150 Jahre Erstbesteigung Matterhorn
Ueli und die Unsterblichen
© Archiv Zermatt Tourismus
Noch wird gejubelt: Matterhorn, 14. Juli 1865
Noch wird gejubelt: Matterhorn, 14. Juli 1865
PERSONEN
Edward Whymper, Erstbesteiger des Matterhorns am 14. Juli 1865
Jean-Antoine Carrel, Whympers Konkurrent und späterer Seilgefährte, bestieg das Matterhorn am 17. Juli 1865
John Tyndall, ebenfalls Konkurrent um die Erstbesteigung, aber beiden unterlegen
Reinhold Messner, ehemaliger Extrembergsteiger
Ueli Steck, aktueller Extrembergsteiger
Hörnli-Wirt, Wirt der Hörnli-Hütte
Journalisten
Zermatter Bergführer
Horu-Chor
Erster Akt
Prolog im Himmel (oder knapp davor). Edward Whymper, allein.
WHYMPER: Habe nun, ach! die Barre des Ecrins, den Chimborazo und die Verte, und leider auch das Matterhorn, als erster Mensch bestiegen. Da steh ich nun, ich armer Tor, und komm’ trotzdem nicht in den Bergsteigerhimmel, weil die Idioten mich nicht reinlassen. „Wir hätten da noch letzte Zweifel, Herr Whymper!“ Bullshit! Ich habe das Seil nicht angeschnitten! Es war ein Unfall! Jede Nacht sehe ich sie vor mir, aufgereiht im gleichen Abstand: den tapferen Croz, wie er die Füße des armseligen Hadow setzt, der auf seinen ungenagelten Schuhen – nie hätte man ihn so mitnehmen dürfen, aber Hudson bestand ja darauf, weil sich der Knabe am Mont Blanc so gut geschlagen habe – jedenfalls rutscht Hadow aus, und stößt Croz vom Grat. Croz, der famose Chamoniarde, er schreit, er rudert, dann stürzt er ab und nimmt sie alle mit, erst Hadow, dann Hudson, dann Douglas. Und ehe Taugwalder an der Reihe ist, reißt das Seil, es reißt auseinander wie Zahnseide. Natürlich reißt es, dieses wochenlang durch Frankreich gekarrte Hanfseil mit nullkommanull Normstürzen, ohne Double-Nylon-Core und Dry Shield. Jede Nacht muss ich mit diesem Bild leben, weil ich keinen Einlass bekomme in den Bergsteigerhimmel, ich, der mehr für das Bergsteigen getan hat als jeder andere auf Erden, im Himmel und dazwischen. Ich habe ein Zeitalter geprägt! Man nennt es das Goldene! Es möcht’ kein Hund so länger leben.
Verbittert schwebt Whymper, abermals abgewiesen, hinab zum Matterhorngipfel, wo sich vor 150 Jahren sein Schicksal entschied.
Zweiter Akt
Am Gipfel des Matterhorns, im Abendrot. Jean-Antoine Carrel sitzt bereits am italienischen Gipfel und raucht.
WHYMPER: Carrel!
CARREL: Buonasera.
WHYMPER: Alter Lump. Was machst du denn hier oben?
CARREL: Ich will sichergehen, dass du nicht wieder Steine vom Gipfel schmeißt, an diesem denkwürdigen Tag.
WHYMPER: Ach lass doch die alten Geschichten. Ich hab mit Absicht an dir vorbeigeworfen.
CARREL: Und du wunderst dich, warum oben niemand aufmacht.
Man schweigt.
CARREL: Was ist eigentlich los? Warum sind wir ganz allein? Wir haben doch den 14. Juli?
WHYMPER: Jean, schau, da unten, die ganzen Gendarmen.
CARREL Die sperren den Berg ab.
WHYMPER: Unsäglicher Frevel! Sie rauben dem Menschen sein Recht auf Abenteuer! Ich werde gleich morgen nach London kabeln lassen.
CARREL: Und dann? Soll die Queen eure Hochseeflotte in den Genfer See verlegen? Sei doch froh, dass wir hier unsere Ruhe haben.
