Alpenüberquerung im Laufschritt

Der Transalpine-Run

Der Transalpine-Run über die Alpen erfordert Kondition, Leidensfähigkeit und Durchhaltewillen. Und einen guten Partner.

 
Der Transalpine-Run © Klaus Fengler, Kelvin Trautman, Lars Schneider
Steil gehen: Im Schnitt müssen die Teilnehmer des Rennens jeden Tag zwei Berge hoch und wieder runter. Im Bild die erste Etappe Oberstdorf – Hirschegg (27 km, Aufstieg 1806 m, Abstieg 1496 m)
Es ist noch dunkel, als am Morgen nach der ersten Etappe der Wecker klingelt. 5.30 Uhr. Das fühlt sich an, wie langsam aus einer Holzhammernarkose zu erwachen, eine schmerzende Stelle nach der anderen ruft sich pochend ins Bewusstsein: Zehen, Waden, Oberschenkel. Mein Teampartner Walter redet zuerst: »Ich glaube, ich sterbe«, sagt er. Darauf ich: »Du hast es gut. Ich glaube, ich bin schon tot.« Dabei steht uns erst der zweite Tag bevor. Dann noch einer, und noch einer, und noch einer – insgesamt acht Etappen sind es von Ruhpolding im Chiemgau bis nach Sexten in Südtirol*. 320 Kilometer und 15 000 Höhenmeter allein im Anstieg, das Gleiche in etwa auch wieder runter, im Schnitt zwei Gipfel pro Tag.

Das Höhenprofil des Transalpine-Run sieht aus wie die Herzkurve eines Infarktpatienten. Da müssen wir im Laufschritt durch. Viel Zeit zum Brotzeit abhalten und an den Almblumen schnuppern bleibt da nicht. Wer die Zeitlimits der einzelnen Renntage nicht einhält, darf zwar weiter mitmachen, fällt aber aus der Gesamtwertung. Aber das Härteste ist die Überwindung, das Aufstehen, die Motivation, an jedem Morgen aufs Neue. Ist der Kreislauf erst mal in Schwung, sind die Muskeln endlich warm und gelockert, kommt uns die Plackerei schon wieder ganz anders vor: als alpiner Spaß und sportlicher Naturgenuss.

Deshalb machen wir das ja schließlich auch.  Wir teilen die Spaziergänger-Meinung überhaupt nicht, dass man beim Genießen nicht rennen darf.

Aus Sicherheit in Zweier-Teams

Kurz vor dem Start dröhnt jeden Morgen das Gitarrenriff von AC/DCs »Highway to Hell« aus den Boxen. Dazu die ratternden Rotoren des Begleithubschraubers – es gibt keine bessere Symphonie, um einem Läufer das Adrenalin ins Blut schießen zu lassen.  500 Teilnehmer aus 25 Nationen johlen und klatschen im Takt. »Ganz ruhig«, sagt Walter, »Kraft sparen, nicht mitreißen lassen, wir haben ein paar Kilometer vor uns.« Als es losgeht, laufen wir langsam, heben die Knie nur wenig an, schlurfen fast. So machen wir das dann sechs bis neun Stunden am Tag. So einfach ist das. Und so schwer.  Ein schlüpfriger Steig führt zum »Staubfall«, wo das Gebirgswasser 200 Meter tief in eine Schlucht rauscht.

Hier beginnt Österreich. Beim Versuch, Walter an der Grenze zu seiner Heimat zu fotografi eren, rutsche ich aus, haue mir den Ellbogen blutig und zerlege seine Kamera. Walter ist in den Bergen aufgewachsen, er ist der Ältere, Erfahrenere, Fittere von uns beiden. Wir haben uns in China beim Marathon auf der Großen Mauer angefreundet. Ein-, zweimal im Jahr treffen wir uns seitdem zu Läufen, jedes Mal ist er mindestens eine Stunde schneller als ich. Jetzt sind wir aneinander gekettet. Aus Sicherheitsgründen muss man den Transalpine in Zweier-Teams laufen und stets zusammen bleiben. Ich habe Walter vorher mehrmals gefragt, ob ihm wirklich klar ist, worauf er sich mit mir als schwächerem Partner einlässt.

Er musste mir schwören, dass er sich mit mir nicht langweilen wird – und dass er mich nicht zu sehr antreibt. Nur in der Vertikalen kommt sofort der Gamsbock in ihm durch. Dann läuft er voraus, an der Winklmoosalm vorbei, die Skipiste hoch. Nach über fünf Stunden kommen wir ins Ziel, vom Regen ausgekühlt, aber zuversichtlich.

