Der Ortler stand bei Daniel und mir schon lange auf dem Programm. Jahrelang waberte die berühmte Nordwand in unseren Köpfen herum, kam bei der alljährlichen Diskussion über das Winterziel wieder hoch, um dann stets mit irgendwelchen vorgeschobenen Begründungen (zu weit zu fahren, schlechte Verhältnisse, usw.) zugunsten eines anderen Ziels verworfen zu werden. Aber die diesjährige Planung war anders. Wir hatten endlich den Mut auszusprechen, was eigentlich schon lange klar war: das Ding wird von unserer Zielliste gestrichen, die objektiven Gefahren sind für unseren Geschmack zu hoch. Was bedeutet schon der Ruhm einer berühmten Tour, wenn der Obere Ortlerferner regelmäßig Eisbrocken in Fußball-, Kühlschrank- oder auch Einfamilienhausgröße darüber auskippt.
Aber die Ortlernordwand hat ja auch einen Begrenzungspfeiler und so sollte es auf den Spuren von Oliver Perry-Smith über den Marltgrat auf den Ortler, über den Hochjochgrat hinab zum Hochjochbiwak und dann den langen Verbindungsgrat über den Zebrù auf die Königsspitze gehen. Der Alpenvereinswetterbericht prognostizierte drei herrliche Sonnentage mit Windgeschwindigkeiten von ca. 20 km/h und der 0 °C Grenze bei ca. 2500 m. Das klang nach perfekten Bedingungen und unser Herz lachte, als wir hinter dem Reschenpass das erste Mal das Bollwerk Ortler zu Gesicht bekamen.
Am Beginn des Grates
Später in Sulden kam dann, angesichts der Dimensionen unter denen wir standen und der erschreckend geringen Schneelage, doch eine gewisse Beklemmung auf. Die Ortlernordwand ist im oberen Teil komplett blank und auch die Nordwände von Zebrù und Königsspitze sind mehr schwarz als weiß. Das ist auch für unsere Tour nicht so toll, findet sich doch im Führer die Anmerkung: „etwas brüchig, verliert bei zunehmender Ausaperung seinen Reiz“. Später wurde allerdings klar, dass diese Formulierung entweder schon zur Zeit der Führerherausgabe 1990 total geschönt war oder dass diesen Winter noch viel weniger Schnee lag, als die sich das damals vorstellen konnten.
Es geht los...
Aber das Ziel stand und am nächsten Morgen, gegen 4:30 Uhr, ging es mit gewichtsoptimierter, aber doch kompletter Winterausrüstung und drei Tagesrationen Verpflegung hoch zum Einstieg. Die ersten 1000 Höhenmeter spulten wir im Dunklen ab, Daniel frischauf voraus, ich etwas japsend hinterher. Der Zeitplan ging auf und in der Morgendämmerung standen wir am oberen Ende der Skipiste am Beginn unseres Grates und konnten uns im ersten Licht gut orientieren. Wir erreichten die Gratschneide etwas von links und konnten am Anfang noch große Strecken seilfrei gehen, bevor das Gelände immer stärker aufsteilte. Je höher wir kamen, desto steiler wurde unser Grat, umso stürmischer pfiff uns der Wind um die Nasen und umso unangenehmer machte sich die geringe Schneeauflage bemerkbar.
Der Fels war hundsmiserabel brüchig, so dass wir sogar Schwierigkeiten hatten, die Standplätze wenigstens halbwegs ordentlich zu bauen. So ging es Stunde um Stunde über Türme, Felsstufen und Grate nach oben, die leider viel zu selten von gut steigbaren Firnpassagen unterbrochen wurden. Und da ab einer gewissen Höhe der Weg zurück wahrscheinlich aufwändiger und zeitraubender gewesen wäre, als der Weg zum Gipfel, waren wir heilfroh, als es uns gelang, einen sperrenden Felsriegel (den ersten Marltgratturm) in einer ausgesprochen brüchigen, heiklen Seillänge zu überwinden. Mit Kletterschuhen in festem Fels, wäre diese Passage sicher nicht schwerer als 3 oder 4 gewesen. Aber äußerst brüchiger Fels mit leichter Schneeauflage und der mentalen Belastung des absoluten Sturzverbotes an dieser Stelle führten dazu, dass ich statt fünf Minuten eine gefühlte Ewigkeit in dieser Seillänge zubringen musste.
