Gulliver auf Ski - Alpencross im Alleingang | BERGSTEIGER Magazin
Eine Ski-Haute-Route von Augsburg bis Grenoble

Gulliver auf Ski - Alpencross im Alleingang

Nach seinem Studium in der französischen Universitätsstadt Grenoble verwirklichte sich Christoph Ebert aus Augsburg einen verrückten Traum – eine Mammut-Skitour von seiner Heimatstadt bis in die Westalpen-Metropole; rund 900 Kilometer und 44 Tage allein auf einer Ski-Haute-Route der »anderen Art«.

 
Die Reise neigt sich dem Ende zu – Nachtquartier in der Chartreuse mit Blick auf den Sommet du Pinet © Christoph Ebert
Die Reise neigt sich dem Ende zu – Nachtquartier in der Chartreuse mit Blick auf den Sommet du Pinet
Ich hatte mir viel vorgenommen auf dieser Skiüberquerung und war darauf gefasst, an meine Grenzen zu stoßen – aber schon so bald?! Vor zwei Tagen hatte ich mein Elternhaus bei Augsburg verlassen, um aus eigener Kraft die Alpen auf Skiern zu überqueren. Als ich einsehen muss, dass meine Tour vorbei ist, bevor sie richtig begonnen hat, bin ich gerade einmal 60 Kilometer weit gekommen. Noch mindestens einen Tagesmarsch vom ersten Gipfel entfernt liege ich im Schlafsack und zittere heftig, niedergestreckt durch verschmutztes Flusswasser.

Immer wieder reiße ich den Zelteingang auf, um mich in den Schnee zu übergeben. Wenn ich aus dem Zelt stürze, um mich vom Durchfall zu erleichtern, stakse ich durch mein Erbrochenes. Ich habe hohes Fieber und halluziniere. In Gedanken fordere ich einen nicht-existenten Partner auf, Essen zu kochen. Was für ein Auftakt meiner Tour! Kaum gestartet muss ich mich von meinen Eltern abholen lassen und verbringe drei volle Tage bibbernd zwischen Bett und Toilette. Schlimmer aber ist das Gefühl, den selbst gesetzten Ansprüchen so wenig entsprochen zu haben. Sobald ich wieder auf den Beinen stehen kann, hält es mich nicht mehr im Haus. Ich muss wieder los.

Jetzt erst recht!

24. Februar, zwischen Oberstdorf und Warth: Ich komme kaum noch von der Stelle. Meine Felle stollen, immer öfter sinke ich durch die aufgeweichte Harschdecke bis zu den Knien ein. Feuchter Bruchharsch – zuvor hatte ich nicht gedacht, dass solch ein Schnee gewordener Albtraum existiert. Lange hadere ich mit dem Wetter und dem Schicksal, bevor ich begreife, dass meine Situation nicht nur mit dem schwierigen Schnee, sondern vor allem mit meinem noch immer miserab­len körperlichen Zustand zu tun hat.

Dauernd muss ich halten, um mich vom Durchfall zu erleichtern. Bis Warth schaffe ich es nicht mehr, und für ein Biwak bin ich zu schwach. Ich beschließe umzukehren, bevor die Lawinengefahr bei Sonnenerwärmung mir den Rückweg abschneidet.

Am südlichsten Punkt Deutschlands

Am nächsten Tag liegt meine Spur tatsächlich an mehreren Stellen verschüttet vor mir: ein gruseliger Anblick. Ich schaffe es wieder nicht hinüber. Frustriert stehe ich kurz davor, endgültig aufzugeben. Um ein Uhr nachts starte ich dennoch einen dritten Anlauf. In meinen gefrorenen Spuren komme ich gut voran und stehe diesmal bereits kurz nach Sonnenaufgang am südlichsten Punkt Deutschlands, dem Haldenwanger Eck. Endlich kann ich meine erste Bergetappe beenden – 40 liegen noch vor mir!

