Winterträume im Herbst | BERGSTEIGER Magazin
Wandern im Verwall - dank Winterräumen auch im Herbst eine Option

Winterträume im Herbst

Jahr für Jahr das gleiche: Wenn es in den Bergen am schönsten wird, haben einige Hütten bereits geschlossen. Winterräume wie im Verwall machen es möglich, auch dann in den Bergen zu nächtigen – und sie in absoluter Einsamkeit zu erleben.

 
Winterträume im Herbst © Michael Pröttel
Sonne satt und keine Menschenseele unterwegs: Rast an der Saumspitze
Wohltuend rauschen die goldgelben Lärchenzweige im lauen Herbstwind. Von der gegenüberliegenden, schattigen Talseite dröhnt hingegen bereits das Geräusch von Pistenraupen herüber. Akribisch wird der erste Herbstschnee planiert, um die Pisten möglichst früh nutzen zu können. Für Silke und mich ist das kein schlechtes Zeichen. Schließlich hängt unser Erfolg auch vom »Weißen Gold« ab. Bei strahlendem Sonnenschein starten wir in Ischgl zu einer dreitägigen Verwall-Runde, die uns zur Darmstädter und zur Niederelbehütte führen soll. Dass auf beiden Alpenvereinsunterkünften seit Wochen die Schotten dicht sind, ist uns mehr als recht: Wir wollen das Gebirge für uns alleine haben!

Wasserversorgung ungewiss

Obwohl von den riesigen Skiresorts Arlberg und Ischgl umgeben, ist es um die Verwallgruppe ruhig geblieben. Wenig besucht und unbekannt sind auch ihre drei höchsten Gipfel Hoher Riffler, Kuchen- und Küchlspitze. Trotzdem: Was wir jetzt, Ende Oktober, erleben, ist auch für diese Gebirgsregion ungewöhnlich. Mutterseelenallein sind wir auf dem Anstieg zur Doppelseescharte unterwegs. Da wir auch keine Hüttenwirte antreffen werden, füllen wir am Madleinsee nochmal alle Trinkflaschen bis zum Anschlag auf. Sicher ist sicher. Bis jetzt war der südseitige Anstieg komplett schneefrei. Erst oben werden wir einschätzen können, ob bei der Hütte genug Schnee liegt, um Teewasser zu schmelzen. Auf den klitzekleinen, in der Karte vermerkten See wollen wir uns lieber nicht verlassen.

Kurz vor der 2786 Meter hohen Doppelseescharte berühren Silkes Bergschuhe dann doch das erste Schneefeld. Keine Viertelstunde später wird es an der Scharte spannend. Zwar zeigt der Tiefblick zur genau an der Schneegrenze gelegenen Darmstädter Hütte, dass wir unsere Spaghetti nicht als Rohkost zu uns werden nehmen müssen. Dort müssen wir aber erst einmal hinkommen. Der steile Einstieg in den nordseitigen Abstieg schaut jedenfalls nicht ohne aus. Bald aber zeigt sich: Eine Idealmischung aus Schneehöhe und Schneekonsistenz macht den Abstieg Richtung Hütte nicht zum nervenaufreibenden, sondern zum knieschonenden Erlebnis.

Gas statt Holz in der Darmstädter Hütte

Im flacheren Gelände fordert die Spurarbeit dann doch ihren Tribut. Mit müden Oberschenkeln erreichen wir das Ziel. Die Tür ist mit einem dicken Holzpfosten verkeilt. Hier braucht es keinen Schlüssel, sondern einen beherzten Tritt – und schon steht dem gemütlichen Abend nichts mehr im Weg. Der urige Winterraum hat allerdings einen kleinen Schönheitsfehler: Auf der Darmstädter Hütte wird außerhalb der Bewirtschaftungszeit nicht auf dem Holzofen, sondern mit einem schlichten Gasherd gekocht. Doch dank moderater Temperaturen und gutem Rotwein macht uns das nichts weiter aus. Beim Einschlafen hoffe ich allerdings schon, dass uns auf der nächsten Hütte, der Niederelbehütte, das Knistern brennender Lärchen-Scheite in den Schlaf wiegen wird. Bis es soweit ist, steht eine lange Etappe bevor. Freilich könnten wir uns mit dem fünfstündigen, wohl weitgehend schneebedeckten Hoppe-Seyler-Weg begnügen.

Einen waschechten, genau auf dem Weg liegenden Dreitausender auszulassen, wäre aber eine Schande. Deswegen nehmen wir am nächsten Tag die Trittspuren Richtung Schneidjöchl dankend an. Doch schon bald verlaufen sich die kräfteschonenden Steighilfen. Hoffentlich hat dessen einsamer Erzeuger nicht selbiges getan. Am 2841 Meter hohen Übergang trennen uns nur knapp 200 Höhenmeter von der heiß ersehnten Saumspitze. Die aber haben es in sich. Ungeduldiger Gipfeldrang führt zu einem ausgewachsenen Verhauer, der erst durch Silkes Spürnase wett gemacht wird. Eine kurze Kletterstelle, eine quälende Querung und eine weglose Westflanke später wissen wir, warum der Anstieg zum siebthöchsten Verwall-Gipfel nicht in der AV-Karte eingezeichnet ist.

Keine Menschenseele im Verwall

Schuhe aus, Brotzeit raus, und das Gipfelmeer genießen. Stundenlang könnten wir es auf der Saumspitze aushalten. Unbestritten aber ist: Ende Oktober verschwindet die Sonne früher als einem lieb ist. Und bis zum nächsten Winterraum ist es nach wie vor kein Katzensprung. Wie am Vortrag folgt einer rasanten »Abfahrt« vom Schneidjöchl langwieriges Spuren. Nicht nur einmal breche ich im Vergrösskar durch die Schneedecke in heimtückisches Blockgelände ein. Zum Glück ist die Steilstufe, die zur Kieler Wetterhütte führt, fast schneefrei. Kurz bevor die Fatlarspitze letzte Sonnenstrahlen schluckt, erreichen wir die 2800 Meter hoch gelegene Notunterkunft. Uns beiden schießt der gleiche Gedanke durch den Kopf: Hier oben zu übernachten wäre bestimmt ein Erlebnis.

Holz, Schnee und Ofen sind vorhanden. Ein spartanisches Hochbett treibt uns dann aber doch ins Fatlartal weiter. Mit der Dämmerung erreichen wir die Niederelbehütte. Die Ausstattung des Winterraums lässt unsere Stimmung weiter steigen: Ein kleiner Holzofen wartet ungeduldig darauf, endlich gefüttert zu werden. Zudem haben wir von der Hütte aus einen Parade- Blick zur Kreuzjochspitze. Der aussichtsreiche Fast-Dreitausender soll morgen den gleichermaßen gemütlichen wie krönenden Abschluss unserer Verwall-Tour bilden. Und auch bei dieser Tour bleibt alles wie gehabt: Wir begegnen nicht einer Menschenseele – trotz absolutem Kaiserwetter.
Winterträume im Herbst - Text und Fotos: Michael Pröttel
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 11/2013. Jetzt abonnieren!
 
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