Ein verstecktes Hüttensystem in der Neuen Welt | BERGSTEIGER Magazin
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Ein verstecktes Hüttensystem in der Neuen Welt

Nach einem Auslandssemester in Österreich ist der Amerikaner Jeff Gould verwöhnt, was die Infrastruktur in den Bergen angeht. In den White Mountains im US-Bundesstaat New Hampshire hat der Bergsteiger-Leser schließlich ein Hüttensystem gefunden, das an das der Alpen herankommt.
 
 
© Jeff Gould
Urige Unterkunft: die Lake of the Clouds Hut in den White Mountains
Wenn man an die Berge in den Vereinigten Staaten denkt, tauchen wahrscheinlich Bilder der Rocky Mountains im Kopf auf.  Dieses Gebirge ist zweifelsohne außerordentlich spektakulär,  geprägt von unberührter Natur, großen Nationalparks, und Bergeinsamkeit – alles was das Bergsteigerherz begehrt. Dort sind aber die meisten Gebiete weit abgelegen von der nächsten Siedlung.  Weil die Hütten dort nur mit großer Schwierigkeit entsprechend versorgt werden könnten, gibt es dort kein Hüttensystem für Wanderer und man muss für das Unterwegsein alles selbst mitschleppen: Zelt, Kocher Schlafsack, und Proviant.  Wegen Letzterem muss man auch mit Grizzly Bären rechnen!

Für mich ist dieses ganze Szenario ein Problem.  Warum, fragen Sie sich?  Ganz einfach eigentlich.  Ich bin waschechter Amerikaner aus New Jersey und eingefleischter Steirer Bua.  Diese komische Tatsache ist zustande gekommen, da ich in 1982/83 als Austauschstudent an der Universität Graz war.  Während meiner Grazer Zeit bin ich ein echter Bergfex geworden.  Im Laufe der letzten 36 Jahre habe ich über 70 Alpenvereinshütten besucht.  Ich habe mich also längst daran gewöhnt, am Ende eines anstrengenden Wandertages Unterschlupf auf einer urigen Berghütte zu finden.  In New Jersey, wo die 30 km entlegene Skyline von New York City meine „Hausberge“ sind, können die Rocky Mountains ohne Hüttennetz meine Leidenschaft für die Berge kaum besänftigen.

Ich habe aber eine Lösung in der unmittelbaren Nähe gefunden (für uns in den Staaten ist eine Entfernung von 7 Stunden mit dem Auto ein Katzensprung) und zwar, die White Mountains (das weiße Gebirge) im Bundesland New Hampshire mit dem König, Mt. Washington, im Mittelpunkt. Mt. Washington (von den Ureinwohnern „Agiocochook“, „das Zuhause des Großen Geistes“ genannt) ist mit 1917 Metern die höchste Erhebung im Nordosten der USA.  Der Berg wurde zum ersten Mal 1524 von einem Europäer, Giovanni de Verrazzano, erwähnt.  Das Gebirge  heißt White Mountains, weil die schneebedeckten Gipfel schon vom Meer aus erblickt werden können.  Voraussichtlich ist die erste Besteigung des Berges einem Weißen (Darby Field) im Jahre 1642 gelungen.  Der älteste Wanderweg in den USA wurde auch hier 1819 von Crawford Notch zum Gipfel angelegt.  Dieses Gebiet hat eine lange Tradition und seit Alters her eine große Anziehungskraft auf Bergenthusiasten ausgeübt. 

Obwohl der Mt.-Washington-Gipfel sich nur 1917m in den Himmel reckt, hat das Klima dieses kleinen Raumes einen weitverbreiteten Ruhm. Wegen verschiedener geografischer Faktoren, die einmalig auf der Welt sind, stellt Mt. Washington einen Knotenpunkt für turbulentes Wetter dar. Die Gipfelregion zählt klimatisch zu den kargsten und windreichsten Gegenden der Erde. Hier am Gipfel wurde am 12. April 1934 mit 372 km/h die bis 2010 höchste Windgeschwindigkeit der Welt gemessen!  110 Tage im Jahr gibt es Winde am Gipfel, die Orkanstärke übertreffen. Der Gipfel ist zudem ein Kältepol. Die Rekordtieftemperatur bislang -46° C am 22. Januar 1885. Am 16. Januar 2004 war es mit einer Lufttemperatur von -42° C und nachhaltigen Winde von 140.8 km/h gefühlt noch kälter: mit „wind chill factor“ -74.77° C! Schneestürme kommen in jedem Monat des Jahres vor und die jährliche Durchschnittsschneefallmenge entspricht 7,9 m.  Am Gipfel hat die Temperatur niemals 22° C überschritten.  Schon 1870 gab es das erste meteorologische Observatorium auf dem Berg, welches als Vorbild für ähnliche Anlagen auf der Welt galt.