Schon zwei Tage später bekomme ich erneut Probleme. Obwohl mir im Vorfeld abgeraten wurde, über den Spullersee nach Klösterle abzufahren, habe ich mich trotzköpfig auf den Weg gemacht. Ich will den Hang aus der Nähe betrachten und mein Bauchgefühl entscheiden lassen. Angesichts der teilweise schon angerissenen Schneebretter am Südhang krampft sich mein Bauch allerdings schmerzhaft zusammen: Sackgasse! Ich trete den Rückweg an und mache es mir in der verwaisten Ravensburger Hütte bequem.

Am nächsten Tag kehre ich ins Tal zurück und umfahre den Hang im Bus. Meine Vorgabe, die Alpen nur aus eigener Kraft zu überwinden, missachte ich nach dem Abbruch damit schon zum zweiten Mal. Zunächst bin ich traurig, mein Ziel aufgeben zu müssen. Dann aber wird mir bewusst, dass letzten Endes die Natur über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Gegen sie ist in den Bergen jeder Plan zum Scheitern verurteilt. Vielleicht sollte das die wichtigste Lektion meiner Reise sein.

White-Out in der Schweiz

Auch beim Aufstieg zur Schweizer Grenze, dem Schlappiner Joch, zeigt der Berg mir noch einmal die Zähne: White-Out. Boden und Horizont verschmelzen zu einer einheitlichen, weißen Masse. Ich verliere jegliches Gefühl für den Raum, der mich umgibt; bin mir zeitweilig nicht einmal mehr sicher, ob meine Skispitzen bergauf oder bergab zeigen. Mit jedem Meter, den ich weiter in die Schweiz vordringe, verbessert sich nun aber die Schneelage. Bei den Eidgenossen ist der Schnee älter und kompakter.

Und endlich erhalte ich den Lohn für die harten Aufstiege: rasante Tiefschneeabfahrten, farbenfrohe Sonnenaufgänge, beeindruckende Schneewelten. Die meisten Tage bin ich vollkommen alleine. Gämsen, Dohlen und einmal sogar ein Steinbock sind meine einzige Gesellschaft, bevor ich abends wieder zu den Menschen zurückkehre. Ich genieße es, mich in der Schweiz zu verlieren; einem Land, in dem alle Sprachen verstanden werden, aber keine korrekt gesprochen wird. Ein Babel mit Türmen aus Eis und Fels. Das Zentrum der Dörfer ist die Post. Drum herum gibt es einen Brunnen, ein Wirtshaus. Vielleicht noch einen Supermarkt. Mehr nicht.

Aber die Menschen scheinen glücklich. Und während ich mich jeden Tag aufs Neue bergauf quäle, breitet sich die Alpenkulisse in all ihrer Herrlichkeit um mich herum aus. Die Frage nach Sinn oder Unsinn meiner Unternehmung hatte ich mir nie gestellt. Spätestens hier hätte sie sich ohnehin in Pulverschnee aufgelöst.

Bei glücklichen Menschen in Andermatt

Andermatt markiert die Halbzeit. Als ich auf der Piste darauf zu fliege, fühle ich mich wie ein König. In meiner Roadmap liegt das Schwierigste zwar noch vor mir, aber als ich die Tour plante, wusste ich schließlich noch nicht, dass die Nordseite der Alpen dieses Jahr in meterhohen, feuchten Schneemassen versinken würde. Eine immer stärker werdende Gewissheit baut sich in mir auf: »Ich habe es so weit geschafft, ich schaffe es auch bis Grenoble!«

Bereits am Furkapass aber beschleichen mich wieder leise Zweifel. Wo bislang sanfte Linien dominierten, gibt der Horizont nun den Blick auf die finsteren Eisgiganten des Wallis frei. Ihre Gegenwart ist bedrohlich, liegt förmlich greifbar in der Luft und lässt mich zwischen Euphorie und blanker Angst taumeln. Ich bin Gulliver, auf Ski ins Land der Riesen gereist – aber kann ich es wirklich mit ihnen aufnehmen? Auch die Gespräche verändern sich. Wenn ich erzähle, wo ich herkomme und wo ich hin will, wird mir jetzt viel Aufmerksamkeit zuteil. Immer seltener treffe ich dagegen jene Menschen, die Beachtung heucheln und mich dabei aus unverständigen Augen auf eine Geisteskrankheit hin ausspähen.

