes Baumwollhemd leuchtete weißrot, bis er hinter einer Felsnase verschwand. Hubert setzte seine Mütze wieder auf. Sie befanden sich auf fast viertausend Metern Höhe, und die Sonne brannte wie verrückt. Gestern hatten sie in der überheizten und überfüllten Gaststube der Schutzhütte an einem Tisch gesessen, Peter, Erwin, Hubert, der Engländern und sein halbwüchsiger Sohn, und hatten eine heiße Nudelsuppe geschlürft. Der Engländer hatte gelacht. Seine weißen Zähne hatten sich von dem braunen, wettergegerbten Gesicht abgehoben. Er hatte von Edward Whymper und Chris Bonington geschwärmt. Nächste Woche wollten sie zum Montblanc. Der Junge hatte mit ernstem Gesicht die Suppe gelöffelt und geschwiegen. Er hatte hellblondes, kurzes, streng gescheiteltes Haar. Erwin erreichte den Engländer. Er war bis zum Hals in die silberne Alufolie eingewickelt. Seine Lippen waren trocken, aufgesprungen und blau. Er trug einen alten, zerkratzten Helm und sah aus, als ob er schliefe. Erwin ging neben ihm in die Hocke und hielt den Mund dicht an sein Ohr. »Hello«, flüsterte er. Der Engländer reagierte nicht. »Hello«, versuchte es Erwin noch einmal, diesmal lauter.

Der Engländer schlug die Augen auf. »Harry«. kam es leise über seine Lippen. Er bewegte den Mund nicht. Und noch einmal: »Harry.«

Erwin schob seinen Oberkörper nach vorne. Er reckte den Hals, so dass sein Gesicht nun direkt über dem des Engländers war. Der Engländer sah ihm in die Augen. Erwin wich dem Blick nicht aus. »He is all right«, sagte Erwin ruhig. »Where is Harry?« Die Stimme des Engländers war kaum noch vernehmbar. Er konnte sich nicht bewegen. Für einen Moment war nur das Weiße in seinen Augen zu sehen. Dann schloß er sie wieder.

Erwin schraubte den Deckel der Thermosflasche ab und füllte Tee in den Becher. Er hielt ihn an den spröden Mund und ließ Tee über die Lippen laufen. Aber der Engländer trank nicht. Erwin kippte den Tee aus und schraubte die Thermoskanne wieder zu. Er sah auf die silbrig glänzende Folie. Kein Windhauch bewegte sie. Vorsichtig kletterte er wieder zu Hubert hinauf.

»Und?« fragte Hubert. als er bei ihm anlangte. Erwin gab ihm wortlos die Thermosflasche zurück. blieb neben ihm stehen und blickte in die Ferne. Vor ihnen ragte steil und scharf das schwarze Felsdreieck des Gipfels auf. Hubert schob die Thermoskanne in den Rucksack und schnürte ihn zu. »Verdammt«. sagte Erwin, »der Junge war alles für ihn.« Er sah Hubert nicht an. Er blickte zum Gipfel hinauf und zündete sich eine Zigarette an. Von weit her hörte er das Summen und Brummen eines näherkommenden Helikopters. Erwin blies den Rauch aus und schüttelte den Kopf.

Fortsetzung von BERGSTEIGER-Leser Jochen Biederer:  

Erleichtert atmet Erwin durch, er ist froh, endlich das hilfebringende Geräusch des Hubschraubers zu hören. Stunden hat es gedauert, seit dem späten Vormittag warten sie schon auf Hilfe. Lange hätte der Engländer sicher nicht mehr durchgehalten. Sein Puls wurde in den letzten Stunden immer schwächer, die Farbe im Gesicht wurde fahler. Nur mit Glück würde er es überleben - zu schwer sind seine inneren Verletzungen. In einem weiten Bogen fliegt der Hubschrauber der Rega um den Gipfel, um sich einen Überblick der Lage zu verschaffen. Aufgeregt hebt Erwin seine Arme um ein Y zu formen - das internationale Zeichen, dass man Hilfe braucht.

Doch das wäre nicht nötig gewesen, Peter hatte ihnen schon am Hüttentelefon genaue Details erklären können. Die Hütte hat er nach einem Gewaltmarsch durch sumpfigen Firnschnee, der in der Hitze der Mittagssonne durchweichte, endlich erreichen können. Völlig apathisch von der Anstrengung hat er die Herberge betreten, der Schweiß lief ihm über das Gesicht.  Ganze fünf Stunden hat er für das Abklettern durch das gestufte Gelände und die anschließende Querung des immer wieder kalbenden Gletschers gebraucht, der den Berg von der Hütte trennt. Dieser Gletscherabbruch ist gefürchtet, es sind immer wieder Unfälle passiert. Zu stark schiebt die riesige Eismasse von oben über die Geländekante. Peter steuerte direkt zum Hüttenwirt, der sofort erkannte, dass etwas passiert sein muss. Der Wirt führte ihn schnurstracks zum Funktelefon und Peter berichtete schwer atmend, was vorgefallen war. 