Wolkenverhangen: der Mt. Washington

Aufgrund dieser extremen Wetterbedingungen wird mancher Bergwander sich wundern, wie einladend kann dieses Gebiet überhaupt sein?  Trotz des einschüchternden Klimas ist dieses Gegirge ein absolutes Juwel mit einem einzigartigen Ökosystem  Die Gegend ist leicht zu erreichen und ich fühlte mich dort wie in die Alpen versetzt.  Das Beste dabei aber, und die Lösung meiner ursprünglichen Zwangslage, ist die Existenz eines gut entwickelten und organisierten Hüttensystems.  Es gibt dort ein Netz von acht Hütten des Appalachian Mountain Club (AMC).

Ich unternahm im Sommer einen 4-tägigen Streifzug mit meinem Schwiegervater durch das Herz des Presidential Range.  Alle Wege sind ausgezeichnet markiert und viele Steinmänner dienen als Wegweiser.  Fast unser ganzer Wegverlauf war auch ein Teil des berühmten Appalachian Trail.   

Per Shuttle-Bus gelangen wir zum Anfang des Trails und starten zur Mizpah Spring Hut. Gleich am Anfang haben wir Schwein mit den Wettergöttern.  Ein Gewitter am Tag zuvor sorgte nun für Kaiserwetter und herrliche Ausblicke in jede Himmelsrichtung.  Vom Trailhead ging der Weg sehr abschüssig durch den dichten Kieferwald, als wir an Höhe gewannen.  Der Weg wurde allmählich schonender und ging schön langsam über einer Plateau, das mit verkümmerten, knorrigen Bäumen besät ist.  Von dort erwischt man den ersten Blick auf den Mt. Washington – und seine Majestät bleibt dann immer im Visier als ständiger Begleiter bis man auf seinem Haupt steht.  Nach vier Stunden erreichten wir die Mizpah Springs Hut, die man erst erblickt, wenn sie beinahe vor der Nase liegt. 

Zu diesem Zeitpunkt wäre vielleicht eine kurze Umleitung für eine Beschreibung der Hütten in Ordnung.  Die Hütten stehen seit 1888 unter der Betreuung des Appalachian Mountain Clubs.  Die acht Hütten liegen auf einer Höhe zwischen 823 und 1540 Metern.  Sie sind in der Hauptsaison, d. h. Anfang Juni bis Mitte Oktober vollkommen bewirtschaftet.  Einige Hütten, je nach Höhenlage, bieten auch Selbstversorgungsmöglichkeiten während der anderen Jahreszeiten. Ich gebe zu, eine Übernachtung kommt einen nicht billig. AMC-Mitglieder zahlen zwischen 96 und 120 Dollar und Nichtmitglieder jeweils 116 und 145.  Man darf aber nicht vergessen:  Diese Kosten sind inklusive Vollpension – Abendessen um 18 Uhr als Belohnung bei der Ankunft und ein reichhaltiges Frühstück um 7 Uhr als Labsal für die bevorstehende Tagestour.  Es gibt nicht Besseres als schmackhafte Pancakes mit Ahornsirup, wenn man die Energiespeicher auftanken muss.  Das Essen wird „family style“ serviert, d. h. die großen Schüsseln werden einfach auf den Tisch gestellt und jeder greift selbst zu – und Nachschläge sind Ehrensache. 


Gut und so viel, wie man möchte: das Essen auf den AMC-Hütten

Die Hütten werden hauptsächlich von einer jungen Mannschaft AMC-Mitarbeiter geführt.  Die meisten sind Universitätsstudenten/innen, die fast ausschließlich im Sommer tätig sind.  Zudem ist es auch auf ihren Buckeln, dass alle Proviant, Nötiges für die Hütte sowie die Speisereste hinauf zur Hütte und wieder hinunter ins Tal geschleppt werden müssen.  Deshalb ist jeder Wanderer höflichst gebeten, einem „carry in, carry out“ Wanderverhalten zu folgen.