Simplon, Saas Fee, Zermatt, Verbier, Chamonix lauten meine nächsten Etappen. Glanzvolle Namen, die die Geschichte des Alpinismus prägten und auch in meiner Tour emotionale Höhepunkte bedeuteten. Am Simplon ist die Schweizer Armee mit Panzern aufgefahren, um Krieg zu spielen. Als Gegner hat man sich ein wehrloses Bergmassiv rund um das Fletschhorn ausgesucht… Tell würde sich vermutlich im Grabe umdrehen.

Theoretisch, so wird mir versichert, könnte ich am Rand des Übungsgebietes gehen. Praktisch kann ich mir aber Schöneres vorstellen, als durch einen lawinengefährdeten Kugelfang zu wandern. Gerne würde ich den Militärs den Vogel zeigen, bevor ich mich auf den Umweg nach Visperterminen mache und dort in den Postbus steige.

Adlerpass, Schlüsselstelle der Skitour

In Saas Fee angekommen erwartet mich kurz darauf die erste Schlüsselstelle meiner Tour: der 3790 Meter hohe Adlerpass und die umgebenden Eiswüsten. Zum ersten Mal in meinem Leben stehe ich ohne Seil und Partner auf einem spaltenreichen Gletscher. Steil geht es auf der Westseite zwischen Schneelippe und Fels hinab auf den Adlergletscher. Mein Herz muss bis nach Zermatt zu hören sein, so laut hämmert es, denke ich, während ich über die harte Eiskruste talwärts gleite.

Einen Monat lang war ich bis hierher unterwegs, und was am Berg freundschaftlich über»rochen« wird, sorgt im schicken Zermatt für Ärger: mein Gestank. Wegen der Beschwerden anderer Gäste verlegt die Herbergsmutter mich kurzerhand in ein Zimmer mit Balkon, auf dem meine Kleidung ausdünsten kann.

Auf der Haute-Route Chamonix-Zermatt

Aus meiner einsiedlerischen Pilgerschaft bin ich nun auf die Ski-Autobahn der »Haute Route« zwischen Chamonix und Zermatt geraten. Während mir unzählige geführte Seilschaften entgegenkommen, verliere ich beinahe den Respekt vor den Gletschern. Permanent muss ich mich selbst zur Vorsicht mahnen.

Vier Tage dauert die höchste, längste und wohl schönste Etappe meiner Tour. Herrliche Gletscherlandschaften und toller Schnee lassen mich dabei alle Mühen vergessen. Kurz nachdem ich Verbier erreiche, wechselt das Wetter. Zu ungeduldig stürme ich im ersten Schönwetterfenster weiter und gerate prompt in erneuten Sturm und Nebel. Mein Übergang nach Chamonix gerät so zu einem Kampf gegen Orientierungslosigkeit, hüfthohen Triebschnee und orkanartige Windböen. Lauthals schreie ich Flüche in den Wind. Ich steigere mich so sehr in die wilde Wut auf den Berg und den Sturm, dass ich kaum merke, wie ich durch die Kraft meines Zornes über die Pässe getragen werde.

Beinahe übergangslos geht es ab Chamonix von den sturmumtosten Gletschern hinab in den milden Frühling der französischen Täler. Bald tausche ich meine Ski gegen Schneeschuhe. Eine weitere Woche später, es ist der fünfte April, blicke ich über blühende Blumen hinab auf Grenoble.

44 Tage voll herber Rückschläge und einzigartiger Momente war ich diesem einen Augenblick entgegengelaufen. Viel Glück hat mich bis hier gebracht. Nun ist meine Reise am Ende – und ich bin es auch. Aber ich bin glücklich. Kurz darauf verweigern meine Muskeln den Dienst. Ich kämpfe nicht dagegen an, sondern lasse mich sacken, setze mich und genieße den Blick auf die Stadt, die über die letzten Monate all mein Handeln beherrscht hatte.
 
Alpencross – Über alle Berge. Von Christoph Ebert
 
Mehr zum Thema