Bergsteiger: Herr Roth, die wenigsten Menschen können mit dem Namen Cipra etwas anfangen. Dabei gibt es die Internationale Alpenschutzkommission seit 1952. Woran liegt das?
Uwe Roth: Die Cipra ist ein internationaler Dachverband. In Deutschland gehören Vereine und Verbände wie Alpenverein, BUND Naturschutz, Verein zum Schutz der Bergwelt, oder auch die Bergwacht und der Verband der Berg- und Skiführer dazu – also nicht nur klassische Umweltverbände. Unsere Hauptaufgabe ist Netzwerkarbeit. Wir sind die Spinne im Netz und versuchen, Fäden zu den einzelnen Organisationen zu knüpfen. Es gibt in jedem Alpenland eine Cipra. Cipra Deutschland wird in diesem Jahr 50 Jahre alt. Die Cipra International ist das Dach der Dächer.
Haben Sie ein Beispiel für die Wirksamkeit der Cipra?
Im Streit um das Riedberger Horn und die geplante Skischaukel konnten wir unseren Mitgliedsorganisationen zeigen, dass es die Cipra braucht. Wir haben alle an einen Tisch geholt und koordiniert, wer was macht. So wussten die Beteiligten untereinander Bescheid. In der Vergangenheit wurde die eine Organisation von einem Bürgermeister eingeladen und später eine andere – am Ende wurden sie gegeneinander ausgespielt, weil die eine nicht wusste, was die andere ausgehandelt hatte. Mit unserer Koordination waren alle auf dem gleichen Stand, zudem konnten wir Redundanzen abbauen – es müssen beispielsweise nicht von zwei Verbänden geologische Gutachten in Auftrag gegeben werden. Lieber ein Geo-Gutachten und ein zweites zum Birkhuhn, dann profitieren alle beteiligten Umweltverbände davon.
Schlussendlich war der Kampf gegen die geplante Skischaukel in den Allgäuer Alpen erfolgreich. Die Bayerische Staatsregierung lenkte 2018 ein, reaktivierte den Bayerischen Alpenplan und erweiterte das Schutzgebiet. In der Öffentlichkeit standen aber eher DAV und BUND und weniger die Cipra.
Öffentlichkeitsarbeit ist nicht unser Steckenpferd. Der Alpenverein und der BN sind in ihrer Medienarbeit viel professioneller. Sie sind per se besser als Sprachrohr geeignet und haben als solches auch eine gewisse Macht. Wir schauen, wer welche Stärken hat – und die liegt bei uns nicht in der Kommunikation. In den Kampf um die Erhaltung des Riedberger Horns hatten wir aber so viel Arbeit reingesteckt, dass wir auch in den Medien vorkamen.
Wenn es um das rasante Schmelzen der Gletscher geht, die häufiger auftretenden Bergstürze und Klimakatastrophen wäre es aber wünschenswert, dass die Cipra als Dachverband der Alpenschützer eine Kampagne startet.
Tatsächlich lag ein Fokus meiner Bewerbung zur Präsidentschaft auf mehr Öffentlichkeitswirksamkeit durch Social Media. Privat mag ich die Kanäle eigentlich nicht besonders. Wenn man sich aber die Weltlage anschaut, kommt man nicht um den Schluss herum, dass Social Media eine politische Triebkraft geworden ist. Den progressiven Kräften schwimmen hier die Felle davon, während die Konservativen bis hin zu den Rechten die Kanäle mit ihren Inhalten dominieren. Diese nehmen in vielerlei Hinsicht konträre Positionen zu denen ein, die wir eigentlich spielen wollen. Wir müssen hier stärker werden und brauchen jemanden, der die Mechanismen und Algorithmen kennt und uns in die Kommentarspalten bringt. Mir ist dies beim Thema Königsbachfälle bewusst geworden, die als Instagram-Hotspot galten und schlussendlich gesperrt wurden. Das war ein großes Ding, denn eigentlich gilt in Bayern das freie Betretungsrecht in der Natur. Zuvor wurde hier mitten im Nationalpark Berchtesgaden die Natur massiv degradiert.

