Durchs wilde Eggental
Idylle am Fuß des Latemar: der Karersee
Ein wenig fühlt es sich an wie zu Grundschulzeiten. Auf dem Rückweg von der Schule nach Hause lag der winzige Kiosk von Frau Schubert. Wichtigste Ware aus der Sicht einer Sechsjährigen: das Weingummiregal. Zwanzig Fächer voll grüner Frösche und neonblauer Schlümpfe. Die Bestellung dauerte lange. »Für zehn Pfennig davon, ach nein, doch lieber nur für fünf Pfennig und noch eine saure Gurke dazu…« Das Glücksgefühl noch viel länger. Zumindest dieses Gefühl der schier unerschöpflichen Wahlmöglichkeiten stellt sich 30 Jahre später in den südwestlichenDolomiten wieder ein: beim Besuch des Eggentals, das einen aus Bergsteigersicht reich beschenkt.
Perfekter kann ein Tal kaum liegen. Das 250 Quadratkilometer große Tal, dessen Eingang nur wenige Kilometer nördlich von Bozen liegt, ist mit seiner Lage zwischen Rosengarten und Latemar ein echtes »sowohl als auch«. An den felsigen Zacken des Rosengartens holen sich Kletter-Profis dicke Unterarme und Einsteiger in die vertikale Welt erste Traumerlebnisse. Klettersteiggeher freuen sich über den Masarè-Steig, der einem eine großartige Gipfelüberschreitung der Rotwand ermöglicht. Wanderer über die Panorama-Touren am Latemar, Familien über die Erlebniswege im Latemarium und Mountainbiker über 800 Kilometer Trails.
Ein Abenteuerspielplatz
»Hier ist wirklich für jeden etwas geboten«, sagt Bergführer Erich Resch, Leiter des Alpinzentrums Rosengarten, während er am Einstieg zur »Gross-Führe« an der Teufelswand das Seil aus dem Rucksack zieht.
Erich und die Region: zwei, die zusammen gehören. Der charismatische Bergfex ist geboren in Welschnofen, aufgewachsen in Welschnofen und geblieben in Welschnofen. »Gott sei Dank«, sagt er. Als Kind bewunderte er die Rosengartengruppe von weitem als unerreichbar. »Mittlerweile habe ich sie auf vielen Wegen und Kletterrouten kennengelernt. Der Rosengarten ist für mich Rückzugsort und Abenteuerspielplatz zugleich.« Wer in eine von Erichs Erstbegehungen oder im benachbarten Latemar-Massiv einsteigt, versteht, was seinen Abenteuerspielplatz ausmacht. Die Routen tragen Namen wie »Schweißspur« oder »Zentralfriedhof«… Das Gefühl von Rückzugsort lässt sich aber eher in Erichs Lieblingstour durch die Laurinswand erleben, im »Laurinspass«, einer einfachen Kletterei (max. III UIAA) in wilder Umgebung. »Da will man doch nirgendwo anders leben«, sagt Erich mit Inbrunst. Wer würde da widersprechen?
Baustopp nach dem Bauboom
Die vielfältige Landschaft zog allerdings auch schon in der Vergangenheit viele Auswärtige an. In den siebziger Jahren kam es zu einem Bauboom. Almwiesen wurden in Baugrund umgewidmet und verkauft, Zweit- und Ferienhäuser wuchsen wie Pilze aus dem Boden – und standen dann 90 Prozent des Jahres leer. »Die Natur und das Dorfbild wurden teils verschandelt«, ärgert sich Erich. »Die Immobilienpreise schossen in die Höhe, und es war für uns Einheimische extrem schwierig, etwas aufzubauen.« Mittlerweile ist ein Baustopp erlassen. Doch einige Ortsteile in Skipistennähe wirken im Sommer noch immer wie Geisterdörfer. Mit verrammelten Fensterläden, Spinnennetzen und Briefkästen ohne Namen.
Bagger standen kürzlich ganz oben am Berg, an der einzigen Schutzhütte des Latemar, dem Rifugio Torre de Pisa (2671 m). Doch auch wenn das einst winzige Rifugio von Maria Teresa und Antonio Gabrielli nach der Neueröffnung im Sommer 2017 nun doppelt so groß ist – die Gemütlichkeit ist geblieben. Der schönste Weg hier herauf führt von der Bergstation des Sessellifts Oberholz (oder direkt von Obereggen aus) durch die schmale Gamsstallscharte und die spektakuläre Felslandschaft des Latemar. Besonders mystisch ist die Ansammlung aus schneidigen Zacken an Tagen mit weniger gutem Wetter. Wenn der Wind die Wolken durch die Scharten treibt und nur so wenige Wanderer unterwegs sind, dass man glatt vergisst, im viel besuchten Südtirol unterwegs zu sein. Dann schmecken Tagliatelle mit Wildragout, Polenta oder Apfelstrudel von Maria Teresa besonders gut.
Artikel aus Bergsteiger 01/18. Hier geht's zum Abonnement.