Wochenendtouren in den Tannheimer Bergen | BERGSTEIGER Magazin
Gipfelbesteigungen in den Allgäuer Alpen

Wochenendtouren in den Tannheimer Bergen

Südlich von Tannheim gibt es nicht nur die urigste Alm Deutschlands, sondern auch großartige Gratüberschreitungen zu entdecken; dazu wartet eine Reihe von Gipfeln auf ihre Besteigung. Von Michael Pröttel (Text und Bilder)

 
Kurz nach der Unteren Roßalm bieten sich wunderschöne Ausblicke auf das Tannheimer Tal © Michael Pröttel
Kurz nach der Unteren Roßalm bieten sich wunderschöne Ausblicke auf das Tannheimer Tal
Manchmal hat man über Jahre hinweg einfach ein Brett vor dem Kopf. Seit meiner ersten Klettertour am Gimpel speicherte ich die Tannheimer Berge als reines Kletterziel ab, beziehungsweise ließ sie auf dem Weg zu den großen Allgäuer Bergen wie Hochvogel und Krottenkopf im wahrsten Sinne des Wortes links liegen – und ignorierte damit ein ganz besonderes Kleinod in den Allgäuer Alpen.

In einem solchen Fall muss erst ein Zufall zu Hilfe kommen. Und zwar in Form eines Zeitungsartikels. Da war von drei langhaarigen und nicht minder langbärtigen Brüdern die Rede, die eine Alm oberhalb von Hinterstein bewirtschaften. Das allein hätte meine Aufmerksamkeit natürlich noch nicht erregt. Allein die Tatsache, dass, während vielerorts die Kühe mit Lastwagen auf den Berg und wieder heruntergekarrt werden, die Willersalpe  ausschließlich mit Haflinger Pferden versorgt wird, machte mir klar: Die Brüder Bertele muss ich persönlich kennen lernen! Beim Blick auf die Karte dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Almbesuch muss mit einer Rundtour um den Vilsalpsee kombiniert werden, die mit den Überschreitungen von Gaishorns und Rauhhorn großartige Gratwanderungen erwarten ließen.

Ein grandioser Auftakt der Wochenendtour im Tannheim

Gedacht, getan! An einem traumhaften Herbsttag folgen mein Zwillingsbruder und ich dem Verlauf des idyllisch plätschernden Roßalpbaches. Goldgelbe Ahornblätter tanzen auf den kleinen Wellen gen Tal, während wir auf dem sanft ansteigenden Weg nur langsam an Höhe gewinnen. Erst ab der in einem tief eingeschnittenen Bergkessel gelegenen Unteren Roßalm geht es endlich steiler zur Sache. Und das wird auch Zeit, denn heute sind 1150 Höhenmeter zurückzulegen. An der Oberen Roßalpe zeigt sich das markante Gaishorn endlich am Horizont. Wie wir unschwer erkennen können, hat der kommende Winter an der Ostseite des Berges bereits erste weiße Spuren hinterlassen. Wie werden wohl die Verhältnisse im nordexponierten Gipfelaufbau sein? Zu unserer Überraschung kommen uns die Minusgrade der letzten Nacht entgegen. Vergleichbar dem Permafrost halten sie den fürs Allgäu typischen schottrig-lehmigen Pfad kompakt zusammen. Nur hin und wieder löst sich beim Auftreten ein Stein. Nach Regenfällen ist der Anstieg über die Nordflanke bestimmt eine äußerst rutschige Angelegenheit. Letzte Meter führen uns durch einfaches Felsgelände auf den breiten Westkamm und weiter zum 2247 Meter hohen Gipfelkreuz.

Dass der Name Gaishorn laut Alpenvereinsführer »unsinnig« sei, weil die Bezeichnung vom einheimischen Begriff für Ziege stamme, tangiert uns allenfalls marginal. Viel zu beeindruckend ist der Blick auf die vor uns liegenden Berge rund um den tief unter uns glitzernden Vilsalpsee. Allein die Furcht, dass wir vielleicht das Abendessen verpassen könnten, lässt uns am späten Nachmittag vom Gipfel wieder aufbrechen. Als schmackhafte Vorspeise entpuppt sich sogleich der aussichtreiche Abstieg über den Gaishorn-Nordkamm hinunter zur Willersalpe.

