News > In sechs Tagen zur Ortler-Reife
08.08.2012
In sechs Tagen zur Ortler-Reife
Tag 1
Morgens um halb zehn, in Sulden: Zusammen mit 27 anderen Normalos zwischen 18 und 50plus stehe ich in den Startlöchern. Es geht auf den Langenstein. Kein Witz. Das Felsmassiv heißt wie ich. Oder umgekehrt.
Aber es kommt noch besser. Unser Bergführer stellt sich vor: "Ich bin der Kurt, Kurt Ortler." Kein Witz. Er heißt wie der Berg. Oder umgekehrt. Vor uns liegt ein Crashkurs in Klettern, Sichern, Abseilen. Beim Anlegen des Gurts verheddere ich mich erst mal. Bin ich der einzige Absolute Beginner? Die anderen, so scheint es, nutzen die Lektion zur Auffrischung bereits vorhandener Kenntnisse. Wie ging noch mal der Sackstich? Und die gestochene Acht? Oder der Halbmast? Kurt zeigt uns die wichtigsten Knoten, die wir in den nächsten Tagen brauchen werden. Erstaunlich, wie schwerfällig die Hirn-Hand-Kommunikation bei einem Erwachsenen vonstatten geht. Wo alles so kinderleicht aussieht.
Dann stehe ich vor der Wand. Fast senkrecht, gut 10 Meter hoch, türmt sich der Übungsfelsen vor mir auf. Meine Fingerspitzen zwängen sich in einen schmalen Spalt, mein rechter Fuß findet einen sicheren Tritt. Denkste. Ich rutsche ab und knalle mit der linken Körperseite gegen den Stein, ehe Kurt das Sicherungsseil stramm zieht.
Es braucht drei weitere Anläufe, bis ich in der Spur bin und nach oben komme. Wieder Boden unter den Füssen, merke ich, dass meine Knie zittern. Und ich realisiere, dass Finger auch aus Muskeln bestehen. Als ich nach zwei Stunden Kletterei die Schnallen meines Auffanggurtes öffnen will, verkrampft meine rechte Hand so stark, dass sie mir den Dienst versagt. Bescheuert - aber alles, woran ich in diesem Augenblick denken kann: Hoffentlich hat das aus der Gruppe keiner mitgekriegt.
Auf dem Rückweg beame ich mich mental in die Hotel-Sauna. Und freue mich auf den Fußball-Klassiker England – Italien. Zwischen diesen beiden Mannschaften wird heute Abend unser Halbfinal-Gegner ermittelt. Ein Halbfinale, das ich nicht werde sehen können. Was mir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht klar ist.
Tag 2
Heute wird sich zeigen, wie unsere Truppe konditionell drauf ist. Ein 7-stündiger Marsch steht an. 1200 Höhenmeter sind zu bewältigen.
Als erstes werden wir in der Kunst des Langsamgehens unterwiesen: "Wer den Bergführer überholt, zahlt eine Runde für alle!" Ich komme mit Hubert ins Gespräch, der seit über 20 Jahren Bergsteiger auf die Gipfel der Ortler-Alpen führt. Irgendwie landen wir bei der ökologischen Landwirtschaft. Ich dachte immer, dass Südtirol in dieser Hinsicht ganz weit vorne ist. Hubert belehrt mich eines Besseren. Die riesigen Obstplantagen im Vinschgau seien fest in der Hand der chemischen Industrie.15 000 Euro pro Hektar müsse ein Obstbauer jährlich für Düngemittel und Schädlingsbekämpfung ausgeben, damit seine Äpfel perfekt genug aussehen, um das Südtirol-Siegel zu erhalten. Und nur mit diesem Aufkleber schaffen sie es in die Auslagen der Feinkostgeschäfte von New York bis Singapur.
Inzwischen meldet sich die Kraxelei von gestern: meine Waden sagen „Hallo“. Vor, hinter und neben mir wird heftig gekeucht. Die Gruppe ist jetzt weit auseinandergezogen. Auf dem letzten Stück verlangen ein paar ausgesetzte Passagen volle Konzentration. An zwei, drei Stellen geht es steil nach unten. Jede kleine Unaufmerksamkeit kann hier fatale Folgen haben.