Der Nationalpark hatte zunächst versucht, auf Instagramer einzuwirken, die Posts zu löschen, und startete selbst eine Kampagne. Nur fruchtete sie nicht.
Stimmt. Erst als die Community selbst auf Posts negative Kommentare abgegeben hatte, änderte sich auch im Bewusstsein etwas. Genau da will ich anknüpfen. Wir haben saugute Argumente. Wir müssen sie nur auf diesem Schlachtfeld namens Social Media vertreten. Auch ich als Präsident werde dann Flagge zeigen müssen.
Wie geht es den Alpen aktuell aus Ihrer Sicht?
Wir sind in ganz vielen Themenbereichen an einem Scheidepunkt. Jetzt entscheidet sich, wie es den Alpen in naher und mittlerer Zukunft gehen wird. Das ist beim Thema Klimawandel so, der die Alpen sehr stark trifft. Mit dem Gletscherschwund werden Fakten geschaffen, die nicht nur visueller Natur sind. Berge kommen im Wortsinn in Bewegung. Im Tourismus sehen wir weiterhin Konzentrationsprozesse, also die so genannten Hotspot-Problematiken, Schlagwort Overtourism. Der Verkehr in den Alpen wird stetig mehr, die Alpentäler werden aber nicht breiter und die Alpenkonvention verbietet neue hochrangige Straßen. Wir müssen uns stark machen, dass die Verlagerung auf die Schiene funktioniert. Aktuellstes Thema ist die Energiewende im Spannungsfeld Klima- versus Naturschutz. Beide konkurrieren um die gleichen Flächen.
Wasserkraft kocht nicht nur in Tirol hoch
Gibt es dazu eine offizielle Cipra-Meinung?
Die klassischen Naturschutzorganisationen zerreißt es bei dem Thema förmlich. Einerseits ist allen bewusst, dass die Klimakrise die größte Gefährdung auch für den Naturschutz ist. Andererseits haben wir als dicht besiedelter Kontinent nur noch wenige Rückzugsgebiete, und viele von denen sind in den Alpen. Das Thema Wasserkraft kocht nicht nur in Tirol hoch. Auch in Oberstdorf im Allgäu werden Pläne aus den Schubladen geholt. Mit der bayerischen Brille betrachtet, geht es um die wertvollsten Fließgewässer, die wir noch haben. Auf EU-Ebene wurde den Erneuerbaren Energien erhöhtes öffentliches Interesse zugesprochen und gleichgesetzt mit Landesverteidigung und öffentlicher Gesundheit. Auch als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg.
Was heißt das konkret?
Das heißt, dass jetzt sogar ein Naturschutzgebiet nicht mehr unantastbar ist. Wir als Cipra lassen gerade überprüfen, ob solche Projekte mit der Alpenkonvention vereinbar wären. Wir stellen die »Renewable Energy Directive« in Bezug auf sensible Gebiete in den Alpen in Frage und sind ganz guter Dinge, dass sich die Alpenländer spezifische Umsetzungsrichtlinien überlegen müssen. Denn die ganzen Erneuerbaren-Projekte müssen keine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP, d. Red.) mehr nachweisen –, was Wahnsinn ist und ein großer Rückschritt wäre. Die Alpenkonvention verlangt aber UVPs. Sie ist als völkerrechtlicher Vertrag, den auch die EU unterzeichnet hat, das höherwertige Recht. Wenn wir uns hier durchsetzen, wäre das ein Paukenschlag.
Ist die Energiewende Frevel an der Natur?
