Über die Faszination Wandern | BERGSTEIGER Magazin
Neue Nomaden

Über die Faszination Wandern

Zu Beginn der Menschheit sicherte das Gehen – und natürlich Sammeln und Jagen – das Überleben. Heute gibt es ebenfalls wieder Menschen, die mit dem Gehen ihren Lebensunterhalt verdienen. Nur ein bisschen anders als früher.
 
Laufen, essen, nur nicht schlafen: Teilnehmer der 24-Stunden-Wanderung zwischen Tegernsee und Schliersee © Dagmar Steigenberger
Laufen, essen, nur nicht schlafen: Teilnehmer der 24-Stunden-Wanderung zwischen Tegernsee und Schliersee
Christine Thürmer hat ein Buch geschrieben. "Laufen. Essen. Schlafen.", heißt es. Wie der Titel schon verspricht, handelt es von den banalsten Dingen des Lebens. Trotzdem hat es die Autorin damit bereits auf Platz acht in die Bestsellerliste des Spiegels geschafft. Nun ist Christine Thürmer nicht Hape Kerkeling, der dann mal weg war und ein Buch darüber geschrieben hat, das inzwischen verfilmt wurde.

Christine Thürmer ist eine Durchschnittsdeutsche Ende 40, die – gut, das hat sie mit Kerkeling gemeinsam – durchschnittlich sportlich ist (nach eigenen Angaben) und ihr durchschnittliches Leben vor acht Jahren hinter sich ließ. Seither wandert die Ex-Managerin, und zwar überdurchschnittlich viel: 33 000 Kilometer zu Fuß, 30 000 Kilometer mit dem Fahrrad und 6500 Kilometer mit dem Boot hat sie in den vergangenen Jahren zurückgelegt. Ohne festes Zuhause, dafür mit dem Zelt und sechs Kilo Gepäck im Rucksack. Wenn sich ihr Buch gut verkaufe, rechnete die Zahlen-Begeisterte in einem Radio-Interview vor, reiche ihr Erspartes, um auch noch als 92-Jährige zum Wandern gehen zu können.

Unterwegs in Zeitlupe

Wandern – ein Sport, der lange Zeit das angestaubte Image von Karohemd und Kniebundhosen mit sich herumtrug – ist wieder salonfähig. "Das Publikum wird immer jünger", stellt auch der Berchtesgadener Bergführer Toni Grassl fest. Veranstalter wie er erreichen mit ihren Angeboten an 24- und 36-Stunden-Touren zum Teil mehr als 200 Anmeldungen pro Event. Menschen wie Thorsten Hoyer wandern nonstop drei Tage und Nächte durch und ziehen damit das Interesse von Sponsoren auf sich. Schriftsteller wie der Kroate Edo Popovic verfassen 170 Seiten dicke Anleitungen zum Gehen. Und Künstler wie der britische "Walking Artist" Hamish Fulton erheben das Wandern zur erfahrbaren Kunst, indem sie gemeinsam mit hunderten Freiwilligen eine Fünf-Minuten-Distanz zu einer einstündigen Tour im Zeitlupentempo ausdehnen. So geschehen beim Auftakt zur Kunstreihe "nockART" in Bad Kleinkirchheim vor drei Jahren.

Christine Thürmer
Wander-Autorin Christine Thürmer

"Wandern entschleunigt", erklärt sich Bergführer Grassl den Boom dieser Sportart. "Die Menschen schätzen die Natur wieder sehr viel mehr." Und warum suchen so viele Wanderlustige die Herausforderung von 24-Stunden-Touren? "Solche Angebote ermöglichen ganz normalen Menschen, ihre Grenzen auszuloten, ohne dass sie sich groß vorbereiten oder selbst organisieren müssen." Für gestresste Büroarbeiter wird das Wandern zur kalkulierten Extremerfahrung – egal ob man sich nun zum Ziel setzt, extrem weit, extrem lang oder wie "Walking Artist" Fulton extrem langsam zu gehen.

Was heute als extrem gilt, war früher so banal wie existenziell. Gehen bedeutete Überleben. In der Natur unterwegs sein, gar die Pflanzen, Tiere und deren Lebensgewohnheiten zu kennen, das gehörte für die Vorfahren des Homo sapiens so selbstverständlich zum Leben dazu wie für uns der Supermarkt um die Ecke, wie das Telefon oder das Internet. Dank Pizzaservice, Lieferando und Co. muss man sich heute nicht mal mehr aus dem Haus bewegen, um die lebensnotwendige Nahrung zu bekommen. Doch der Trend zur Bequemlichkeit kann auch eine Falle sein: Schon suchen die ersten den Weg aus der Komfortzone und sehnen sich nach dem Ursprünglichen, was das Leben eigentlich ausmacht. Eben nach dem, was Christine Thürmer mit den drei Begriffen Laufen, Essen, Schlafen zusammenfasst. Man muss ja nicht gleich zurück in die Steinzeit, einen Hirschen jagen und ihn dann roh verspeisen. Nur ein bisschen relativieren, inwiefern Geschwindigkeit und Komfort tatsächlich so große Vorteile mit sich bringen.
 
Dagmar Steigenberger
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 08/2016. Jetzt abonnieren!
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