Die Achttausender-Dimension
Manfred Häupl auf Trekkingtour im Himalaya
Nach 21 Jahren harter Büroarbeit hatte ich mir ein Jahr Auszeit – ein sabbatical – genehmigt. War ich zuvor geschäftlich viel in den hohen Bergen der Welt unterwegs gewesen, wurden nun die bayerischen Hausberge zu meiner neuen Leidenschaft. Ich hatte eine Bombenkondition, als mir mein Freund Christoph von seinem neuesten Vorhaben vorschwärmte: Drei Pässe über 5000 Meter, drei Gipfel, 19 Trekkingtage im Khumbu-Gebiet in unmittelbarer Nähe von vier Achttausendern. »Willst du nicht mitkommen?«, fragte Christoph. Ich hatte Zeit, ich war gut trainiert. Warum also nicht wieder die bayerischen Gipfel mit dem Himalaya tauschen?
Start in Lukla, Tor ins Everest-Gebiet
Die Tour begann – wie alle Khumbu-Trekkings – in Lukla, dem Tor ins Everest-Gebiet, auf 2800 Metern. Anfang der 1960er-Jahre wurde hier im Auftrag von Sir Edmund Hillary ein Flughafen angelegt, um die von ihm gegründeten Schulen und Krankenhäuser für die Sherpa besser aufbauen und versorgen zu können. Der touristischen Entwicklung stand Hillary bis zuletzt zwiespältig gegenüber, sah er darin doch nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren für das kleine Volk der Sherpa.
Von Lukla wanderten wir zunächst über Phakding und Monjo ins 3400 Meter hoch gelegene Namche Bazar. Der Ort ist das Zentrum der Sherpa und Treffpunkt von Händlern aus Tibet, Expeditionsteilnehmern, Aussteigern sowie Touristen aus aller Welt, die einmal im Leben den Mount Everest im Original sehen wollen. In Namche Bazar teilen sich die Wege der Trekking-Touristen: Die einen wandern zum Sherpa-Kloster nach Tengpoche, zum berühmten Aussichtsberg Kala Pattar. Die anderen steigen hinauf ins Gokyo-Tal mit seiner fantastischen Seenplatte und einem ebensolchen Blick zum Cho Oyu, mit 8188 Metern dem sechsthöchsten Achttausender der Erde.
Touristisches Neuland beim Trekking im Himalaya
Wir wählten die dritte Möglichkeit: hinüber ins Bhote Kosi-Tal nach Thame, einem kleinen Sherpa-Ort mit einem altehrwürdigen Kloster. Noch vor Kurzem war hier für ausländische Besucher Endstation. Das obere Bhote Kosi-Tal wurde vom Militär als Pufferzone zur chinesisch-tibetischen Grenze erklärt, da viele tibetische Flüchtlinge den Weg über den Nangpa La und das Bhote Kosi-Tal ins rettende Nepal nahmen. Wir waren gespannt auf das Neuland, in das kaum ein Tourist zuvor einen Fuß gesetzt hatte. Beinahe unberührt wirkt die Landschaft hier – es gibt kein Dorf; lediglich ein paar verlassene Steinhäuser stehen am Wegrand. Keine Menschenseele. Gut, dass wir unsere Zelte, Essen und die Küchenmannschaft dabei hatten.
Am nächsten Morgen trafen wir dann doch Leben im Tal an: Eine tibetische Handelskarawane zog mit zahlreichen Yaks, die mit Warenbündeln beladen waren, hinunter nach Namche Bazar. Der alte Handelsweg funktioniert also immer noch.
Eiskalte Nacht auf 5000 Meter Höhe
Bei Marlung verließen wir das Tal und stiegen hinauf zum Reino Tso, einem kleinen Gletschersee auf knapp 5000 Metern. Nun würde es sich zeigen, wie gut wir uns an die härteren Bedingungen in der Höhe für usnere Trekkingtour im Himalaya anpassen konnten. Abends unternahmen wir einen ersten Ausflug über die 5000-Meter-Marke, um unsere Akklimatisation zu fördern. Die erste wirkliche Herausforderung war eine sehr kalte Nacht auf großer Höhe – aber die Zelte und unsere dicken Daunenschlafsäcke hielten, was sie versprochen hatten. Der Aufstieg zum 5430 Meter hohen Renjo La ging dann auch erstaunlich leichtfüßig voran – bis auf die letzten 200 Höhenmeter: Steil führte der Weg über loses Geröll nach oben und rang uns Bewunderung ab für die Träger, die unsere gesamte Ausrüstung, Zelte und Essen ohne Zögern hinaufbalancierten.