WHYMPER: Hast ja recht. Beim 100-jährigen haben sie nichts gesperrt. Da war halb Korea am Berg, aber lustig war‘s trotzdem. Weißt du noch, wie der ohne Steigeisen beim Gipfelfoto ausgerutscht ist?
CARREL: Grad so hab ich ihn noch am Ärmel erwischt. Immer sorgloser werden sie, die Burschen. Aber auf alle können wir halt nicht aufpassen.
WHYMPER: Die armen Teufel. Bei den Zermatter Preisen kann sich keiner mehr einen Bergführer leisten.
CARREL: Bei uns ist‘s billiger. Da braucht man keinen Lord Douglas als Geldgeber!
WHYMPER: Sagt einer, der vom eigenen Finanzminister ausstaffiert wurde...
Carrel, als der Klügere von beiden, schweigt. Akkreditierte Bergführer und Journalisten betreten jetzt den Hörnligrat, um Vorkehrungen für das Feuerwerk zu treffen, das die Festlichkeiten abschließen soll.
WHYMPER: Jetzt zündeln die auch noch an meiner Route rum! Als hätte der Firlefanz im letzten Jahr nicht gereicht.
CARREL: Schau mal nach Breuil. Da passiert nix. Die sind halt zu blöd, den Berg zu vermarkten.
WHYMPER: In der neuen Hörnlihütte halten sie sogar extra die Plätze knapp, damit keine Führerlosen mehr kommen.
CARREL: Das nenne ich Weitsicht!
WHYMPER: Aber der Berg ist nicht mehr derselbe. 1862, auf meiner Solotour–
CARREL: Jaja, ich weiß: „Die Welt war tot und ich ihr einziger Bewohner.“
WHYMPER: Der beste Satz, den ich je geschrieben habe. Öffnet eine Flasche Champagner.
CARREL: Aber dass du beim Abstieg bewusstlos geworden bist, muss ich wieder den Leuten erzählen!
Dritter Akt
Zur gleichen Zeit, an der Hörnlihütte. Reinhold Messnerklopft an der Tür betätigt die Gegensprechanlage.
HÖRNLI-WIRT: Wer da?
MESSNER: Hier ist der Reinhold.
HÖRNLI-WIRT: Beckmann?
MESSNER: Ich muss doch bitten. Messner natürlich!
HÖRNLI-WIRT: Tschuldigens’, Herr Messner, wir haben ja nur noch Journalisten im Haus. Das Jubiläum, Sie wissen ja.
MESSNER: Ach du Elend. Aber in der Führerstube hab’ ich ja meine Ruhe.
HÖRNLI-WIRT: Bedaure, Herr Messner. Alles ausgebucht, der BERGSTEIGER hat die Stube exklusiv gemietet. Redaktionssitzung mit Weißwurschtfrühstück. Wollten Sie übernachten? Wir haben keine Reservation vorliegen.
MESSNER: Reservation? Mein Name ist Messner! Man hat einen Kiosk mir zu Ehren an diesem Berg errichtet! Lassen Sie mich ein!
HÖRNLI-WIRT: Was wollen Sie überhaupt hier?
MESSNER: Das fragen Sie? An diesem geschichtsträchtigen Datum? Ich wollte noch einmal hoch hinaufsteigen, um tief in mich hineinsehen zu können.
HÖRNLI-WIRT: Wer ist denn ihr Bergführer?
MESSNER: Wer ist mein WAS?
HÖRNLI-WIRT: Ohne Führer kein Zutritt. Führerlose sind hier nicht mehr geduldet. Ich fürchte ich kann Ihnen kein–
MESSNER: Ich habe 1985 die Genehmigung erhalten, als erster und einziger Erdenbürger den Göttersitz Kailash zu betreten, und Sie verweigern mir den Zutritt zur Hörnlihütte?
HÖRNLI-WIRT: Mit Verlaub, Herr Messner, die Hörnlihütte ist nach offiziellem Statut der Hörnli-Stiftung ebenfalls ein Sitz der Götter. Aber ich höre, ihr Magen knurrt. Bitte, treten Sie nur ein, sofern Sie die Absicht haben etwas zu verzehren.