Lange Zeit wurde sie als Öko-Projekt gesehen. Das ist sie aber nicht mehr. Für den Start hat es die Ökos gebraucht. Jetzt wird es mehr und mehr ein industrielles Projekt, denn die Industrie benötigt den Strom und wir als Konsumenten benötigen ihn für die Produkte der Industrie, seien es Elektroautos oder andere Güter. Für einen gesunden politischen Abwägungsprozess brauchen wir wieder kritische Naturschutzverbände, die sich zu 100 Prozent für die Belange der Natur einsetzen. Der andere Player sind die Versorgungsunternehmen, die sich dem Energiehunger der modernen Gesellschaft verpflichtet sehen. Dann streiten wir uns, und heraus kommt ein Kompromiss.
Welche Früchte hat die Arbeit der Cipra bislang getragen?
Die Alpenkonvention war das große Ziel von Beginn an. Als sie in den 1990er-Jahren Realität wurde, stand die Frage im Raum: Haben wir alles erreicht, war es das, können wir zufrieden den Laden zusperren?
Und?
Es zeigte sich schnell, dass die Umsetzung eine ganz andere Geschichte ist. Die Cipra ist ja der Wächter über die Konvention, also Hüter des Vertragswerks.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine große Lücke.
Ich finde es manchmal ziemlich frustrierend, wie wenig die Konvention letztendlich gebracht hat und wie zahnlos dieser völkerrechtliche Vertrag in vielen Punkten ist. Wer sich mit denInhalten näher beschäftigt, merkt schnell, dass es vollkommen ausgeschlossen wäre, sich heute über so viele Ländergrenzen hinweg nochmals auf die Ziele der Alpenkonvention zu einigen.
Weil sie radikal waren?
Genau. Die Alpenkonvention war ein großer Wurf. Man rätselt heute noch, ob es an der Aufbruchstimmung nach der Wende lag. Es war die Zeit eines neuen Multilateralismus. Wie immer, hängt es auch an Einzelpersonen. Damals war Klaus Töpfer deutscher Umweltminister. Er trieb die Alpenkonvention sehr charismatisch voran.

Die sogenannten Durchführungsprotokolle zu Verkehr, zu Tourismus et cetera müssten doch eigentlich die Basis für das politische Handeln sein. Sie werden aber oft umschifft. Gibt es dagegen keine Handhabe?
Wenn massiv gegen die Bestimmungen verstoßen wird, versuchen wir dagegen vorzugehen. Es fällt uns mitunter schwer, weil findige Juristen die Alpenkonvention in einzelnen Alpenländern auszuhebeln versuchen. Motto: Das gilt bei uns gar nicht, da gibt es schon eigene Gesetze.
Wo greift die Alpenkonvention ohne Abstriche?
Es dürfen keine hochrangigen, alpenquerenden Straßen mehr gebaut werden. Weitere Autobahnen sind also tabu. Ohne die Konvention hätten wir heute die Alemannia als Verbindung aus dem Friaul nach Norden. Die Pläne gibt es immer noch, aber sie sind, Dank der Alpenkonvention, noch immer nicht realisierbar. Es gibt noch weitere scharfe Schwerter der Alpenkonvention, die ansonsten vor Absichtserklärungen überquillt.
Welche Schwerter meinen Sie?
Ein Beispiel: Schutzgebiete dürfen nicht in ihrem Schutzzweck eingeschränkt werden, Artikel 11, Naturschutzprotokoll. Das ist ein großes Ding. Es verhindert auch Verkleinerungen von Schutzgebieten.
Für viele touristisch ausgerichtete Gemeinden ist eine Wintersaison ohne künstlicher Beschneiung kaum vorstellbar. Man möchte den Gästen auf Knopfdruck Wintersport ermöglichen. Ist das sinnvoll oder anachronistisch?
Das Problem ist, dass angesichts der Klimakrise und den unregelmäßigeren Niederschlägen immer größere Becken notwendig werden, um darstellen zu können, was diese Gemeinden an Skizirkus bieten wollen. Solange Schneekanonen wie in Bayern staatlich bezuschusst werden, ist eine Umkehr unwahrscheinlich.
Schneekanonen schieben den notwendigen Strukturwandel immer weiter hinaus
Wird hier ein totes Pferd weiter geritten?