Hatte es doch noch so vielversprechend am Morgen begonnen: Erwin, Hubert und Peter gingen noch mit den Engländern gemeinsam zur dunklen Nordseite des Berges. Im fahlen Morgenlicht war der Weg zum Bergschrund nicht leicht zwischen den gähnenden Gletscherspalten zu finden. Unheimlich drohend stand die senkrechte Granitwand vor Ihnen. Die Höhe der Wand tauchte den ganzen Gletscher in Schatten. Jetzt wo Peter seine Gedanken sortiert, fällt ihm ein, dass ihm da schon auffiel, dass der junge Engländer etwas unsicher gewirkt hat beim Gehen mit den Steigeisen. Doch da dachte er sich noch Nichts.

Erst später, als sie in der dritten Seillänge der Linceul- Route zügig nach oben kamen, beobachteten sie die beiden in der Colton/Macintyre-Route, wo sie nur schleppend vorankamen. Minuten vergingen bis sie Ihren Standplatz umständlich einrichteten, ständig hallten Seilkommandos durchs Tal. Ein Zeichen dafür, dass sie der Route nicht gewachsen waren. Doch Erwin, Hubert und Peter hatten keine Zeit zu verschwenden, denn sie wollten kein Biwak riskieren. Helfen konnten sie den beiden sowieso nicht – zwischen den Routen waren Platten ohne jegliche Möglichkeit zum festhalten.

Doch plötzlich passierte es: Die drei vernahmen einen langgezogenen Schrei und sahen eine jugendliche Gestalt, die rücklings zuerst ins Seil und nach einem kurzen Ruck, bei dem das Seil an einer scharfen Kante riß, vollends die Wand hinunterstürzte. Nach einem Pfeiler entschwand dieser Körper den Blicken der Kletterer. Diesen Sturz ins Kar kann niemand überleben. Der Andere hing baumelnd an seiner Selbstsicherung, durch den Sturz des Fallenden wurde er mit voller Wucht gegen einen Felsvorsprung geschleudert. Er scheint schwer verletzt. Schnell beratschlagten die drei Kletterer, was zu tun sei und kamen überein die letzten Meter bis zum Gipfel zu klettern und auf der anderen Route zum Verletzten abzuseilen. Trotz der Erschöpfung bewerkstelligten sie es in kurzer Zeit, zum Verletzten zu gelangen.

Äußerlich konnte man kaum Verletzungen erkennen, doch er trübte immer mehr ein. Kurzerhand entschlossen sie sich, dass sie ihn über ein Bändersystem nach rechts zum Westgrat bringen könnten. Gleichzeitig wurde Peter bestimmt, dass er als Fittester Hilfe an der Berghütte holen soll.  Die anderen zwei mühten sich ab und schafften den schweren Körper des Engländers fast bis zum Grat – dort versperrte aber ein Überhang das letzte Stück hinauf. So ließen sie ihn ein Stück unter dem Grat hängen.  Kurz flog der Hubschrauber ein Stück tiefer und erst dann schwebte er zum Grat und setzte den gut ausgebildeten Bergwachtmann ab. Rasch verständigten sie sich, wie die Rettung vonstatten gehen sollte. Der Sanitäter seilte sich zum Verletzten ab und erkannte, dass eine sofortige Bergung nötig war. Mit geübten Griffen fixierte er den Engländer am Winchseil des Hubschraubers und beide werden hochgehoben.

Nur Augenblicke später verschwand der Helikopter im Tal. Erwin und Hubert blickten gespannt dem Hubschrauber nach und atmeten erleichtert auf. Nun war es an ihnen, vom Berg zu kommen. Mit zittrigen Knien begannen sie den Abstieg auf der Südseite. Doch kaum machten sie die ersten Schritte, hörten sie den Hubschrauber erneut. Er hielt sich viel tiefer auf die Wand zu. Ungefähr dort, wo er vorhin beim Anflug auch kurz verweilte. Der Pilot hat anscheinend in der Wand etwas entdeckt. Konnte es sein? Ein paar Minuten später hatten sie Klarheit- Harry, der junge Engländer, hing am Bergeseil mit dem Bergretter und er bewegte sich. Zum Teufel, sein Seil muss sich im Fallen irgendwo verhangen haben. Das hat ihm das Leben gerettet.  Jahre später trafen sich alle im Café in Chamonix und feierten ihr Wiedersehen und die Engländer bedankten sich bei ihren Rettern.
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