Der Hörnliwirt betätigt den Summer, Messner betritt die Hütte. In der Mitte der Stube sitzt der Extrembergsteiger Ueli Steck, der gerade von den anwesenden Journalisten verhört wird. Mit der Ankunft Messners verliert er umgehend jede Aufmerksamkeit.
SPIEGEL ONLINE: Herr Messner, was planen Sie für den morgigen Tag?
STERN TV: Steigen Sie über die Nordwand auf?
SÜDDEUTSCHE: Hat Whymper das Seil angeschnitten?
MESSNER: O wär’ ich nie geboren! Elende Bande! Fragt doch am besten noch, wo mein Bruder geblieben ist!
ARD: Verstehen Sie Spaß?
Messner eilt zurück zur Tür, doch die Zermatter Bergführer versperren den Weg.
ZERMATTER BERGFÜHRER: Keiner verlässt die Hütte.
MESSNER: Aus dem Weg!
ZERMATTER BERGFÜHRER: Das Reglement verlangt es. In dieser Reihenfolge wird bei Tagwacht gestartet. Zeigt auf eine Liste. Ich kann Sie hier auf die Nachrückerliste setzen. Wie heißt Ihr Führer?
UELI STECK: Er ist gerichtet!
STERN TV: Ist gerettet!
Die Traube der Journalisten schließt sich immer enger um Messner, der bereits nicht mehr sichtbar ist. Im Getümmel schnappt sich Steck seinen Rucksack und schleicht sich aus der Hütte. Steck ab.
POSTILLON (via Twitter) Hörnlihütte: Yeti gesichtet!
BILD: zu Messner: Her zu mir! Verschwindet mit Messner.
HÖRNLI-WIRT: Reinhold! Reinhold! Die Speckplatte!
Vierter Akt
Am Gipfel, es ist Nacht. Über den Zmuttgrat steigt John Tyndall auf.
WHYMPER: Tyndall. Ewiger Seilzweiter. Immer noch auf der Suche nach Lord Douglas?
TYNDALL: Ich werde ihn finden, und dann verleiht mir die Queen einen Orden. Der Alpine Club wird zu alter Größe aufsteigen...
CARREL: He, Tyndall, magst du einen Witz hören? Vier Engländer, zwei Schweizer und ein Franzose wollen das Matterhorn besteigen. Am Gipfel sagt der Engländer zum Schweizer: „Jetzt müssen wir uns aber noch was Spektakuläres einfallen lassen. Bisher läuft alles viel zu glatt...“
TYNDALL: Still! Das Matterhorn ist unser Tempel! Wir sollten uns ihm mit Gefühlen nähern, die eines solchen Altars würdig sind. Der Berg ist von grausamer Erhabenheit und insgesamt – aus der Nähe wie aus der Ferne – der grimmigste und wunderbarste Gegenstand in den Alpen.
CARREL: Ich kann ihm nicht folgen. Ich glaube, der Herr Professor hat zu viel in seinen Büchern geblättert. Andernfalls hätte er vielleicht ein Wörtchen bei der Erstbesteigung mitreden können, oder Eddy?
WHYMPER: Ich zitiere: „Während Whymper bereit war, sich an die Spitze zu setzen, verließ sich Tyndall stets auf seinen Bergführer.“
TYNDALL: Armselig. Das Weißhorn ist ohnehin der schönere Berg. Ach Whymper, weißt du eigentlich, warum der Berg heute gesperrt ist?
WHYMPER: Zu Ehren meiner famosen Leistung, selbstredend!
TYNDALL: Knapp daneben. In Gedenken an die mehr als 500 Bergsteiger, die sich in diesem Tempel schon geopfert haben. Wie geht’s dir damit so?
WHYMPER: Wie soll es mir gehen?
TYNDALL: Naja, hättest du damals nicht das Seil angeschnitten, wäre doch nie dieser Mythos entstanden.
WHYMPER: ICH HABE WAS?
Tyndall: Jeder weiß es, Edward. Meine Untersuchungen und die der ETH Zürich haben ergeben, dass nur ein Messerschnitt den Seilriss ausgelöst haben kann. Der Tyndall-Effekt–
WHYMPER: Schweig! Wenn du kein Geist wärst, würde ich dich hier oben ans Kreuz nageln, du aufgeblasener Physikus!
