Mit Schneeschuhen auf Hochtour: Suldenspitze
Wer im Winter ins Hochgebirge will, braucht nicht zwangsläufig Tourenski.
Kurz nach Mitternacht in Sulden. Sternenklare Nacht. Eis und Schnee reflektieren das Licht des Vollmondes, als Bergführer Olaf Reinstadler die Tür seiner Garage öffnet. Dahinter stehen rund zehn Paar Ski an der Wand. Doch der 53-Jährige trägt einen hellgrauen Jogging-Anzug, dazu Trekkingsandalen, sein Gesicht ist zerknittert. Er huscht um die Ecke und öffnet die nächste Türe. Ein gewaltiger Duft schlägt ihm entgegen: Fenchel, Kümmel, Anis, irgendwas dazwischen oder alles zusammen. »Das ist Brotklee, auch bekannt als Zigainerkraut. Das findest du sonst nirgends«, sagt Olaf, der tagsüber als Bergwacht-Chef und Bergführer arbeitet, nachts als Dorfbäcker.
Sein Vater, schon über 80, stürzt gerade einen Sack Mehl in einen Zuber. Es staubt in der Backstube, als er den Rührer anwirft. Fünf Minuten später schaben die Beiden eine zähflüssige, hellbraune Masse aus dem Bottich. Vater Reinstadler formt daraus kleine Pflanzerl, Olaf platziert sie in Pärchen auf einem Backblech. Später werden sie sich bei 260 Grad fest aneinanderschmiegen. »Das sind unsere bekannten Paarlen, die man überall als Vinschgauer kennt«, erklärt Olaf. Weil die Paarlen zwei Stunden ziehen müssen, bevor sie in den Ofen kommen, stehen sie jede Nacht als Erstes auf dem Backzettel.
Tagsüber Bergführer, nachts Bäcker: Olaf Reinstadler
Olaf sprengt den Schnee
Acht Stunden später. Blauer Himmel über der Terrasse der Schaubachhütte (2581 m). Plötzlich ein Donnerschlag. Noch einer. Dann brummt eine Lawine. Zwei Felsriegel versperren die Sicht, dazwischen schießt eine Wolke hervor und hüllt den halben Talschluss in Schneestaub – wie bei einer Kanone, nur ohne Kugel. Über dem Geschehen schwebt ein Helikopter. Mit an Bord: Olaf Reinstadler. Er hat nach getaner Arbeit gefrühstückt, ist um sechs Uhr mit dem Schneemobil zur Hütte gefahren, hat Sprengsätze vorbereitet. Soeben hat er sie aus dem Heli geworfen und gezündet.
Zurück an der Hütte, begrüßt er als Bergführer seine Gäste, verteilt Lawinen-Sets und legt seine Schneeschuhe an: Die Gruppe hat ein ehrgeiziges Ziel, den Monte Cevedale (3769 m) auf Schneeschuhen. »Ist wärmer, als ich dachte«, meint Olaf, »nur minus zwölf Grad«. Die ersten Meter verlaufen im Schatten, nach dem Festzurren der Schneeschuhe kehrt nur schleichend Gefühl in die Finger zurück. Nach der Kreuzung einer schmalen Piste quert der Weg das untere Ende eines Lawinenkegels. Meterhohe Schneewürfel stapeln sich wild übereinander. »Schaut gut aus«, sagt Olaf und nickt, zufrieden mit seinem Werk.
Kurz zuvor hatte es Sturm und Neuschnee gegeben, es herrscht Lawinenwarnstufe drei. Den Cevedale streicht Olaf deshalb von der Tagesordnung: »Da oben ist es höher, kälter, schattiger, da dauert es länger, bis sich der Schnee verfestigt. Ein, zwei Tage müssten wir noch warten.« Der gebürtige Suldener arbeitet bereits in fünfter Generation als Bergführer, ein entfernter Verwandter war 1865 sogar unter den Erstbesteigern des Cevedale. Nun aber prosperiert die Suldenspitze (3376 m) vom Zwischen- zum Tagesziel. Auf Schneeschuhgeher lauern in diesem Gelände prinzipiell die gleichen Gefahren wie auf Skitourengeher: allen voran Spalten und Lawinen. Nur müssen Schneeschuhwanderer laut Olaf noch vorsichtiger sein. »Bei Stufe drei kann es schon Passagen geben, die man einzeln gehen muss. Das kann ich am Gletscher aber nicht, weil ich angeseilt bin«, erklärt er das Dilemma. Während Skitourengeher dann auf die große Auflagefläche ihrer Ski vertrauen können, müssen Schneeschuhwanderer zurückstecken. Weniger Auflagefläche bedeutet höheres Risiko: sowohl für einen Spaltensturz als auch für das Auslösen einer Lawine.