Nach knapp vier Stunden stehen die ersten auf dem 3127 Meter hohen Gipfel des Hinteren Schönecks. Oben empfängt uns Schneegraupel, zehn Minuten später reißt der Himmel auf und gibt einen fantastischen Fernblick auf das hiesige Dreigestirn frei: Königspitze, Zebru und seine Majestät - „König Ortler“.
Beim Abstieg machen wir Rast auf der Kälberalm. Länger als geplant. Grund ist eine Nachzüglerin, die sich schmerzhafte Blasen gelaufen hat. Unsere Bergführer empfehlen ihr den ortsansässigen Schuster. "Der behandelt den Schuh so, dass deine Füße ihn lieben werden." Meine Füße fühlen sich gerade etwas lahm an. Wie passend, dass morgen Ruhetag ist.
Tag 3
Mein aktueller Bio-Rhythmus schmeißt mich trotzdem um sieben Uhr aus dem Bett. Nach dem Frühstück spaziere ich zur Seilbahnstation. Dort haben sich über 200 Urlauber eingefunden. Sie warten auf den berühmtesten Bergsteiger der Welt, der sich heute in Sulden als Rinderhirte verdingt. Alles ist parat für den schon traditionellen Yak-Auftrieb. Vor bald 30 Jahren hatte Reinhold Messner ein paar tibetische Grunzochsen in Sulden angesiedelt. Inzwischen ist daraus eine richtige Herde geworden.
Wie aus dem Nichts ist Messner plötzlich da. Er bahnt sich einen Weg durch die Schaulustigen, vorbei an mehreren Fernsehteams. Sogar NBC berichtet heuer von dem Spektakel. Und dann setzt sich die Prozession in Gang: Messner alleine vorneweg, hinter ihm die Yaks und in gehörigem Sicherheitsabstand folgt der Touristen-Tross.
Ich kehre ins Hotel zurück. Mein Blick wandert zum Gipfel meiner Begierde. Doch der ist verschwunden. Komplett verhüllt von dichten Wolken. Wie es scheint, wünscht "König Ortler" gerade von niemandem gestört zu werden. Auch der Berg nimmt sich heute seinen Ruhetag.
Tag 4
Das Gepäck ist heute schwerer als sonst. Aber ohne Steigeisen und Pickel begibt man sich besser nicht auf eine Gletschertour.
Die ersten 700 Höhenmeter lassen wir uns nach oben gondeln. An der Schaubachhütte steigen wir aus. Nach knapp einer Stunde ist die Schneegrenze erreicht. Die Bergführer nehmen uns in 5er-Gruppen ans Seil. Zu meiner Überraschung habe ich tatsächlich noch auf dem Schirm, wie die gestochene Acht geht. Nachdem alle vorschriftsmäßig verknotet sind, setzt sich eine Seilschaft nach der anderen in Bewegung. „Breitbeinig gehen, sonst verhaken sich die Zacken der Steigeisen mit den Hosenbeinen“, „Eispickel immer auf der Bergseite einsetzen, wie einen Spazierstock“: Die Tipps der Profis geben einem rasch das Gefühl, mit der ungewohnten Ausrüstung ganz gut klar zu kommen.
Mein Vordermann Danilo, der einzige Italiener in unserer Clique, stapft in seinem eigenen Modus. In der linken hält er den Trekkingstock, mit rechts ist er fast pausenlos am Fotografieren. In Ermangelung einer dritten Hand hängt seine Seillänge total durch und schleift zwischen seinen Beinen im Schnee. Das macht mich nervös, weil es bestimmt nur eine Frage der Zeit ist, bis er stolpert. Obwohl: Italiener und Stolpern – das wäre kein schlechtes Omen für morgen Abend, wenn die Squadra Azzurra gegen Özil und Co. um den Einzug ins EM-Finale spielt.
Unsere Route führt an einer 70 Meter tiefen Gletscherspalte vorbei. 70 Meter: das klingt nach viel, ist aber gar nichts, wenn man bedenkt, dass Südtirol vor 25 000 Jahren von einer 2000 Meter dicken Eisschicht bedeckt war. Auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit dürfte die Besteigung von „König Ortler“ gerade mal ein mittelschwerer Spaziergang gewesen sein. Falls es damals schon Bekloppte gegeben hat wie uns, die meinen, auf einen Berg rauf zu müssen, nur weil er da ist.