Das Zauberwort heißt Regeneration

Die Frage ist ja nicht, warum wir das machen. Wir lieben die Berge, haben keine Lust, immer nur auf dem Asphalt der Städte im Kreis zu laufen. Die Frage ist vielmehr: Wie werden wir es schaffen? Regeneration ist eins der Zauberwörter bei einem Ultra-Rennen wie diesem. Zum Glück haben wir uns zum Übernachten für Hotels mit weichen Betten, warmen Duschen, reichhaltigem Essen und teils sogar Saunen entschlossen. Wir könnten auch für weniger Geld in Dorfturnhallen campieren, Isomatten auf dem kalten Boden ausrollen, unsere Sachen nicht trocken kriegen und Schlange stehen für eine lauwarme Brause. Wie ein junger Amerikaner, der mit roten Augen zum Start schlurft. »Wenn ich heute Nacht meinen Arm ausgestreckt habe, konnte ich fünf Leute berühren«, erzählt er.

Dann wieder AC/DC. Wir haben uns gut vorbereitet. Seit etwa 20 Jahren laufen wir beide regelmäßig drei-, viermal die Woche. Walter hat fast 100 Marathons mitgemacht, ich immerhin auch schon an die 20. Wir sind Skifahrer, Langläufer und Wanderer. Auch in der langsamen Gangart habe ich schon zweimal die Alpen überquert, auf dem E 5 von Oberstdorf nach Bozen, einmal sogar so früh im Jahr, dass nur die Winterräume geöffnet waren. Walter und ich kennen die Bedingungen in den Bergen, die Wetterumschwünge, die Gefahren. Warme Wechselsachen, Mützen, Handschuhe, Rettungsdecken, Verpflegung, Handys, Karten von der Strecke und ein Erste-Hilfe-Set tragen wir in leichten Rucksäcken mit uns – das ist Pflicht beim Transalpine-Run.

Bergläufe als ideales Training

Vor dem Start wird die Ausrüstung eines jeden Teilnehmers kontrolliert. Damit sollen Unglücke wie beim Zugspitz-Extremberglauf 2008 verhindert werden. Damals starben zwei gut trainierte, aber leicht bekleidete Teilnehmer bei Temperaturen unter null Grad. Der Veranstalter wurde vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, das Gericht verwies auf die Eigenverantwortlichkeit der Sportler. Die Bilder von den halbnackten Läufern im Schneegestöber auf der Zugspitze erregten Empörung und Unverständnis in der Öffentlichkeit. Kritiker schüttelten den Kopf: Warum muss man auch auf Berge rennen? Dabei haben Bergläufe in der Leichtathletik Tradition. Der legendäre neuseeländische Mittel- und Langstrecken- Coach Arthur Lydiart führte in den sechziger und siebziger Jahren mehr als ein Dutzend Athleten zu olympischen Medaillen, unter anderem mit mehrwöchigen Hügeltrainings.

Felix Magath machte als Schleifer des FC Bayern Schlagzeilen, als er die Spieler den Wallberg am Tegernsee hochjagte. Für Biathleten sind Bergläufe die ideale Trainingsform im Sommer. So sprintet zum Beispiel Tobias Angerer regelmäßig die Hänge seiner Chiemgauer Heimat hoch. Auch einer der zurzeit erfolgreichsten Bergläufer der Welt, der Katalane Kilian Jornet, stieß über das Training für seine Stammdisziplin Skibergsteigen auf die Rennerei in der Vertikalen. Die Spanier beim Transalpine-Run sind auch recht unterhaltsam. Sie treten immer rudelweise auf und rufen entweder »Arriba! « oder »Venga! Venga!«. Auch sonst kommen wir aus dem Staunen über unsere Mitstreiter nicht heraus. Da ist eine Frau, die im vollen Lauf ins Handy spricht: »Hier ist Mutti, hast du noch Fieber?«

Ein Ehepaar, das schon nonstop um das Mont-Blanc-Massiv gelaufen ist. Sie erzählt von Sinnestäuschungen, die sich dabei nach etwa 45 Stunden eingestellt hätten. Er gibt Zeitziele vor: »Wir machen exakt 1:24 Stunden auf den ersten zehn Kilometern.« Da sind zwei Engländer in neongelben Totenkopf-Shirts, die dauernd miteinander quasseln und jeden Satz mit einem militärischen »Sir« beenden, um sich abzulenken. Eine Amerikanerin, die schon zum dritten Mal beim Transalpine mitmacht, sagt, außer den Laufstrecken hätte sie noch nichts von Europa gesehen. Und da ist Walter – der plötzlich rückwärs läuft! »Zur Entspannung der Muskeln«, sagt er. Vielleicht hätte er sich etwas zu lesen mitnehmen sollen mit mir als Partner.