CARREL: Schrei doch nicht so.
WHYMPER: Ich war als erster auf diesem Berg. Ich schreie, so viel ich will!
CARREL: Erster von der Schweizer Seite. Jedes Kind wäre dort hochgekommen!
WHYMPER: Sagt ein Führer, der seinem Klienten wegen einer Murmeltierjagd die Erstbesteigung versaut!
CARREL: Pssst, da kommt jemand.
Fünfter Akt
Kurz vor Mitternacht. Ein Kletterer erreicht den Ausstieg der Nordwand. Er drückt auf eine Stoppuhr und zieht ein GPS-Gerät aus der Jacke.
KLETTERER: Einsvierzehnfünfundvierzig. Da wird er luage, der Dani. Jetzt die Beweise nicht vergessen.
WHYMPER: Tagwohl, Ueli!
Der Kletterer Ueli Steck fährt zusammen und lässt vor Schreck das GPS fallen. Leise klimpert es in die Tiefe.
STECK: Allmächtiger!!
CARREL: Jetzt glaubt’s dir wieder keiner.
STECK: Wer seid ihr?
WHYMPER, CARREL, TYNDALL: Wir sind die Unsterblichen.
STECK: Und ich bin der Unglaubliche. Was macht ihr hier?
WHYMPER: Wir passen auf, dass niemand abstürzt.
CARREL: Und dass niemand das Horn entweiht.
TYNDALL: Manchmal muss man sich da entscheiden.
STECK: Ha, bei mir nicht. Mein Stil ist der beste, und abstürzen tu ich nicht.
CARREL: Darf ich mal die Besteigungsgenehmigung sehen?
STECK (kleinlaut): Ich hab gedacht, es sieht eh keiner, wie an der Annapurna.
CARREL: Schon gut, wir verpetzen dich nicht. Aber lass dir das von Whymper lieber schriftlich geben.
WHYMPER: Hör nicht auf ihn, Ueli. Jetzt wird gefeiert! Gläschen Champagner?
STECK: Danke nein, nur Ovo. Darf ich euch was fragen?
TYNDALL: Nur raus damit.
WHYMPER: Ich hab das Seil nicht durchgeschnitten!
STECK: Wie werde ich so unsterblich wie ihr?
WHYMPER: Ach weißt du Ueli, von der Unglaublichkeit zur Unsterblichkeit ist es nur ein kleiner Schnitt, äh, Schritt. Bleibst du in der Schwebe, bleibst du im Gerede!
STECK: Was meint er?
CARREL: Er meinte, fehlen die Beweise, dreht die Journaille Kreise!
STECK: Ihr Geister habt doch nicht mehr alle Latten am Zaun!
TYNDALL: Ueli, du bist unsere letzte Hoffnung. Der Alpinismus ist am untergehn’, aber nicht mehr wegen Weib und Seife, sondern wegen Web und Selfie. Schau dir das Matterhorn an!
STECK: Was ist damit?
TYNDALL: Es ist zum Zirkus geworden, die Schweizer Seite ist bereits verloren. Niemand ist mehr dem Berg gewachsen. Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist's getan.
WHYMPER: Bla bla. Der Ewig-Weichliche macht uns dumm an.
STECK: Was soll ich tun?
CARREL: Das ist ganz einfach. Du musst nur –
Ein Hubschrauber der Air Zermatt steigt auf wie ein Korken aus der Tiefe. Aus dem Fenster winkt Bruno Jelk, der Steck vom Gipfel abholen soll. Im Wirbel der Rotorblätter lösen sich Whymper und Carrel auf und verschwinden im fahlen Mondlicht.
STECK: Neiiin! Kommt zurück! Was muss ich nur?
TYNDALL (ebenfalls kurz vor der Auflösung, flüsternd): Höre auf den Horu-Chor...
Steck kniet verzweifelt auf dem Gipfel. Aus der Richtung, in die Whymper und Carrel entschwanden, schwebt ein Chor heran und beginnt zu singen.
HORU-CHOR: Oh Italia, lass das bleiben,
halt die höchsten Gipfel rein
vor den Menschen, deren Treiben
nichts ist als gefärbter Schein!
