Alpenüberquerung vom Engadin nach Zermatt
Von St. Moritz nach Zermatt
© Bernd Ritschel
Nach 18 Wandertagen ist das Ziel erreicht - das Matterhorn!
Nach 18 Wandertagen ist das Ziel erreicht - das Matterhorn!
Es ist kühl, wenn man in der Morgendämmerung auf einem unscheinbaren Felsgipfel über der Cristallina-Hütte im Tessin steht und wartet. Keiner steht gerne in aller Herrgottsfrüh fröstelnd auf einem Gipfel herum nach einem zügigen Aufstieg, bei dem sich trotz der Kühle ein zarter Schweißfilm über Rücken und Gliedmaßen legte. Ich blicke nach Osten. Nicht Richtung Mekka, sondern zu einem kaum erkennbaren rötlichen Schimmer an einem kleinen Zacken am Horizont. Das Rätseln darüber, um welchen Engadiner Gipfel es sich bei diesem Haifischzähnchen zwischen all den anderen Zacken handeln könnte, ist ohne Übersichtskarte sinnlos. Beim Blick in westliche Richtung schimmern dort etwas blässlich die Gipfel des Berner Oberlands aus ungewohnter Perspektive: die Südostwand des Finsteraarhorn, dahinter, ziemlich mickerig wirkend, die südseitigen Gipfelspitzen von Mönch und Eiger. Die Walliser Viertausender sind nicht zu erkennen, sie sind zu klein.
Im Osten nichts Neues. Dort hinten, irgendwo zwischen all den Engadiner Toblerone-Spitzen, beginnt die Route der Alpentransversale durch die Schweiz, auf der wir seit einigen Tagen unterwegs sind: von St. Moritz nach Zermatt, vom Engadin übers Tessin ins Wallis. Die klingenden Namen und die Assoziationen, die sie wecken, sind allein schon Garanten für den Erfolg dieses Weges – hinzu kommt all das, was dazwischen liegt und das es zu entdecken gilt. Die Route quer durch die Schweiz folgt von Ost nach West uralten Römer- und Walserwegen, nutzt prähistorische Pässe und alte Jägerpfade, von denen einige ausgebaut wurden. Schweiz-Fans kennen entlang der Route vielleicht schon einige Wegabschnitte, beispielsweise die Schlussetappen im Wallis mit dem Gsponer und Grächener Höhenweg, dem Europaweg und all jenen berühmten Schauplätzen der Natur, die dort schon im frühen 19. Jahrhundert aufgesucht wurden, weil sie den Menschen damals wie heute wohlige oder eisige Schauer über den Rücken jagen. Geboten wird auf der Route jedenfalls eine ungeheure Vielfalt – kulturell, landschaftlich, botanisch und geologisch. Es handelt sich schließlich auch um das Filetstück der Schweiz – das einem aber nicht auf dem Präsentierteller serviert wird, sondern selbst entdeckt werden muss, Schritt für Schritt, Höhenmeter für Höhenmeter – und das an Tagen mit gutem, aber auch mit schlechtem Wetter. Erst das sorgt neben der Landschaft dafür, dass solch ein Unternehmen zu einem unvergesslichen Erlebnis wird. Manche behaupten etwas pathetisch, so eine längere Gebirgs-Durchquerung sei auch immer ein Weg zu sich selbst – etwas Wahres ist da schon dran…
Der alte Römerweg über den Septimerpass zum Walserdörfchen Juf, dem höchst gelegenen, ganzjährig bewohnten Dörfchen Europas. Das einst von Walsern besiedelte Safiental und schließlich Vals, eine überraschend kleine Gemeinde mit wunderschönen, alten Walserhäusern, alle mit schweren Granitplatten auf dem Dach. Das berühmte Quellwasser des Dorfes wird bis nach Russland exportiert und dessen Therme, gebaut vom Schweizer Star-Architekten Peter Zumthor, ist ebenfalls international bekannt ist. Es folgen Bildsequenzen vom Aufstieg im Nieselregen über die Diesrut-Alpe zum gleichnamigen Pass: mystische Nebel-Stimmungen, oben der Blick auf das sechs Kilometer lange und etwa einen Kilometer breite Flusshochtal der Greina mit dem Somvixer-Rhein, einem Zufluss des Rheins. Eine ungewöhnliche alpine Tundra-Landschaft vor Bergflanken, die noch mit Altschneeresten bedeckt sind – beinahe wie in Alaska.
Immer wieder Bilder von Bergwiesen, in denen die ganze Blütenpracht nach dem langen Winter offenbar gleichzeitig explodiert ist: riesige Matten von zarten Soldanellen neben blauen Enzianen, leuchtend gelber Gletscherhahnenfuß neben dicken Polstern von Stängellosem Leimkraut, Margariten, Blutnelken, Alpendost, dann wieder alpine Tundra. Ein Fest der Sinne, vollendet am Abend durch eine köstliche Polenta mit Rinderbraten, einem fruchtigen Tessiner Merlot und bestens umsorgt vom gut gelaunten Team der Bovarina-Hütte. Tags darauf mächtige Gneisblöcke unterm Passo di Gana Negra – als hätten die Götter hier mit gigantischen Murmeln gespielt. Danach durch duftende Bergwiesen zum Lukmanier-Pass und zur Seenplatte des Ritom, gefolgt von der Abfahrt mit einer der steilsten Standseilbahnen der Welt – mit bis zu 87,8 Prozent Gefälle. In Airolo beim Blick aus dem Fenster der Schock: Autobahn, Eisenbahn, Straßen, Staubecken, Hochspannungsmasten, Leitungen, Seilbahnen – alles im schmalen Talgrund. Beim Aufstieg zur Cristallina-Hütte aber sofort wieder Stille, Natur in strotzender Vielfalt und Fülle.
