Weitwandern auf historischen Pfaden

Der neue Walserweg - 300 Kilometer in 19 Etappen

Wandern auf dem Bündner Walserweg. Als die Walser, eine alemannische Volksgruppe, vor etwa 1000 Jahren das Oberwallis und das Rhonetal besiedelten, war dies nur ein Anfang. Auch im Tessin und in Graubünden wurden sie sesshaft – meist hoch droben in den Alpregionen. Der neue Bündner Walserweg folgt ihren Spuren.

 
Weitwandern auf historischen Pfaden © Andreas Strauß
Landschaftliche Vielfalt, aber auch viel Kultur: Der Walserweg bietet beides.
Sterben lassen!«, hieß es seitens der Behörden. Aber die 71 Bewohner der Gemeinde Hinterrhein wollen ihr Dorf nicht sterben lassen, wollen nichts von Strukturschwäche hören. Sie wollen leben, ihre Kinder aufziehen, Ziegen hüten, Biokäse und Salzis herstellen, Wanderer bewirten und in ihrem Dorf leben – so wie ihre Walser Vorfahren seit über 700 Jahren. Wer auf der ersten Etappe des Bündner Walserwegs in Hinterrhein ankommt, kann das verstehen: Am Dorfbrunnen spielen zwei Mädchen mit einer Puppenküche, auf einer Wiese hinter den wettergegerbten Häusern bimmeln die Geißen mit ihren Glocken, aus der offenen Tür des Dorfladens duftet es nach Kaffee – ein Ort, an dem es sich leben lässt!

Irene Schuler lebt nicht in Hinterrhein, aber sie kennt das Dorf gut und versteht die Menschen, die hier leben. Heute führt ihr Weg von Hinterrhein zur Alp Piänetsch, um die Beschilderung auf der zweiten Etappe des Walserwegs zu kontrollieren – ihres Weges. Irene Schuler hat »ihren Weg gemacht« – im wörtlichen Sinn. Die Geografin ist Initiatorin des Bündner Walserwegs. Auf den Spuren der Walser führt dieser 300 Kilometer lang über den San-Bernardino-Pass ins Rätikon, von Süden nach Norden quer durch ihre Wahlheimat Graubünden.

Suche nach den alten Saumwegen

Irene Schulers Blick streift die alten Walserhäuser. Hausnummern sucht man vergeblich, die Häuser haben Namen: Rothuus, Underhuus, Gassähuus. Vor dem Underhuus steht ein kleiner Kühlschrank mit Alpkäse und Löwenzahnkonfitüre zur Selbstbedienung. Familie Trepp hat ihn bereits aufgefüllt für die Wanderer, die schon in der Vorsaison aufgebrochen sind. Seit der Eröffnung des Bündner Walserwegs im Sommer 2010 kommen wieder mehr Gäste ins Dorf. Sie starten am Morgen in San Bernardino und folgen dem historischen Säumerweg über den Pass. Dreieinhalb Stunden dauert diese erste Etappe – die kürzeste auf dem Walserweg. Hinterrhein ist das erste Walserdorf am Weg und zugleich die erste urkundlich erwähnte Walsersiedlung in Graubünden, die aufs Jahr 1274 zurückgeht.

Keine Stunde später steht Irene an der Wegverzweigung Cassana. Das Alpsträßchen gabelt sich hier: Das eine geht nach links, das andere nach rechts, und zum Wandern wären sie beide schön. Aber wenn es um die Wegführung geht, ist die Initiatorin des Walserwegs streng. Asphalt ist tabu, und wo eine historische Trasse existiert, da bekam sie den Vorzug. »Den alten Saumweg zwischen Zahütta und der Alp Piänetsch im Aufstieg zum Valserberg habe ich gemeinsam mit meiner Freundin gesucht. Auf den historischen Karten gab es ihn, aber im Gelände war er nur noch ansatzweise vorhanden. Stattdessen gab es die neue Alpstraße.« Erst nach langem Suchen fanden sie die alte Trasse der Walser Bergträger, ein schmaler Steig von angenehmer Steigung durch Wiesengelände und lichten Wald. Das Suchen hat sich gelohnt: »Das Wandern muss doch einfach Spaß machen – vor allem, wenn man so lange unterwegs ist.«

Essen im Schafstall

Alp Piänetsch – die Gebäude ducken sich in den Hang. Während die Begeher des Walserweges von der Alp Piänetsch in vier gemütlichen Stunden über den Valserberg nach Vals wandern, ebenfalls eine alte Walsersiedlung, steigt Irene wieder nach Hinterrhein ab. Die Wegmarkierung ist perfekt, die handgroße Nummer 35 für den Walserweg ist auf allen Schildern gut sichtbar und weist korrekt die Richtung: Die Wandersaison kann beginnen! Dass alles reibungslos läuft, ist auch den zahlreichen Helfern vor Ort zu danken, die die Idee »Walserweg« mittragen – anders wäre ein so großes Projekt nicht möglich.

Den Nutzen haben alle. Christine und Johann Egger zum Beispiel, die 2010 in Hinterrhein den Bachhuus-Chäller eröffnen konnten. Im ehemaligen Schafstall ihres Walserhauses stehen drei geschmackvolle Lärchenholztische. Das unverputzte Tonnengewölbe wird von Kerzenschein beleuchtet. Hier serviert Johann seinen Biokäse: Mutschli, Alpkäse und Zieger, auch Wurst und Speck. So gemütlich und authentisch, dass es für die Gäste ein ganz besonderes Erlebnis ist. Seine neueste Errungenschaft: eine Infrarotheizung unter den Sitzen für durchgefrorene Wanderer.

Intakte Alpsiedlung ohne Bausünden

Die Nachbarn beliefern die Eggers zusätzlich mit Bioprodukten, denn im Bachhuus wird mehr Käse benötigt, als Johann mit seinen 23 Geißen und 13 Kühen herstellen kann. »Die Wertschöpfung bleibt jetzt im Dorf«, erklärt er. Die aktuelle Dorfchronik zeigt, dass diese Wende auch bitter nötig ist: 1963 schloss die letzte Gaststätte, 1984 die Dorfsennerei, 1995 die Schule, 2000 die Poststelle. Der Walserweg bringt nun wieder Leben. Nicht nur durch die Fremden, er hat auch viel Eigeninitiative der Anwohner gefördert – es wirkt so, als hätte der scheinbar im Sterben liegende Patient nur auf ein Signal gewartet, um zu zeigen, dass er quicklebendig ist.
Der neue Walser Themenweg. Von Andreas Strauß
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 08/2012. Jetzt abonnieren!
 
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