Laß uns diesen Platz noch sauber,
wie der Schöpfer ihn erkor’n,
schütz uns vor dem Städtezauber
droben auf dem Matterhorn!
Edward Whymper, Erstbesteiger des Matterhorns am 14. Juli 1865
Jean-Antoine Carrel, Whympers Konkurrent und späterer Seilgefährte, bestieg das Matterhorn am 17. Juli 1865
John Tyndall, ebenfalls Konkurrent um die Erstbesteigung, aber beiden unterlegen
Reinhold Messner, ehemaliger Extrembergsteiger
Ueli Steck, aktueller Extrembergsteiger
Hörnli-Wirt, Wirt der Hörnli-Hütte
Journalisten
Zermatter Bergführer
Horu-Chor
Erster Akt
Prolog im Himmel (oder knapp davor). Edward Whymper, allein.
WHYMPER: Habe nun, ach! die Barre des Ecrins, den Chimborazo und die Verte, und leider auch das Matterhorn, als erster Mensch bestiegen. Da steh ich nun, ich armer Tor, und komm’ trotzdem nicht in den Bergsteigerhimmel, weil die Idioten mich nicht reinlassen. „Wir hätten da noch letzte Zweifel, Herr Whymper!“ Bullshit! Ich habe das Seil nicht angeschnitten! Es war ein Unfall! Jede Nacht sehe ich sie vor mir, aufgereiht im gleichen Abstand: den tapferen Croz, wie er die Füße des armseligen Hadow setzt, der auf seinen ungenagelten Schuhen – nie hätte man ihn so mitnehmen dürfen, aber Hudson bestand ja darauf, weil sich der Knabe am Mont Blanc so gut geschlagen habe – jedenfalls rutscht Hadow aus, und stößt Croz vom Grat. Croz, der famose Chamoniarde, er schreit, er rudert, dann stürzt er ab und nimmt sie alle mit, erst Hadow, dann Hudson, dann Douglas. Und ehe Taugwalder an der Reihe ist, reißt das Seil, es reißt auseinander wie Zahnseide. Natürlich reißt es, dieses wochenlang durch Frankreich gekarrte Hanfseil mit nullkommanull Normstürzen, ohne Double-Nylon-Core und Dry Shield. Jede Nacht muss ich mit diesem Bild leben, weil ich keinen Einlass bekomme in den Bergsteigerhimmel, ich, der mehr für das Bergsteigen getan hat als jeder andere auf Erden, im Himmel und dazwischen. Ich habe ein Zeitalter geprägt! Man nennt es das Goldene! Es möcht’ kein Hund so länger leben.
Verbittert schwebt Whymper, abermals abgewiesen, hinab zum Matterhorngipfel, wo sich vor 150 Jahren sein Schicksal entschied.
Zweiter Akt
Am Gipfel des Matterhorns, im Abendrot. Jean-Antoine Carrel sitzt bereits am italienischen Gipfel und raucht.
WHYMPER: Carrel!
CARREL: Buonasera.
WHYMPER: Alter Lump. Was machst du denn hier oben?
CARREL: Ich will sichergehen, dass du nicht wieder Steine vom Gipfel schmeißt, an diesem denkwürdigen Tag.
WHYMPER: Ach lass doch die alten Geschichten. Ich hab mit Absicht an dir vorbeigeworfen.
CARREL: Und du wunderst dich, warum oben niemand aufmacht.
Man schweigt.
CARREL: Was ist eigentlich los? Warum sind wir ganz allein? Wir haben doch den 14. Juli?
WHYMPER: Jean, schau, da unten, die ganzen Gendarmen.
CARREL Die sperren den Berg ab.
WHYMPER: Unsäglicher Frevel! Sie rauben dem Menschen sein Recht auf Abenteuer! Ich werde gleich morgen nach London kabeln lassen.
CARREL: Und dann? Soll die Queen eure Hochseeflotte in den Genfer See verlegen? Sei doch froh, dass wir hier unsere Ruhe haben.
WHYMPER: Hast ja recht. Beim 100-jährigen haben sie nichts gesperrt. Da war halb Korea am Berg, aber lustig war‘s trotzdem. Weißt du noch, wie der ohne Steigeisen beim Gipfelfoto ausgerutscht ist?