Wieder blicke ich nach Osten. Plötzlich ein grelles Aufleuchten: Da ist er, der erste Strahl, der Farbe, Tiefe und Weite ins Panorama bringt und signalisiert, dass alles seinen normalen Gang geht – wie seit Millionen von Jahren. Wie trügerisch das doch ist, und wie beruhigend und schön zugleich. Sonnenaufgänge sind banal, sie haben aber, allen Spöttern zum Trotz, etwas Archetypisches, etwas, das weit über den verkitschten Mythos hinausweist und die Menschen zu fesseln vermag – von der Jungsteinzeit bis heute. Es ist nicht nur ein voyeuristisches Vergnügen, dabei zu sein, wenn ein neuer Tag anbricht – der Sonnenaufgang ist eine starke Metapher für die Vorfreude und Neugier auf die nächste Etappe – und jede einzelne, die da noch kommen mag.
Im Osten nichts Neues. Dort hinten, irgendwo zwischen all den Engadiner Toblerone-Spitzen, beginnt die Route der Alpentransversale durch die Schweiz, auf der wir seit einigen Tagen unterwegs sind: von St. Moritz nach Zermatt, vom Engadin übers Tessin ins Wallis. Die klingenden Namen und die Assoziationen, die sie wecken, sind allein schon Garanten für den Erfolg dieses Weges – hinzu kommt all das, was dazwischen liegt und das es zu entdecken gilt. Die Route quer durch die Schweiz folgt von Ost nach West uralten Römer- und Walserwegen, nutzt prähistorische Pässe und alte Jägerpfade, von denen einige ausgebaut wurden. Schweiz-Fans kennen entlang der Route vielleicht schon einige Wegabschnitte, beispielsweise die Schlussetappen im Wallis mit dem Gsponer und Grächener Höhenweg, dem Europaweg und all jenen berühmten Schauplätzen der Natur, die dort schon im frühen 19. Jahrhundert aufgesucht wurden, weil sie den Menschen damals wie heute wohlige oder eisige Schauer über den Rücken jagen. Geboten wird auf der Route jedenfalls eine ungeheure Vielfalt – kulturell, landschaftlich, botanisch und geologisch. Es handelt sich schließlich auch um das Filetstück der Schweiz – das einem aber nicht auf dem Präsentierteller serviert wird, sondern selbst entdeckt werden muss, Schritt für Schritt, Höhenmeter für Höhenmeter – und das an Tagen mit gutem, aber auch mit schlechtem Wetter. Erst das sorgt neben der Landschaft dafür, dass solch ein Unternehmen zu einem unvergesslichen Erlebnis wird. Manche behaupten etwas pathetisch, so eine längere Gebirgs-Durchquerung sei auch immer ein Weg zu sich selbst – etwas Wahres ist da schon dran…
Weitwandern: Ferien vom Ich
Insgesamt sind bei den 18 Wanderetappen 250 Kilometer Strecke zu bewältigen, mit 15000 Höhenmetern im Aufstieg und 13500 im Abstieg. Das sagt aber noch nichts darüber aus, was einen unterwegs erwartet, was jeder erlebt, sieht, fühlt und schmeckt, und was mit einem selbst geschieht, wenn man drei Wochen am Stück in diesen Bergregionen im eigenen Tempo und damit in einer »entschleunigten Zeit« unterwegs ist. Fern vom Alltag, fern von dem, was das »normale« Ich sonst ausmacht, völlig konzentriert auf den Weg und das, was da auf einen zukommt. Man lebt im Jetzt, ist völlig fokussiert auf die Landschaft und seine sinnliche und körperliche Wahrnehmung. Es sind drei Wochen Ferien vom Ich – und das in grandioser Umgebung mit äußerst positiven Auswirkungen für Körper, Geist und Seele. Wer kann, sollte die Tour also unbedingt am Stück machen; so ist der Lohn – das, was einem davon bleibt – am größten. Und nach Beendigung der Durchquerung sollte man dann mit dem Glacier Express von Zermatt zurückfahren nach St. Moritz, um staunen zu können über diese beeindruckende Strecke, die man zu Fuß bewältigt hat.Auf alten Römer- und Walserwegen