Gegen 13 Uhr sind wir auf der Suldenspitze. 3376 Meter über dem Meeresspiegel herrscht Bilderbuchwetter. Die Gipfelrast genießen wir im T-Shirt, so warm ist es. Keine halbe Stunde später hat sich der Himmel zugezogen. Ein eiskalter Wind pfeift um die Ecke. Wir machen uns schleunigst vom Acker.
Abwärts führe ich unsere Seilschaft an. Ich versuche, die Ideallinie durch den aufgeweichten Schnee zu finden. Bei den vielen Spuren ist das nicht einfach. Aber offenbar habe ich mich gar nicht so blöd angestellt. Von den anderen gibt es jedenfalls anerkennende Sprüche, als wir zurück in felsigem Gelände sind und die Steigeisen wieder ausziehen können.
In der Seilbahn hinunter ins Tal stimmen uns die Bergführer auf morgen ein: den Aufstieg zur Payerhütte, die letzte Zwischenetappe vor dem großen Ziel.
Tag 5
Der Hüttenzustieg beginnt als normaler Wanderweg. Wir lassen es ruhig angehen. Die Körner wollen wir für morgen aufsparen.
Oberhalb der Baumgrenze quert der inzwischen zu einem Pfad geschrumpfte Weg die Moräne eines Gletschers. Im Gänsemarsch bewegen wir uns durch eine Mondlandschaft aus Schutt und Geröll. Wenig später passieren wir den monumentalen Gedenkstein für Bergsteiger, die am Ortler tödlich verunglückt sind. Dutzende von Namen sind da verzeichnet. Gut, die hier wollten alle über die gefährliche Nordwand da rauf. Trotzdem kriege ich ein mulmiges Gefühl.
Das letzte Stück bis zur Payerhütte ist eine als „leicht“ eingestufte Kletterei. Dann sind wir da. Tatsächlich: keine Satellitenschüssel auf dem Dach, kein Halbfinale heute Abend. Da muss ich also wirklich durch.
Nach der Bettenverteilung nehme ich im Aufenthaltsraum neben Hubert Platz. Der deutet auf einen Tisch in der Ecke. "Da hinten sitzt Peter Habeler.“ Wow. Peter Habeler: der Peter Habeler, der mit Reinhold Messner 1978 als erster ohne Flaschen-Sauerstoff auf dem Mount Everest war. Schon irre: da kreuzen zwei lebende Bergsteiger-Legenden meinen Weg. Der eine treibt Yaks auf die Weide, der andere macht morgen dieselbe Tour wie ich.
Beim Abendessen ist Lagebesprechung mit den Bergführern. Meine beiden Seilpartnerinnen sind Susanne und Nicole. Wir drei werden mit Kurt auf den Ortler gehen. Kurt erklärt uns minutiös, wie morgen früh alles abzulaufen hat, damit wir pünktlich los kommen.
Meine Gedanken driften ab, nach Warschau, wo gerade die erste Halbzeit zwischen Deutschland und Italien läuft. Danilo hat irgendwoher ein Kofferradio aufgetrieben und verfolgt über Kurzwelle einen italienischen Sender. Ich höre nur Rauschen, verstehe kein Wort. Plötzlich schreit er: Si! Balotelli! Und eine Viertelstunde später noch Mal: Balotelli! 2:0 für Italien, soviel ist klar. Dann zieht die Hüttenwirtin den Stecker. Bettruhe.
Tag 6
Wecken um 4.15 Uhr. Eigentlich überflüssig. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zu getan. Ich spüre die Anspannung. Hab ich mir zuviel vorgenommen?
Zwei Waschbecken und zwei Toiletten für alle: man glaubt gar nicht, was alles geht. Mein Frühstück besteht aus zwei Tassen Kaffee und einer Scheibe Nutellabrot. Danilo grinst zu mir herüber und macht das Victory-Zeichen. Danke, "König Ortler", dass ich das Elend nicht mit ansehen musste.
Um 5 Uhr verlassen wir die Hütte. Unter uns eine geschlossene Wolkendecke. Wir sind die zweite Gruppe, die an diesem Morgen zum Gipfel aufbricht. Es wird kaum geredet. Jeder ist ganz für sich.
Das erste Stück geht leider in die falsche Richtung, weil die Sonne in unserem Rücken aufgeht. Aber gut. Man kann nicht alles haben. Viel wichtiger ist, dass meine Zweifel von vorhin erstmal weg sind.