CARREL: Grad so hab ich ihn noch am Ärmel erwischt. Immer sorgloser werden sie, die Burschen. Aber auf alle können wir halt nicht aufpassen.
WHYMPER: Die armen Teufel. Bei den Zermatter Preisen kann sich keiner mehr einen Bergführer leisten.
CARREL: Bei uns ist‘s billiger. Da braucht man keinen Lord Douglas als Geldgeber!
WHYMPER: Sagt einer, der vom eigenen Finanzminister ausstaffiert wurde...
Carrel, als der Klügere von beiden, schweigt. Akkreditierte Bergführer und Journalisten betreten jetzt den Hörnligrat, um Vorkehrungen für das Feuerwerk zu treffen, das die Festlichkeiten abschließen soll.
WHYMPER: Jetzt zündeln die auch noch an meiner Route rum! Als hätte der Firlefanz im letzten Jahr nicht gereicht.
CARREL: Schau mal nach Breuil. Da passiert nix. Die sind halt zu blöd, den Berg zu vermarkten.
WHYMPER: In der neuen Hörnlihütte halten sie sogar extra die Plätze knapp, damit keine Führerlosen mehr kommen.
CARREL: Das nenne ich Weitsicht!
WHYMPER: Aber der Berg ist nicht mehr derselbe. 1862, auf meiner Solotour–
CARREL: Jaja, ich weiß: „Die Welt war tot und ich ihr einziger Bewohner.“
WHYMPER: Der beste Satz, den ich je geschrieben habe. Öffnet eine Flasche Champagner.
CARREL: Aber dass du beim Abstieg bewusstlos geworden bist, muss ich wieder den Leuten erzählen!
Dritter Akt
Zur gleichen Zeit, an der Hörnlihütte. Reinhold Messner
HÖRNLI-WIRT: Wer da?
MESSNER: Hier ist der Reinhold.
HÖRNLI-WIRT: Beckmann?
MESSNER: Ich muss doch bitten. Messner natürlich!
HÖRNLI-WIRT: Tschuldigens’, Herr Messner, wir haben ja nur noch Journalisten im Haus. Das Jubiläum, Sie wissen ja.
MESSNER: Ach du Elend. Aber in der Führerstube hab’ ich ja meine Ruhe.
HÖRNLI-WIRT: Bedaure, Herr Messner. Alles ausgebucht, der BERGSTEIGER hat die Stube exklusiv gemietet. Redaktionssitzung mit Weißwurschtfrühstück. Wollten Sie übernachten? Wir haben keine Reservation vorliegen.
MESSNER: Reservation? Mein Name ist Messner! Man hat einen Kiosk mir zu Ehren an diesem Berg errichtet! Lassen Sie mich ein!
HÖRNLI-WIRT: Was wollen Sie überhaupt hier?
MESSNER: Das fragen Sie? An diesem geschichtsträchtigen Datum? Ich wollte noch einmal hoch hinaufsteigen, um tief in mich hineinsehen zu können.
HÖRNLI-WIRT: Wer ist denn ihr Bergführer?
MESSNER: Wer ist mein WAS?
HÖRNLI-WIRT: Ohne Führer kein Zutritt. Führerlose sind hier nicht mehr geduldet. Ich fürchte ich kann Ihnen kein–
MESSNER: Ich habe 1985 die Genehmigung erhalten, als erster und einziger Erdenbürger den Göttersitz Kailash zu betreten, und Sie verweigern mir den Zutritt zur Hörnlihütte?
HÖRNLI-WIRT: Mit Verlaub, Herr Messner, die Hörnlihütte ist nach offiziellem Statut der Hörnli-Stiftung ebenfalls ein Sitz der Götter. Aber ich höre, ihr Magen knurrt. Bitte, treten Sie nur ein, sofern Sie die Absicht haben etwas zu verzehren.
Der Hörnliwirt betätigt den Summer, Messner betritt die Hütte. In der Mitte der Stube sitzt der Extrembergsteiger Ueli Steck, der gerade von den anwesenden Journalisten verhört wird. Mit der Ankunft Messners verliert er umgehend jede Aufmerksamkeit.