»Ich wollte Urlaub am Meer!«

Dabei geht es jetzt ans Eingemachte. Eine Etappe über 46,9 Kilometer und 2252 Höhenmeter – ein Ultralauf im Ultralauf. Den schafft man nicht mit den Beinen, nur mit dem Kopf. Ganz gut: positive Dinge vorstellen – das Ufer eines türkisfarbenen Sees, eine Umarmung, Pizza Hawaii. Konzentrieren: Wurzeln, Steine, die Füße des Vordermanns – ein falscher Schritt und es ist aus. Ablenken: auf die innere Trainerstimme hören. Die sagt: Es gibt ja wohl Schlimmeres als einen schönen Tag in den Bergen! Unser bester mentaler Trick: Wir denken nur in einzelnen Etappen, stellen uns niemals die 320 Kilometer vor, die inzwischen gerade mal auf 235 geschrumpft sind.

Immer erst am Vorabend studieren wir das Streckenprofil des nächsten Tages. Heute: am Hahnenkamm die Streif hoch, wie beim Weltcup-Skirennen, nur in die falsche Richtung. Dann über Almen und Grate, über Matsch und Schnee. »Ich wollte Urlaub am Meer!«, scherzt ein Berliner in weißen Kniestrümpfen. Der Blick reicht schon bis zur Marmolada. Über uns kreisen Dohlen und der Rettungshubschrauber. Eine Läuferin bleibt mit ihren roten Locken an einem Stacheldrahtzaun hängen, die Kühe schauen mampfend und milde zu. Wir haben einen gnädigen Filmriss und kommen erst nach fast neun Stunden Laufzeit im Dorfbrunnen von Neukirchen zu uns, bis zur pochenden Hüfte im eiskalten Wasser stehend, ein alkoholfreies Weißbier in der Hand.

»Du siehst vier Jahre älter aus«, sagt Walter

Eine unruhige Nacht, zwei Päckchen Blasenpfl aster und drei Tassen Kaffee später geht es ins gelobte Land. Zum Warmwerden zehn Kilometer in der Ebene, dann die tosenden Krimmler Wasserfälle entlang, auf dem alten, steilen Schmugglerpfad zur 2665 Meter hoch gelegenen Birnlücke, einer Scharte im Fels, dem Übergang nach Italien. Die italienische Finanzpolizei patrouilliert hier heute noch. Zwei Beamte stehen bei einer Spanierin, die im Nebel am Boden kauert. Sie ist in eine Rettungsdecke gewickelt und weint. Oben liegt Schnee. Manche rutschen auf dem Hosenboden nach Italien. Walter ruft »Skifahren!« und wedelt souverän den Hang hinunter.

An der Verpflegungsstation haben Helfer die Isogetränke angewärmt. Trotz der Strapazen können wir am Abend nicht einschlafen. Unsere Herzen hämmern zu sehr, haben sich auf den Ausnahmezustand eingestellt. »Der Mensch ist immer fluchtbereit«, meint Walter. Kaum nicken wir doch ein, klingelt der Wecker. Um mein linkes Bein aus dem Bett zu hieven, brauche ich beide Hände. Wir können uns alles vorstellen, nur nicht, schon wieder 30 Kilometer zu laufen. Wir erscheinen nur noch in Socken zum Frühstück, zwängen unsere geschwollenen Füße so spät wie möglich in die Laufschuh- Schraubstöcke. Ein paar Zehennägel sind lila verfärbt.

Walter sagt: »Du siehst vier Jahre älter aus.« Die nächsten Tage tut er alles, um mir durch die Dolomiten zu helfen. Walter zeigt auf die Felsen und erzählt, wo er schon überall auf Skitour war. Manchmal läuft er vor, bleibt stehen, ruft »Bravo!« und klatscht, wenn ich an ihm vorbeihumple. Vor den Drei Zinnen machen wir ein Foto, auf dem wir triumphierend die Teleskopstöcke recken. Andere Läufer schauen nicht einmal auf, sie wollen es nur noch zu Ende bringen. »Nur noch drei Kilometer«, sagt Walter, die Motivationslüge funktioniert. Er hört nicht auf, mich anzuspornen. »Da vorne ist schon Sexten«, sagt er. Ich weiß ganz genau, dass es erst Bad Moos ist. Die Wanderer, die uns entgegenkommen, treten zur Seite und klatschen.

So oft haben wir uns den Zieleinlauf vorgestellt – und allein schon davon feuchte Augen bekommen. Aber als es so weit ist, fühlen wir uns nur leer. Auf dem Zielfoto schaut Walter auf seine Uhr. Es dauert, bis uns die Emotionen übermannen, es ist, als würden sie uns mit Zeitverzögerung ins Tal hinterherrauschen. Ich falle in einen Liegestuhl. Walter sagt: »Bleib sitzen. Ich bringe dir ein Stück Pizza.« Das werde ich nie vergessen.
Transalpine-Run. Text: Jochen Temsch. Fotos: Klaus Fengler, Kelvin Trautman, Lars Schneider
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 09/2013. Jetzt abonnieren!
 
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