Dann haben wir die Schlüsselstelle erreicht: das so genannte „Wandl“. Was die Verniedlichungsform mir sagen soll, keine Ahnung. Ich sehe eine 60 Meter hohe Felswand, in der wir weitgehend senkrecht nach oben müssen. Die Passage ist zwar mit einer fixen Kette versehen, trotzdem klettert Kurt voraus und sichert uns noch mal von oben. Susanne und ich sehen uns an, ich glaube, sie denkt gerade dasselbe wie ich. Nicole dagegen geht hoch „wie eine Gämse“, lobt Kurt, als wir alle neben ihm stehen. Ich schaue nach unten, blicke zu Kurt und der nickt. Ja, da müssen wir nachher wieder runter.
Wenig später legen wir die Steigeisen an. Ab jetzt ist es eine reine Gletschertour. Bizarre Eisabbrüche säumen den Weg. Plötzlich bleibt Kurt stehen. Und springt über eine Gletscherspalte. Das wollte ich schon immer mal. Okay, die Spalte war nur 50 cm breit. Trotzdem.
Ich merke, dass der nächste Hänger im Anmarsch ist. Eine halbe Tafel Schokolade hilft mir über das Tief hinweg. Inzwischen sind wir auf 3800 Metern, nur noch 100 Höhenmeter, aber die ziehen sich. Kurz vor neun ist es endlich so weit: wir klatschen uns am Gipfelkreuz ab. Ich bin ziemlich alle. Zum obligatorischen Gipfelfoto kann ich aber schon wieder lachen.
3905 Meter hoch: So nah bin ich dem Himmel noch nie gekommen, aus eigener Kraft. Ginge es nach mir, könnte ich da oben noch eine Weile sitzen bleiben. Aber Kurt drängt schon wieder zum Abstieg. Als wir uns fertig machen, trifft Peter Habeler mit seinen beiden Begleitern am Gipfel ein. Er gratuliert uns per Handschlag: "Ihr wart’s richtig schnell unterwegs!" Ich bin baff. Hinterher frage ich Nicole: "Hat der das eben wirklich gesagt?" Ja, hat er.
Beim Abstieg kommt mir der Spruch in den Sinn, den einer der Bergführer gestern Abend getan hat: Rauf dürfen wir, runter müssen wir. Der Schnee ist jetzt weicher als vorhin. Teilweise sinke ich bis über die Knie ein. Dann sind wir wieder am „Wandl“. Kurt seilt mich ab, ich lasse mich rückwärts in den Gurt fallen, korrigiere mit den Schuhsohlen am Fels, bis ich unten sicher zum Stand komme. Danach dauert es nicht mehr lange, bis ich wieder auf der Terrasse der Payerhütte sitze und eine eiskalte Cola leere. Auf ex.
4 Stunden hoch, 20 Minuten am Gipfel, 3 Stunden runter. So schlecht sei das gar nicht, meint Kurt und grinst dabei wie einer, der für den Normalweg gerade mal 90 Minuten braucht, wenn er es darauf anlegt.
Gegen Nachmittag sind wir wieder zurück in Sulden. Ich stehe auf dem Balkon meines Hotels. Mit dem Fernglas kann ich das Gipfelkreuz sehen. Irgendwie unwirklich. Da soll ich vor ein paar Stunden gewesen sein?
Abends treffen sich alle noch Mal. Auf einer großen Leinwand läuft eine Dia-Show mit den Fotos, die in den letzten Tagen von uns geschossen wurden. Alle sind ein bisschen aufgekratzt. Dann wird einer nach dem anderen nach vorne gerufen und bekommt eine Urkunde: der Beweis, dass er am 29. Juni 2012 von "König Ortler" zur Audienz vorgelassen wurde. Das Ding kommt gerahmt auf meine Gästetoilette. Ich werde mich gerne bitten lassen, sie ab und an zu erzählen: die Geschichte vom König und mir.
Die nächste Ortler-Woche der Alpinschule in Sulden findet vom 22.9. – 29.9.2012 statt. Preis pro Person: 350 € , Ausrüstung (Helm, Klettergurt, Pickel, Karabiner) wird gestellt und ist inklusive.Weitere Informationen unter www.alpinschule-ortler.com