SPIEGEL ONLINE: Herr Messner, was planen Sie für den morgigen Tag?
STERN TV: Steigen Sie über die Nordwand auf?
SÜDDEUTSCHE: Hat Whymper das Seil angeschnitten?
MESSNER: O wär’ ich nie geboren! Elende Bande! Fragt doch am besten noch, wo mein Bruder geblieben ist!
ARD: Verstehen Sie Spaß?
Messner eilt zurück zur Tür, doch die Zermatter Bergführer versperren den Weg.
ZERMATTER BERGFÜHRER: Keiner verlässt die Hütte.
MESSNER: Aus dem Weg!
ZERMATTER BERGFÜHRER: Das Reglement verlangt es. In dieser Reihenfolge wird bei Tagwacht gestartet. Zeigt auf eine Liste. Ich kann Sie hier auf die Nachrückerliste setzen. Wie heißt Ihr Führer?
UELI STECK: Er ist gerichtet!
STERN TV: Ist gerettet!
Die Traube der Journalisten schließt sich immer enger um Messner, der bereits nicht mehr sichtbar ist. Im Getümmel schnappt sich Steck seinen Rucksack und schleicht sich aus der Hütte. Steck ab.
POSTILLON (via Twitter) Hörnlihütte: Yeti gesichtet!
BILD: zu Messner: Her zu mir! Verschwindet mit Messner.
HÖRNLI-WIRT: Reinhold! Reinhold! Die Speckplatte!
Vierter Akt
Am Gipfel, es ist Nacht. Über den Zmuttgrat steigt John Tyndall auf.
WHYMPER: Tyndall. Ewiger Seilzweiter. Immer noch auf der Suche nach Lord Douglas?
TYNDALL: Ich werde ihn finden, und dann verleiht mir die Queen einen Orden. Der Alpine Club wird zu alter Größe aufsteigen...
CARREL: He, Tyndall, magst du einen Witz hören? Vier Engländer, zwei Schweizer und ein Franzose wollen das Matterhorn besteigen. Am Gipfel sagt der Engländer zum Schweizer: „Jetzt müssen wir uns aber noch was Spektakuläres einfallen lassen. Bisher läuft alles viel zu glatt...“
TYNDALL: Still! Das Matterhorn ist unser Tempel! Wir sollten uns ihm mit Gefühlen nähern, die eines solchen Altars würdig sind. Der Berg ist von grausamer Erhabenheit und insgesamt – aus der Nähe wie aus der Ferne – der grimmigste und wunderbarste Gegenstand in den Alpen.
CARREL: Ich kann ihm nicht folgen. Ich glaube, der Herr Professor hat zu viel in seinen Büchern geblättert. Andernfalls hätte er vielleicht ein Wörtchen bei der Erstbesteigung mitreden können, oder Eddy?
WHYMPER: Ich zitiere: „Während Whymper bereit war, sich an die Spitze zu setzen, verließ sich Tyndall stets auf seinen Bergführer.“
TYNDALL: Armselig. Das Weißhorn ist ohnehin der schönere Berg. Ach Whymper, weißt du eigentlich, warum der Berg heute gesperrt ist?
WHYMPER: Zu Ehren meiner famosen Leistung, selbstredend!
TYNDALL: Knapp daneben. In Gedenken an die mehr als 500 Bergsteiger, die sich in diesem Tempel schon geopfert haben. Wie geht’s dir damit so?
WHYMPER: Wie soll es mir gehen?
TYNDALL: Naja, hättest du damals nicht das Seil angeschnitten, wäre doch nie dieser Mythos entstanden.
WHYMPER: ICH HABE WAS?
Tyndall: Jeder weiß es, Edward. Meine Untersuchungen und die der ETH Zürich haben ergeben, dass nur ein Messerschnitt den Seilriss ausgelöst haben kann. Der Tyndall-Effekt–
WHYMPER: Schweig! Wenn du kein Geist wärst, würde ich dich hier oben ans Kreuz nageln, du aufgeblasener Physikus!
CARREL: Schrei doch nicht so.
