Der Klimawandel in den Alpen | BERGSTEIGER Magazin
Das Ende der Ewigkeit

Der Klimawandel in den Alpen

Bergstürze, Muren, Gletscherschmelze: Die gestiegenen Durchschnittstemperaturen haben den Bergen in den vergangenen Jahren stark zugesetzt. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Für manche hat dieser rasante Wandel der Bergwelt aber auch seinen Reiz.

 
Immer neue Gletscherseen zeigen den Rückgang des Eises am Großglockner an. © mauritius images / Danita Delimont / Martin Zwick
Immer neue Gletscherseen zeigen den Rückgang des Eises am Großglockner an.

Der Patient lebt inzwischen zurückgezogen; deshalb ist der Weg zu ihm selbst in dieser hier so vortrefflich für das Auto erschlossenen Alpenwelt ein verdammt weiter: über Lienz nach Heiligenblut, teures Mautticket, viele Kurven auf der Großglocknerstraße, später noch mehr Kurven, dann die Kaiser-Franz-Josefs-Höhe, 2369 Meter. Der gerne als »ewig« bezeichnete Gletscher der Pasterze ist im Nebel schemenhaft zu erkennen. Wo früher einmal Eis war, sieht man heute vor allem Wasser und Geröll. 

Oberhalb davon steht auf der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe der Gletscherforscher Andreas Kellerer-Pirklbauer von der Universität Graz und sagt Gletscherforscher-Sätze, die sehr nach Endlichkeit klingen: Dass durch die Schmelze möglicherweise irgendwann ein großes Stück der Pasterzenzunge da unten zwischen Wasser und der gewaltigen Flanke des Großglockners abreißen wird, weg vom Restgletscher, der ihn nährt. »Und das wird dann eine große Toteismasse geben.«


Gletschersterben: Ohne Verbindung zur immer höher gelegenen Nährzone werden die Giganten zu Toteis.
Foto: mauritius images / Christian Zappel
 

Das ist für den gemeinhin romantisch veranlagten Alpenfreund dann schon eine brutale Botschaft: Das Eis im Gebirge ist immer öfter mehr tot als ewig. Andererseits braucht niemand behaupten, dass diese Entwicklung über Nacht passiert wäre. Und man muss wohl mindestens die Selbstgefälligkeit eines amerikanischen Präsidenten mitbringen, um nicht akzeptieren zu wollen, dass das Klima seit einiger Zeit auch wegen der menschlichen Einflüsse ziemlich am Rad dreht. Schon nach einem Besuch in der Gletscher-Ausstellung im gewaltigen Betonbunker auf der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe wird klar, in welcher Geschwindigkeit die Pasterze und nahezu alle anderen Alpengletscher den Bach hinuntergehen. 

Etwa die Hälfte ihrer Fläche haben die Gletscher seit dem letzten Höchststand Mitte des 19. Jahrhunderts verloren. Die Pasterze hat in diesem Zeitraum als immer noch größter Gletscher der Ostalpen zwei Kilometer an Länge eingebüßt, alleine im vergangenen Jahrzehnt ist sie pro Jahr durchschnittlich 40 Meter kürzer und fast fünf Meter dünner geworden. Noch eindrücklicher als diese Zahlen ist die Verbildlichung des Schwunds, wie sie in der Ausstellung zu sehen ist: Wäre vor 170 Jahren noch der 324 Meter hohe Eiffelturm an der für Messungen wichtigen Burgstalllinie auf knapp 2500 Metern von Eis bedeckt gewesen, hätte heute gerade noch der vergleichsweise zwergenhafte Stephansdom mit seinen 137 Metern Platz darin. Die Talstation der Standseilbahn, die bei ihrem Bau 1963 unweit des damaligen Gletscherlevels endete, ist deshalb inzwischen einen ordentlichen Fußmarsch vom Eis entfernt. 

Tendenz zur Rekordschmelze

Die Gletscher haben ja auch schon so einiges hinter sich, unter anderem eine Ötzi-Ausaperung 1991 und den Jahrhundert-Sommer 2003, als sich die meisten Menschen eher um die reibungslose Bierversorgung für tägliche Grillfeiern als um eine Schmelze in den Alpen sorgten. Für das glaziologische Jahr 2016/17 sind die genauen Messwerte noch nicht bekannt. Diese werden im Falle Österreichs und damit der Pasterze erst Anfang 2018 von Kellerer-Pirklbauer und seinem Grazer Kollegen Gerhard Lieb als Leitern des Alpenvereins-Gletschermessdienstes veröffentlicht (siehe Kasten). Aber eine Tendenz war für Lieb schon vor den Messungen im September klar: »Die ersten Signale gehen in die Richtung, dass die Werte des Sommers 2003 erreicht werden könnten. Die Bedingungen sind insgesamt ähnlich ungünstig gewesen.« Nur zwei Sommer waren gemäß der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) in Innsbruck in der 251-jährigen Messgeschichte Österreichs wärmer als der vergangene.

Die spektakulären Folgen der hohen Temperaturen haben es längst bis über die Alpen hinaus in die Medien geschafft: der wegen Hitze eingestellte Sommerskibetrieb am Stilfser Joch etwa, die Funde von mehreren Gletscherleichen in den Stubaier Alpen, am Tsanfleuron-Gletscher und am Mont-Blanc-Massiv sowie die Abbrüche gewaltiger Eismassen am Triftgletscher in der Schweiz. 