Die Hütten haben ausreichend Platz und können zwischen 36–90 Personen beherbergen. Die Hütten sind geteilt in verschiedene Schlafräume mit jeweils fünf bis sechs Stockbetten.  Dabei stehen einem Matratze, Polster und drei Wolldecken zur Verfügung.  Der unerschrockene Wanderer braucht nur Schlafsack oder Bettuch mitzubringen. Dieses Hüttensystem ist außerordentlich populär bei Outdoor-Liebhabern.  Daher ist eine Reservierung ein absolutes Muss.  Reservierungen für die Sommerhochsaison können im September des vorigen Jahres schon gemacht werden!

Am zweiten Tag unseres Durchzuges war der Himmel teilweise bewölkt als wir Richtung Lakes of the Clouds Hut aufbrachen.  Diese Strecke führt über eine Hochebene und der Weg mäandert gemächlich über der Baumgrenze.  Hier nimmt die Landschaft alpinähnliche Eigenschaften an.  Die letzte Wegstrecke bringt einen zu einem Grat mit einem Blick nach unten auf die ersehnte Hütte und zwei kleine umliegende Bergseen. Die Lakes of the Clouds Hut ist sowohl die höchstgelegene Hütte (1540 m) als auch die populärste – aufgrund ihrer Lage im der  Mitte des Gebirges am Fuße Mt. Washingtons.  Von diesem Adlerhorst reicht der Blick bis ins Tal und weiter zum Horizont.  Und nach dem Abendessen erschien die Sonne plötzlich und wir genossen einen der spektakulärsten Sonnenuntergänge, den ich jemals in den Bergen erlebt habe.
                
Der dritte Tag (summit day) war eine Gewalttour ersten Ranges.  Unter strahlendem Himmel waren wir Gipfelstürmer abmarschbereit vor dem greifnahen Gipfel.  Anderthalb Stunden später konnten wir ein wohl verdientes Berg Heil äußern und in Gipfelglück schwelgen.  Wir gönnten uns einen Blick, der sich 150 km in die Ferne streckte!  Ein Gipfelkreuz ist dort oben nicht zu finden.  Es gibt stattdessen Restaurant, Souvenier Shop, und Postamt, von dem aus man die obligatorischen Ansichtskarten samt dazugehörigem Mt. Washington Stempel abschicken kann. Und für diejenigen (und es gibt natürlich jede Menge hier in den Staaten!), die keine Schweißtropfen für einen Gipfelbesuch spenden wollen, eine Zahnradbahn.  Seit 1869 gibt es am Mt. Washington die älteste auf einen Berg führende mit Dampf angetriebene Zahnradbahn.  Die Strecke ist fünf Kilometer lang mit einem Aufstieg von ca. 1200 hm.  Die Strecke über Jacob’s Ladder weist eine Steigung von 37 % auf – die nur von der Pilatusbahn in der Schweiz (48 %) an Steilheit übertroffen wird.  Eine Fahrt hin und retour dauert ungefähr 3 Stunden.
                

Geschafft: Bergsteiger-Leser Jeff Gould am Gipfel des Mt. Washington

Wir konnten am Gipfel aber nicht trödeln, da wir die benachbarten Trabanten von Mt. Washington, nämlich Mt. Clay, Mt. Jefferson, und Mt. Adams noch überschreiten mussten, um unser letztes Etappenziel die Madison Spring Hut zu erreichen.  Das war eine sehr lange Strecke durch Krumholz und große Steinblöcke.  Nach insgesamt sieben Stunden Gehzeit gelangten wir endlich an die Madison Spring Hut, die am selben Ort liegt, wo die erste AMC-Hütte im Jahr 1888 erbaut wurde.  An der Hütte angekommen, spürte ich, dass ich nicht mehr der junge Gamsbock bin wie zu meiner Grazer Zeit – vor allem meine Knie zahlten einen hohen Preis für diesen anstrengenden, aber sehr lohnenden Tag.
                
Die vier Wandertage in diesem einzigartigen Gebiet waren sehr abwechslungsreich.  Wir hatten herrliches Wetter, grenzenlose Aussichten, super Essen, und lernten viele nette gleichgesinnte Mitwanderer kennen, für die auch der Weg durch dieses sehenswerte Gebirge das Ziel war.  Zahllose Erinnerungen bleiben von diesen Bergerlebnissen. Wanderer aus Europa würden sich hier in der Bergwelt der Neuen Welt wie zu Hause fühlen.  Wenn man also eine Reise nach der Ostküste der USA plant, soll man nicht vergessen, dass ein bescheidenes, verstecktes Hüttensystem auf Abenteuersüchtigen in kleinem Winkel New Hampshire wartet.  Der Berg ruft auch in diesem kleinen Winkel New Englands und es wäre unbedingt einen Abstecher wert.
 
Jeff Gould
Fotos: 
Jeff Gould