WHYMPER: Ich war als erster auf diesem Berg. Ich schreie, so viel ich will!
CARREL: Erster von der Schweizer Seite. Jedes Kind wäre dort hochgekommen!
WHYMPER: Sagt ein Führer, der seinem Klienten wegen einer Murmeltierjagd die Erstbesteigung versaut!
CARREL: Pssst, da kommt jemand.
Fünfter Akt
Kurz vor Mitternacht. Ein Kletterer erreicht den Ausstieg der Nordwand. Er drückt auf eine Stoppuhr und zieht ein GPS-Gerät aus der Jacke.
KLETTERER: Einsvierzehnfünfundvierzig. Da wird er luage, der Dani. Jetzt die Beweise nicht vergessen.
WHYMPER: Tagwohl, Ueli!
Der Kletterer Ueli Steck fährt zusammen und lässt vor Schreck das GPS fallen. Leise klimpert es in die Tiefe.
STECK: Allmächtiger!!
CARREL: Jetzt glaubt’s dir wieder keiner.
STECK: Wer seid ihr?
WHYMPER, CARREL, TYNDALL: Wir sind die Unsterblichen.
STECK: Und ich bin der Unglaubliche. Was macht ihr hier?
WHYMPER: Wir passen auf, dass niemand abstürzt.
CARREL: Und dass niemand das Horn entweiht.
TYNDALL: Manchmal muss man sich da entscheiden.
STECK: Ha, bei mir nicht. Mein Stil ist der beste, und abstürzen tu ich nicht.
CARREL: Darf ich mal die Besteigungsgenehmigung sehen?
STECK (kleinlaut): Ich hab gedacht, es sieht eh keiner, wie an der Annapurna.
CARREL: Schon gut, wir verpetzen dich nicht. Aber lass dir das von Whymper lieber schriftlich geben.
WHYMPER: Hör nicht auf ihn, Ueli. Jetzt wird gefeiert! Gläschen Champagner?
STECK: Danke nein, nur Ovo. Darf ich euch was fragen?
TYNDALL: Nur raus damit.
WHYMPER: Ich hab das Seil nicht durchgeschnitten!
STECK: Wie werde ich so unsterblich wie ihr?
WHYMPER: Ach weißt du Ueli, von der Unglaublichkeit zur Unsterblichkeit ist es nur ein kleiner Schnitt, äh, Schritt. Bleibst du in der Schwebe, bleibst du im Gerede!
STECK: Was meint er?
CARREL: Er meinte, fehlen die Beweise, dreht die Journaille Kreise!
STECK: Ihr Geister habt doch nicht mehr alle Latten am Zaun!
TYNDALL: Ueli, du bist unsere letzte Hoffnung. Der Alpinismus ist am untergehn’, aber nicht mehr wegen Weib und Seife, sondern wegen Web und Selfie. Schau dir das Matterhorn an!
STECK: Was ist damit?
TYNDALL: Es ist zum Zirkus geworden, die Schweizer Seite ist bereits verloren. Niemand ist mehr dem Berg gewachsen. Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ist's getan.
WHYMPER: Bla bla. Der Ewig-Weichliche macht uns dumm an.
STECK: Was soll ich tun?
CARREL: Das ist ganz einfach. Du musst nur –
Ein Hubschrauber der Air Zermatt steigt auf wie ein Korken aus der Tiefe. Aus dem Fenster winkt Bruno Jelk, der Steck vom Gipfel abholen soll. Im Wirbel der Rotorblätter lösen sich Whymper und Carrel auf und verschwinden im fahlen Mondlicht.
STECK: Neiiin! Kommt zurück! Was muss ich nur?
TYNDALL (ebenfalls kurz vor der Auflösung, flüsternd): Höre auf den Horu-Chor...
Steck kniet verzweifelt auf dem Gipfel. Aus der Richtung, in die Whymper und Carrel entschwanden, schwebt ein Chor heran und beginnt zu singen.
HORU-CHOR: Oh Italia, lass das bleiben,
halt die höchsten Gipfel rein
vor den Menschen, deren Treiben
nichts ist als gefärbter Schein!
Laß uns diesen Platz noch sauber,
wie der Schöpfer ihn erkor’n,
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