Abschied von der weißen Zierde

Dagegen sind die genauen Auswirkungen auf die Pasterze schwer abzusehen. Denn ein derart großer Alpengletscher reagiert auf Temperaturanstiege zeitverzögert – ähnlich einem aus dem Tiefkühlschrank geholten Eisblock, der keineswegs sofort auftaut. »Wenn wir rein nach den Temperaturen gehen, müssten die Gletscher schon viel kleiner sein«, sagt Kellerer-Pirklbauer. Ein gesunder Gletscher bestehe in etwa aus zwei Dritteln Nährgebiet. Bei der Pasterze betrage dieser Wert am Ende des Haushaltsjahres inzwischen oft nur noch zehn Prozent. »Der Gletscher muss gesundschrumpfen«, sagt Kellerer-Pirklbauer. Und Lieb meint: »Es ist zu erwarten, dass die Ostalpen weitgehend entgletschern werden.« 


Noch gibt es Eis an der Wildspitze. Ein Gletscherlehrpfad klärt über die Vorgänge auf. Foto: mauritius images/Rainer Mirau

Unter Experten herrscht weitgehend Konsens, dass mit den wärmeren Temperaturen die morphopdynamischen Prozesse zunehmen werden, sprich: Der Berg gerät noch stärker in Bewegung. Vom Gletscher frei gegebene Wände brechen aus, das Schmelzen des Permafrosts destabilisiert Bergflanken, höhere Intensitäten von Starkniederschlägen verursachen Rutschungen und Muren. Neben der örtlichen Bevölkerung sind davon auch Wanderwege und Hüttenzustiege betroffen. So musste im vergangenen Sommer wegen des Gletscherrückgangs und des immer stärker zunehmenden Steinschlags beispielsweise eine 142 Meter hohe Hängebrücke über die Schlucht des Gurgler Ferners bei Obergurgl-Hochgurgl gespannt werden, aus Sicherheitsgründen, wie es seitens der Initiatoren heißt. Die Kosten beliefen sich allein dafür auf 411 000 Euro. 

Das Thema Gletscherschwund ist aber nicht nur zum Synonym für den Klimawandel geworden, sondern auch zu einer Frage der Perspektive, nach dem Motto: Wenn sich schon der Verlust der Gletscher nicht aufhalten lässt, dann können wir zumindest an der Einstellung dazu arbeiten. Lieb, der alles andere als ein Verharmloser sein möchte, plädiert beispielsweise für eine »Ent-Emotionalisierung« der Gletscher. »Viele sehen Gletscher als weiße Zierde, die kulturgeschichtlich positiv besetzt sind.« Dabei sei er wirtschaftlich so gut wie kein Faktor, von kleineren Ausnahmen wie Sommerskigebieten abgesehen. Auch mag der Gletscher zwar ein Indikator für den Klimawandel sein, doch bereitet der die wahren Probleme laut Lieb anderswo: »Die sind in Afrika. Oder entstehen durch den ansteigenden Meeresspiegel.« Warum dennoch auch viele nicht direkt Betroffene das Verschwinden der weißen Flächen als tragisch werten, hat laut Lieb oft eher etwas mit der Ästhetik als mit der Angst vor Naturgefahren zu tun: »Alte Gletscherbilder werden als schön konnotiert, neue als eher bestürzend.« 

Neue Perspektiven

Was gerne vergessen wird: Das Verschwinden der weißen Flächen setzt noch andere Prozesse in Gang als Erdrutsche und Steinschläge und die Ent-Romantisierung des Hochgebirges. Wo gestern noch Eis war, entstehen neue Lebensräume, die ihrerseits wiederum die Forschung in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen beleben. Wer einem Vegetationsgeografen oder Biologen zuhört, muss beispielsweise zu dem Schluss kommen, dass es kaum etwas Besseres gibt als so ein Gletschervorfeld. Schon innerhalb der ersten ein, zwei Jahre besiedeln Pflanzen und Tiere das neue Biotop, ein Forschungsfeld par Excellence. Auch für einen Gletscherarchäologen wie Harald Stadler entstehen ganz neue Möglichkeiten. Schneeschuhe, Kerbhölzer, Flugzeuge und Ötzis gibt das Eis neuerdings in immer kürzeren Abständen preis. Und Stadler sagt ganz offen: »Ich hoffe zwar nicht auf den Klimawandel. Aber ich nutze die Gelegenheit.« 

Auch in der Gletscherausstellung an der Franz-Josefs-Höhe ist ein Relikt aus dem Eis der Pasterze zu sehen: eine 6000 Jahre alte Zirbe. Direkt daneben wurde eine streitbare Fotomontage darüber erstellt, wie die Region in Zukunft einmal aussehen könnte: Anstelle der Pasterze liegt ein Bergsee, an den Flanken des Großglockners hängen nur noch ein paar Eisreste. Lieb meint mit einem Grinsen: »Immerhin ist die Kulisse des Großglockners gewaltiger geworden. Relativ gesehen ist er ja 250 Meter höher.« 

 

Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 01/2018. Jetzt abonnieren!
 
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