Mittags liegt Sulden bereits tief unter den Schneeschuhgehern.
Nach einer Weile stoppt Olaf, kramt das Seil aus dem Rucksack und bindet die Knoten vor. Die Seilschaft befindet sich da bereits seit 20 Minuten auf den Ausläufern des Suldenferners. Wie man im Winter erkennt, wo der Gletscher beginnt, wenn man ihn nicht aus dem Sommer kennt? »Gar nicht«, antwortet Olaf knapp und schmunzelt.
Spaltenstürze sind Teil des Spiels
Der Wind der vergangenen Tage hat skurrile Bilder in das monotone Weiß gezeichnet. Rillen, Kanten, Fugen. Hie und da schält sich eine alte Skispur heraus. Ihr komprimiertes Relief vermochte der Sturm zwar zu schleifen, verfrachten aber konnte er es nicht. »Die Spuranlage und der Lawinenpiepser sind das A und O. Das ist effizienter als jeder Airbag«, sagt Olaf am Rande einer mächtigen Spalte, die selbst im Hochwinter offenliegt. Spaltenstürze sind für ihn »Teil des Spiels«. Wer so viel im Gelände unterwegs ist wie er, komme nun mal in Bedrängnis. Für Olaf ist das so klar wie der Himmel über Sulden an diesem Vormittag. Auch eine Lawine hat ihn schon mal erfasst und bis zur Brust verschüttet. Allerdings nicht mit Gästen. Da trennt er Berufliches und Privates strikt. »Wenn etwas passiert, dann meistens, wenn ich mit anderen Bergführern unterwegs bin. Mit Gästen weiche ich immer aus, anstatt auszuprobieren.«
Kurz unterhalb des Gipfelhangs wartet ein kurzer, aber steiler Aufschwung. Die Frontalzacken wühlen im Firn, halten mehr schlecht als recht, der Rest des Schneeschuhs baumelt hin und her. Auf die Stöcke gestützt geht es hinauf. Einen Schritt vor, zwei zurück, so fühlt es sich an. »Da stoßen Schneeschuhe an ihre Grenzen. Steiler dürfte es nicht sein«, meint Olaf, der längst oben in der Sonne steht. Den Gipfel markieren ein schlichter Holzpfahl und – je nach Schneelage – die Reste eines Geschützes aus dem Ersten Weltkrieg. Den Verzicht auf den Cevedale macht das Panorama dieses Firnbuckels schnell vergessen. Geradezu lieblich wirkt König Ortler angesichts der 45 Grad steilen Flanke, die hinter dem Königsjoch gen Himmel strebt und am formschönen Gipfel der Königsspitze endet. Im Süden dämmert die Casati-Hütte dem Ende ihres Winterschlafs entgegen, darüber recken Cevedale und Palòn de la Mare ihre Häupter empor. Und in der Ferne sind die Bekannten der Ötztaler und Zillertaler auszumachen.
Mit Seil und Pickel geht es dem Ziel entgegen.
Frau Bundeskanzlerin
Prominenten Besuch hat Olaf auch schon auf die Suldenspitze geführt. Seit mehreren Jahren organisiert und führt er die sommerlichen Bergtouren von Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel. »Am Cevedale waren wir auch schon. Da mussten wir aber an der Randkluft kurz unter dem Gipfel umkehren. Das war doch etwas zu ausgesetzt«, erzählt Olaf und lobt die erstaunlich gute Kondition der 63-Jährigen. Wenn die Kanzlerin einen Urlaub in Sulden plant, ruft sie manchmal sogar persönlich bei Olaf an. »Sie fragt dann, ob man Zeit hat. Denn dass sich jemand extra wegen ihr Zeit nimmt, das will sie absolut nicht.« Per Du sind Angela und Olaf jedoch nicht. »Ihr wär’s egal, aber ich sag immer Frau Bundeskanzlerin«, meint der Bergführer und Dorfbäcker bescheiden. Im Grunde behandle er die Kanzlerin wie jeden anderen Gast. Zugegeben, mit ein bisschen mehr Vorsicht und etwas höherem Puls an kritischen Stellen. Während sie sich am Seil ihres Bergführers am Cevedale versuchen darf, schieben ihre Bodyguards einen Riegel vor jede Hüttenterrasse: zu viele Menschen, zu gefährlich. Ihre Brotzeit muss die Kanzlerin folglich selbst den Berg hinaufschleppen – mit dem Vorteil, dass sie besser als jeder andere Bergsteiger weiß, woher ihre Paarlen kommen und warum sie so gut schmecken.