Aber es war das Tor zum Gipfel und die Erleichterung war riesig, als wir nach einer Vielzahl weiterer kombinierter Steilstufen endlich die letzte Eisflanke vor dem Gipfelplateau in Angriff nehmen konnten. Den Tiefblick in die blanke Nordwand empfanden wir an dieser Stelle besonders eindrucksvoll, zumal wir noch Zeuge eines Eisabbruches am Oberen Ortlerferner wurden. Ein Einfamilienhaus war´s zwar nicht, was da in die Tiefe stürzte, aber ungefähr Wohnzimmergröße hatte es schon. Es hätte auf jeden Fall gereicht…
Gegen 17:30 Uhr erleben wir ein kurzes, einsames Gipfelglück. Wir sind erschöpft, überaus glücklich aber immer noch unter Spannung, müssen wir doch noch über den Hochjochgrat zur Biwakschachtel. Die verbliebenen 3 ½ Stunden Tageslicht reichten nicht ganz. Es wurde 22:00 Uhr, als wir endlich die gemütliche Biwakschachtel erreichten und völlig platt auf die Betten sanken. Wie schön ist doch eine Biwakschachtel wenn draußen der Sturm rüttelt, selbst wenn auch drinnen die Temperatur nicht über den Nullpunkt steigt.
Stephan Gerber (Seppo) am Gipfelkreuz des Ortlers
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Ein mulmiges Bauchgefühl
Am nächsten Morgen sind wir immer noch angeplättet, vor allem ich bin immer noch ganz schön erledigt. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Höhe liegt (von 100 m in Dresden auf 3900 m Gipfelhöhe in eineinhalb Tagen), an den Anstrengungen vom Vortag oder an den Nachwirkungen meines Frühjahrsmarathons zwei Wochen zuvor. Etwas spät gehen wir den Zebrù an. Dieser ist vom Hochjoch in einer relativ leichten Firnflanke zu besteigen, allerdings ist dieses Jahr der oberste Teil blank, so dass wir zumindest dort sichern. Daniel ist als erster am Gipfelgrat und als ich ihn erreiche, haut mich der Wind fast um. Es ist schweinekalt und das Seil liegt teilweise waagerecht in der Luft. Ich gehe noch rüber zum höchsten Punkt, sichere Daniel nach. Der Anblick unseres langen Verbingungsgrates zur Königsspitze in Verbindung mit dem eisigen Sturm und der Vorplättung vom vergangenen Tag reicht, um zum Rückzug zu blasen. Kurze Zeit später sind wir wieder im Hochjoch.
Wir sind gescheitert. Gescheitert, wo Oliver Perry-Smith durchgekommen ist. Es fühlt sich trotzdem wie ein Sieg an. Wir sind gesund und haben eine aus unserer Sicht vernünftige Entscheidung getroffen. Aber wir müssen noch zurück nach Sulden, denn dort steht unser Auto und Sulden ist zwar vom Hochjoch zu sehen, aber doch so weit weg. Der kürzeste Weg führt über eine 50 Grad steile Rinne direkt von der Biwakschachtel hinab auf den Suldengletscher und über diesen leicht ins Tal. Aber irgendwas ist komisch. Wir können den Auslauf der Rinne nicht sehen und unser beider Bauchgefühl hält uns von dieser Rinne ab. Wir entschieden uns für Abstieg nach Süden in Richtung Bormio, wohl wissend, dass dies entweder über 100 km ungewisse Rückfahrt über die Schweiz nach Sulden oder eine ewige Gletscherwanderung mit mehreren Gegenanstiegen zur Casatihütte und von dort zurück auf die Suldenseite bedeutet. Wir bevorzugten die eigentlich sehr schöne, aber uns konditionell völlig zerstörende Gletscherwanderung bei herrlichstem Sonnenschein.
Am dritten Tag, ganz am Schluss, kurz vor Sulden, ist uns noch ein Blick auf die Abstiegsrinne vom Hochjoch vergönnt. Sie ist im unteren Teil ausgeapert, nur steile Felsabbrüche sind dort, wo laut Führer eine Firnrinne bis zum Gletscher hinab zieht. Hoch lebe das Bauchgefühl!
Was bleibt? Neben Daniels einige Tage dauernder Schneeblindheit und der körperlichen Erschöpfung, bleibt zum einen das eindrückliche Erlebnis einer erfolgreichen Ortlerbesteigung über eine selten gemachte Route bei noch dazu nicht gerade günstigen Verhältnissen. Zum anderen bleibt das gute Gefühl einer harmonierenden Seilschaft, in der man sich hundertprozentig aufeinander verlassen kann und auch hinsichtlich des Risikomanagements am Berg gleicht tickt.
Es war toll - auf zum nächsten Ziel!
Fakten:
22.4. Ortler – Marltgrat: ca. 2100 Hm Auto bis Gipfel, davon 1100 Hm am Grat, Gratlänge ca. 1800 m. Abstieg Hochjochgrat 367 Hm, 1500 m Gratlänge, Auto-Gipfel: 16 h, Gipfel-Biwakschachtel: 4 ½ h
23.4. Besteigung Zebrù, anschließend südseitige Umrundung von Zebrù und Königsspitze zur Casatihütte, ca. 11 km Gletscherwanderung mit 1000 Hm Auf- und Abstieg
24.4. Abstieg Casatihütte über Suldenspitze nach Sulden, ca. 12 km und 250 Hm Aufstieg, 1600 Hm Abstieg