Steppenwolf auf der Alm

Dort werden meine Erwartungen an die ebenso alte wie unkonventionell geführte Alm bei weitem übertroffen. Aus dem Küchenfenster des 500 Jahre zählenden Gemäuers grüßt mit freundlichem Grinsen ein Althippie wie aus dem Bilderbuch – inklusiver standesgemäßer »Born to be wild«-Beschallung. Auch im weiteren Verlauf des Abends lassen die Bertele-Brüder in Sachen Musikauswahl nichts anbrennen und erzählen mir zu »Rainbow & Co.« enthusiastisch von ihrer Liebe für die ehemals vom Verfall bedrohte Alm. Mit Hilfe zahlreicher Freunde wurden Käseküche und Käsekeller komplett renoviert und eine autarke Energieversorgung eingerichtet. Eine Photovoltaikanlage und zwei kleine Windräder liefern die Energie für Melkmaschine, Rührwerk des Käsekessels und Licht. Trotz der Renovierungen hat die Willersalpe nichts von ihrer Ursprünglichkeit verloren. Die Ausstattung ist sehr einfach geblieben. In den Waschräumen gibt es nur kaltes Wasser und Waschrinnen. Die Stube wird abends mit Kerzenlicht beleuchtet und die Lager durch den darunter liegenden Kuhstall beheizt.

Nicht nur um das leibliche Wohl ihrer Gäste kümmern sich Stefan, Christian und Markus, sondern auch um das ihrer 80 Stück Jungvieh und 20 Milchkühe. In der Sommersaison sind daher 17-Stunden-Tage für die Brüder kein unübliches Arbeitspensum. Unsere Befürchtung dass die Küche um 19 Uhr schließt, ist genauso unbegründet wie die Angst, um 22 Uhr ins Bett geschickt zu werden. Hüttenruhe herrscht auf der Willersalpe erst dann, wenn der letzte Gast sein Bier ausgetrunken hat! Aber keine Angst, die Schlafräume sind weit genug von der Gaststube entfernt…

Erst die Arbeit, dann das Vergnügen

Nur mit Mühe bekomme ich am nächsten Morgen meinen übernächtigten Bruder aus den Federn und meinen Bewegungsapparat in die Gänge. Andererseits ist der steile Anstieg zum Gaiseck genau die richtige Therapie, um die Bierseligkeit vom Vorabend aus dem Blutkreislauf zu vertreiben. Mit jedem hart erarbeiteten Höhenmeter werde ich wacher und als wir den Sattel der Vorderen Schafwanne  erreichen, fühle ich mich wie neu geboren. Mein Bruder will eine längere Pause einlegen. Ich kann aber den alpinistischsten Teil unsere Vilsalp-Runde kaum noch erwarten. Im Gegensatz zum  »Jubiläumsweg«, der die Willlersalpe mit dem Prinz-Luitpold-Haus verbindet und das Rauhhorn ostseitig umgeht, wollen wir dieses direkt auf seinem Kamm nach Süden überschreiten.

Drahtseile und ein paar Eisenstifte an ausgesetzten Stellen machen den luftigen Anstieg  bis zum Gipfelkreuz zu einem leicht adrenalinhaltigen Kinderspiel. Südlich des höchsten Punktes sucht man derartige Eisenprothesen dann allerdings vergeblich. Zum Glück, wie ich finde. Denn so wird der zweite Teil der Rauhhorn-Überschreitung ein herrlich naturbelassenes Bergerlebnis. Sorgsam müssen wir auf rote Punkte und Steigspuren achten,  die entscheidenden Griffe auf ihre Festigkeit prüfen und können dabei schaurig-schöne Tiefblicke genießen. Die Gratkraxelei könnte meinetwegen stundenlang so weitergehen. Doch nach einer guten Stunde schon haben wir wieder sicheren Boden, das heißt einen durch grüne Wiesenhänge ziehenden Erdpfad, unter den Füßen. Der schmale Weg führt uns direkt zum »aquatischen Highlight« der Wochenend-Runde. Warum der Schrecksee »Schrecksee« heißt, wissen allenfalls die Götter (oder vielleicht einer unserer geneigten Leser?), an seinem Erscheinungsbild kann es jedenfalls nicht liegen. Eingebettet in einen weiten, von grünen Gipfeln umgebenen Bergkessel und mit einer kleinen Insel in der Mitte ist das Gewässer  für uns der schönste Bergsee in den Allgäuer Alpen! Den Sprung ins kalte Nass verkneifen wir uns angesichts der herbstlichen Wassertemperatur und machen uns auf den Weiterweg Richtung Landsberger Hütte. Denn auf der Rundtour zurück nach Tannheim gibt es noch einiges zu tun: Mit Steinkarspitze, Roter Spitze, Lachenspitze, Sulzspitze und Schochenspitze warten nicht weniger als fünf überaus lohnende Zusatzgipfel darauf, ins Tourenbuch eingetragen zu werden!
 
Wochenendtour südlich von Tannheim
 
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