Fünf Tipps für Schneeschuh-Hochtouren
Das rät Bergführer Olaf Reinstadler
1. Bereits im Sommer die nötige Kondition und Erfahrung sammeln. Der Umgang mit Seil und Pickel, LVS-Gerät, Sonde und Schaufel muss sitzen.
2. Gletschertouren in das Frühjahr legen: Auf gepresstem Schnee ist man nicht nur sicherer unterwegs, man kommt auch besser voran als im tiefen Pulver des Hochwinters.
3. Zeitig aufbrechen: Während man mit Ski schnell zurück ins Tal gelangt, muss man mit Schneeschuhen Zeit für den Abstieg einplanen. Im Tagesverlauf weicht der Schnee auf, Spaltenbrücken verlieren an Stabilität, das Sturzrisiko steigt.
4. Lawinenlagebericht einsehen und ...
5. ... Konsequenzen daraus ziehen: Schneeschuhwanderer müssen aufgrund geringerer Auflagefläche früher »Nein« sagen als Tourengeher.
Der Gipfel der Suldenspitze ist nur eine kleine Kuppe, doch die Aussicht umso überwältigender.
Mit Schneeschuhen auf Hochtour
Der Gipfel der Suldenspitze ist erst der Anfang. 3376 Meter über »del Mare« rücken noch ganz andere Touren in den Fokus ambitionierter Schneeschuhgeher.
1 | Suldenspitze (3376 m)
Charakter: Ideale Einstiegstour auf eine Firnkuppe mit sensationeller Aussicht. Bei Benutzung der Seilbahn zur Schaubachhütte sogar als Tagestour möglich
Ausgangspunkt: Sulden (1906 m)
Einkehr: Schaubachhütte (2581 m)
Route: Innersulden – Schaubachhütte – Suldenferner – Suldenspitze
2 | Monte Cevedale (3769 m)
Charakter: Technisch lange, aber unschwierige Tour mit grandiosen Ausblicken. Erst der steile Schlussanstieg verlangt Schneeschuh-Bergsteigern einiges ab. Es empfiehlt sich, die Tour auf mindestens zwei, wenn nicht drei Tage aufzuteilen.
Ausgangspunkt: Sulden (1906 m)
Einkehr: Schaubachhütte (2581 m), Casati-Hütte (3269 m)
Route: Innersulden – Schaubachhütte – Suldenspitze – Casati-Hütte – Monte Cevedale; Abkürzung: per Seilbahn zur Schaubachhütte
3 | Palòn de la Mare (3703 m)
Charakter: Extrem lange Tour zum höchsten Berg im Rund der Brancahütte. Da selten eine Schneeschuhspur vorhanden ist, sind die 1230 Höhenmeter hinauf zum Gipfel bei weichem Schnee an einem Tag kaum zu packen.
Ausgangspunkt: Santa Catarina Valfurva (1734 m)
Einkehr: Rifugio Cesare Branca (2493 m) des CAI Milano. Zur Skihochtourenzeit im Frühjahr und im Sommer bewirtschaftet und bietet beste italienische Verpflegung.
Route: Parkplatz Rifugio Forni – Rifugio Cesare Branca – Ghiacciáio die Forni – Palòn de la Mare
Basiswissen
Ortlergruppe – Königreich für Schneeschuhgeher
WIE ANKOMMEN?
Am einfachsten mit dem Auto: von München über Fern- und Reschenpass und weiter über Prad und Gomagoi nach Sulden
WO ANKLOPFEN?
Gästeinformation Ortlergebiet, Tel. 00 39/04 73/61 30 15, info@ortlergebiet.it
SICH ORIENTIEREN
Kompass Wander- und Skitourenkarte 1:50 000, Blatt 72 »Ortler/Ortles – Cevedale«
MEHR ERFAHREN
Evamaria Wecker »Schneeschuhführer Südtirol West«, Bergverlag Rother, München 2016
WO WOHNEN?
Hotel Cevedale, 4-Sterne-Haus mit großer Familientradition und ausgezeichneter Küche, Zimmer im Winter ab 91 Euro, Tel. 00 39/04 73/61 30 13, info@hotel-cevedale.com
Messner Mountain Museum Ortles, geöffnet vom vierten Sonntag im Mai bis zum zweiten Sonntag im Oktober, außerdem vom zweiten Sonntag im Dezember bis 1. Mai; Forststraße Sulden, Tel. 00 39/04 73/61 35 77