Fröstelnd und zugleich glücklich, hier sein und in aller Ruhe meinen Gedanken und Bildern nachhängen zu können, blicke ich hinab zur großen, modernen Cristallina-Hütte, in der die anderen noch schlafen. Die Hütte ist komfortabel, erst vor einigen Jahren wurde sie direkt auf der Passhöhe in bester Aussichtslage errichtet, nachdem die alte, weiter unten stehende Hütte an einer Stelle, die Experten für unbedenklich hielten, einer Lawine zum Opfer fiel. Ich setze mich hinters Steinmännchen am Gipfel und blicke wieder ins Engadin, wo sich der rötliche Schimmer inzwischen zu einem Streifen ausgeweitet hat. Bilder der ersten Etappen blitzen jetzt vor meinem inneren Auge auf: das grauslich verbaute, verschachtelte, von seinem alten Glanz zehrende St. Moritz mit dem kleinen, feinen Segantini-Museum.Der alte Römerweg über den Septimerpass zum Walserdörfchen Juf, dem höchst gelegenen, ganzjährig bewohnten Dörfchen Europas. Das einst von Walsern besiedelte Safiental und schließlich Vals, eine überraschend kleine Gemeinde mit wunderschönen, alten Walserhäusern, alle mit schweren Granitplatten auf dem Dach. Das berühmte Quellwasser des Dorfes wird bis nach Russland exportiert und dessen Therme, gebaut vom Schweizer Star-Architekten Peter Zumthor, ist ebenfalls international bekannt ist. Es folgen Bildsequenzen vom Aufstieg im Nieselregen über die Diesrut-Alpe zum gleichnamigen Pass: mystische Nebel-Stimmungen, oben der Blick auf das sechs Kilometer lange und etwa einen Kilometer breite Flusshochtal der Greina mit dem Somvixer-Rhein, einem Zufluss des Rheins. Eine ungewöhnliche alpine Tundra-Landschaft vor Bergflanken, die noch mit Altschneeresten bedeckt sind – beinahe wie in Alaska.
Durch geologisches Chaos zur Scaletta-Hütte
Beim Abstieg Sumpflandschaft und Trockenzonen im Wechsel, ein packendes Nebel-Schauspiel rund um die Terri-Hütte und den immer wieder dramatisch hervorblitzende Ostgrat des Piz Miezdi. Danach geologisches Chaos auf dem Weg zum Greina-Pass und zur Scaletta-Hütte: helle Kalktuff-Abbrüche, wie offene Wunden, eine tief in den Kalk genagte Schlucht, dunkler, splittriger Schiefer, Mergel, Kalktürmchen, Dolomit, Gneis…Dass diese einzigartige Landschaft in den 1960er-Jahren nicht in einem Stausee-Projekt ersäuft wurde, ist dem 1933 in Großbritannien geborenen, seit den 1950er-Jahren in der Schweiz lebenden Architekten und Künstler Bryan Cyril Thurston zu verdanken und dem Tessiner Naturschutzbund. Inzwischen profitieren die anliegenden Gemeinden in hohem Maße davon.Immer wieder Bilder von Bergwiesen, in denen die ganze Blütenpracht nach dem langen Winter offenbar gleichzeitig explodiert ist: riesige Matten von zarten Soldanellen neben blauen Enzianen, leuchtend gelber Gletscherhahnenfuß neben dicken Polstern von Stängellosem Leimkraut, Margariten, Blutnelken, Alpendost, dann wieder alpine Tundra. Ein Fest der Sinne, vollendet am Abend durch eine köstliche Polenta mit Rinderbraten, einem fruchtigen Tessiner Merlot und bestens umsorgt vom gut gelaunten Team der Bovarina-Hütte. Tags darauf mächtige Gneisblöcke unterm Passo di Gana Negra – als hätten die Götter hier mit gigantischen Murmeln gespielt. Danach durch duftende Bergwiesen zum Lukmanier-Pass und zur Seenplatte des Ritom, gefolgt von der Abfahrt mit einer der steilsten Standseilbahnen der Welt – mit bis zu 87,8 Prozent Gefälle. In Airolo beim Blick aus dem Fenster der Schock: Autobahn, Eisenbahn, Straßen, Staubecken, Hochspannungsmasten, Leitungen, Seilbahnen – alles im schmalen Talgrund. Beim Aufstieg zur Cristallina-Hütte aber sofort wieder Stille, Natur in strotzender Vielfalt und Fülle.
Wieder blicke ich nach Osten. Plötzlich ein grelles Aufleuchten: Da ist er, der erste Strahl, der Farbe, Tiefe und Weite ins Panorama bringt und signalisiert, dass alles seinen normalen Gang geht – wie seit Millionen von Jahren. Wie trügerisch das doch ist, und wie beruhigend und schön zugleich. Sonnenaufgänge sind banal, sie haben aber, allen Spöttern zum Trotz, etwas Archetypisches, etwas, das weit über den verkitschten Mythos hinausweist und die Menschen zu fesseln vermag – von der Jungsteinzeit bis heute. Es ist nicht nur ein voyeuristisches Vergnügen, dabei zu sein, wenn ein neuer Tag anbricht – der Sonnenaufgang ist eine starke Metapher für die Vorfreude und Neugier auf die nächste Etappe – und jede einzelne, die da noch kommen mag.
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Gaby Funk
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Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 10/2008. Jetzt abonnieren!
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