Das Volk der Sherpa hat mich schon immer stark beeindruckt. Sie leben ihre Kultur mit tiefem Ernst und gesundem Stolz. Erst relativ spät fanden die Sherpa ihre Heimat in der südlichen Himalaya-Region: Vor mehr als 500 Jahren flohen sie vor den Mongolen aus Tibet in die oberen Täler des Khumbu und in die südlichen Täler des Solu-Gebietes. Das Wort Sherpa setzt sich zusammen aus »Sher«, was soviel heißt wie »Mensch«, und »pa« – das bedeutet »Osten«: Die Menschen aus dem Osten. Vielleicht hat gerade dieses Bewusstsein, selbst als Fremde in dieses Land gekommen zu sein, die besondere Aufmerksamkeit der Sherpa für ihre ausländischen Gäste gefördert.
Endlich war der Pass in Sicht. Der Renjo La ist wie eine Theaterbühne mit geschlossenem Vorhang. Bis kurz vor der Passhöhe ahnte ich nicht, was mich erwartete: Mit den letzten zehn Schritten öffnete sich ein Traumpanorama, wie ich es bis dahin noch nie gesehen hatte. Direkt gegenüber erschien der gigantische Mount Everest mit seiner vorgelagerten Nuptse-Wand und dem benachbarten Lhotse, hofiert von markanten 6000er-Trabanten. Der Blick hinunter reichte bis zum türkisblauen Gokyo-See mit dem gleichnamigen Ort; dahinter erstreckten sich die Eismassen des mächtigen Ngzuma-Gletschers. Und daneben der berühmte Aussichtsgipfel, Ziel aller Gokyo-Wanderer, der 5360 Meter hohe Gokyo Peak – das war die Theaterkulisse zu einem spektakulären Naturschauspiel! Nur zögerlich riss ich mich von diesem Anblick los und folgte den anderen beim Abstieg.
Zerklüftete Eisströme
Am folgenden Tag bestiegen wir den ersten Gipfel dieser Trekkingtour im Himalaya. Der Weg führte uns hinauf bis ans Talende des Gokyo-Tales, von wo aus wir den 5553 Meter hohen Ngzuma Tse in Angriff nahmen. Ein berauschender Aussichtsplatz! Vor uns baute sich die Cho Oyu-Südwand auf, zu unseren Füßen floss der Ngzuma-Gletscher und in der Ferne sahen wir die Talwächter des Khumbu: die Sechstausender Thamserku und Kang Taiga.
Über die Spalten des Ngzuma-Gletschers führte auch die nächste Etappe unserer Trekkingtour. Im Vergleich zu anderen Eisströmen fließt der Ngzuma-Gletscher sehr schnell – ständig verändert er seine Oberfläche. Jede Gruppe muss deshalb den Weg durch die zerrissene Spaltenlandschaft neu finden. Wir tasteten uns durch das Eis, stiegen hinauf bis kurz unter den Cho La auf 5420 Metern – die Höhe stellte mittlerweile für kaum mehr jemanden ein großes Problem dar – und überquerten den Pass gleich am nächsten Morgen. Den Nachmittag und die Nacht verbrachten wir auf der Hochalm Dzonghla, einem wunderschönen Hochtal, dessen Landschaft uns für die ärmlichen Unterkünfte mehr als entschädigte.
Nachdem wir uns schon mehrere Tage und Nächte immer an der 5000-Meter-Marke bewegt hatten, fiel uns auch die dritte Passüberquerung nicht schwer. Die Besteigung des Pokalde Ri auf 5802 Metern setzte dann schon Bergerfahrung und sicheres Gehen an ausgesetzten Stellen voraus. Dank der Seilsicherung konnten wir auf den letzten Metern zum Gipfel ohne Bedenken die grandiose Aussicht hinaus zum Kloster Tengpoche und hinüber zum Pumo Ri genießen. Nicht weit von diesem formschönen Siebentausender entfernt sollten wir den Höhepunkt unserer Tour erleben: die Besteigung des 6189 Meter hohen Island Peak.