Das 60. Trento Film Festival
Venedig hat seinen Löwen, Berlin seinen Bären und Trento seinen Enzian. Jeweils in golden. Regisseur Victor Kossakowsky hat jetzt auch einen solchen Goldenen Enzian. Der russische Regisseur hat mit seinem Kinofilm »Vivan las Antipodas« den Hauptpreis des Trento Film Festival 2012 gewonnen. Die Begründung der internationalen Jury lautete, Kossakowsky habe mit seinem Film »eine unvergessliche Hommage an die Vielfalt, Schönheit und das Alter von Mutter Erde« geschaffen.
Das klingt reichlich pathetisch. Tatsächlich erzählt der Dokumentarfilmer eine spannende Geschichte über Menschen, die an den genau entgegengesetzten Punkten der Erde leben. Entre Ríos in Argentinien hat dadurch plötzlich etwas zu tun mit Shanghai in China. Ein friedlicher, südamerikanischer Sonnenuntergang steht im krassen Gegensatz zu den turbulenten, verregneten Straßen der asiatischen Metropole. Alleine dadurch, dass der Film Gegensatzpaare wie dieses nebeneinander setzt, stellt er eine poetische Frage: Besteht möglicherweise eine mystische Verbindung zwischen den Orten und gar zwischen ihren Menschen?
Dennoch bleibt der Gewinnerfilm auf dem Boden der Realität. Und diese ist es, was die meisten der diesjährigen Filme in Trento ausmachte. Sei es ein nepalesischer Junge, der nicht in die Schule gehen kann, weil er keine Hosen hat (»Puneko Pant«), ein traditionsreicher Chor aus dem Trentino, der die Bergwelt besingt (»Una storia que in ... canta«), die Dokumentation über das junge, tschechische Klettertalent Adam Ondra (»The Wizard‘s Aprrentice«) oder ein fiktionaler Film über die Rolle nepalesischer Frauen (»Chaukath / Treshold«) – die Filme zeigen verschiedenste Aspekte menschlicher Realität, die sich an unterschiedlichen Punkten der Erde zur fast gleichen Zeit abspielen.
Vom einfachen Film bis zum Meisterwerk
Vom Dokumentarfilm allerstrengster Schule – keine Dramaturgie, einfach Kamera an und Menschen Fragen stellen und das Moment des Fragens im endgültigen Film belassen – bis hin zum cineastisch komponierten Werk für die große Leinwand und das große Publikum ist alles dabei.
Das Besondere ist in Trento seit jeher und bereist zum 60. Mal der Bezug zu den Bergen. Was eine Veranstaltung über die Jahre ersticken könnte, wird dadurch aufgelockert, dass die Macher den Begriff des Berges mittlerweile sehr weit fassen und auch fiktionale Filme ihren Platz im Festivalkalender finden, die schlicht und ergreifend in einer Bergregion spielen.
Kein typischer Bergfilm: »La Nuit Nomade«
So treffen Cineasten und Bergsteiger aufeinander. Während der eine sich die internationalen Kino-Perlen herauspickt, spechtet der andere darauf, im »Campo Base« betitelten Verpflegungszelt vielleicht einen Satz mit Reinhold Messner oder Alexander Huber zu tauschen oder Adam Ondra dabei zuzuhören, wie er in brüchigem Italienisch versucht, seine Passion Klettern zu vermitteln.
Die Internationalität des Festivals wird zwar in seinen offiziellen Kommuniqués gerne herausgestellt. Tatsächlich sind die Filmtage in Trento jedoch eine zutiefst italienische Sache. Das ist nach 60 Jahren Filmfest ehrlich gesagt verdammt unprofessionell. Es ist aber andererseits auch wieder zutiefst sympathisch. Trotz seiner oberflächlichen Geschäftigkeit, die sich in einem vollgestopften Programm manifestiert, geht das fast zweiwöchige Geschehen reichlich unaufgeregt über die Bühne. Was natürlich auch daran liegt, dass die Stars hier nicht in Limousinen vorfahren, denen sie im Frack oder auf Highheels entsteigen, sondern dass man sie zu Fuß im Einheits-Funktions-Look kaum von ihren Fans unterscheiden kann. Der Glamour-Faktor, er liegt in Trento in den Filmen selbst.
Die Gewinner des 60. Trento Film Festival:
Goldener Enzian der Stadt Trento: »Vivan las Antipodas«, Deutschland / Argentinien / Holland / Chile 2011, Regie: Viktor Kossakowski
Goldener Enzian des Club Alpion Italiano für den besten Kletter- oder Bergfilm: »Verticalmente démodé«, Italien 2012, Regie: Davide Carrari
Goldener Enzian der Stadt Bozen für den besten Entdecker- oder Abenteurerfilm: »La nuit nomade«, Frankreich 2011, Regie: Marianne Chaud
Preis der Jury: »Strong - A Recovery Story«, Ungarn 2011, Regie: Andras Hovat Kollmann
Kritikerpreis 2012: »L‘Enfant d‘en haut«, Frankreich/ Schweiz 2012, Regie: Ursula Meier
Von Sandra Zistl