Ich fürchte schon. Und man erweist den Regionen einen Bärendienst, weil man sie in Sicherheit wiegt, dass es einfach so weitergeht. Dadurch wird der notwendige Strukturwandel immer weiter hinausgeschoben. In Deutschland gibt es die Seilbahnförderrichtlinie, über die Modernisierungen von Seilbahnen mit bis zu 35 Prozent gefördert werden. Wenn der Steuerzahler ein Drittel zahlt, ist die Kalkulation eine ganz andere, als wenn der Markt regulieren würde. Wenn wir das Steuergeld in die Hand nehmen würden, auf dass sich die Regionen der Zukunft widmen, dann wäre mehr geholfen.
Dass dies funktionieren kann, sieht man am Riedberger Horn. Statt Skischaukel gibt es nunmehr ein mit 20 Millionen Euro aufgebautes »Zentrum Naturerlebnis Alpin«, in dem Ranger Besuchern die schützenswerte Natur näherbringen.
An dem Beispiel sieht man den Unterschied zwischen Anpassung und Transformation. In vielerlei Hinsicht brauchen wir Anpassung an den Klimawandel, aber am Ende des Tages werden wir in den allermeisten Fällen eine Transformation brauchen. In dem Sinne, dass wir die Dinge komplett neu denken.
Geben Sie bitte ein weiteres Beispiel.
Anpassung hieße, am Brauneck in Lenggries einen größeren Speicherteich zu bauen, weil es immer wärmer wird und wir immer mehr Wasser brauchen. Dann käme noch ein Kühlturm hinzu, weil ohne den die Beschneiung irgendwann nicht mehr funktioniert und so weiter. Transformation dagegen bedeutet: Wie können wir Tourismus im Isartal künftig bespielen, was sind unsere Stärken unsere Schwächen? Wo gehen wir hin in einer x-Grad wärmeren Welt? Es gilt, visionär zu denken. Und dieses Denken fehlt vielen Leuten noch. Das Gleiche machen, nur grün angepinselt, wird auf Dauer nicht funktionieren.
Wie wollen Sie den Druck auf politische Entscheidungsträger erhöhen, auf dass die Alpen in eine gute Zukunft gelangen?
Wie bereits erwähnt, ist ein Hebel sicherlich Social Media. Hierüber haben wir bislang nicht in ausreichendem Maße Druck ausgeübt. Zudem wollen wir uns stärker auf die EU konzentrieren. Naturschutzpolitik und Klimaschutz werden maßgeblich in Brüssel gemacht. Beispielweise das »Nature restoration law«, also die Verordnung zur Wiederherstellung der Natur aus dem Jahr 2024, das fordert, bis 2030 zwanzig Prozent der Land- und Meeresfläche der EU zu renaturieren. Eine irre Geschichte. Ein einzelner Nationalstaat hätte das so niemals in die Wege geleitet.
Auch der Alpentourismus stellt ein Problem dar, denn die meisten reisen mit dem Auto an. Muss es teuer werden, damit sich am Verhalten des Einzelnen etwas ändert?
Davon bin ich überzeugt. Viele der aktuellen Probleme können wir nur über Verhaltensänderungen lösen. Im großen Stil wird das nur über finanzielle Lenkungsmaßnahmen funktionieren. Denn ansonsten wählen die allermeisten den billigeren und vermeintlich bequemeren Weg. Das bedeutet beispielsweise deutlich höhere Parkgebühren an Wanderparkplätzen, die stark frequentiert werden.
Die Zeit drängt. Die Erwärmung schreitet fort. Sollten 4 Grad Celsius mehr erreicht werden gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter, würde es an vielen Stellen in den Alpen viel gefährlicher werden. Stichwort Bergstürze, Murgänge. Wie bereitet sich die Cipra auf solche Szenarien vor?
Wir sind alle notorische Optimisten, sonst wäre es sehr schwer auszuhalten, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Wir verstehen die ernste Lage als Antrieb, Leute aufzurütteln. Wir fokussieren uns nicht auf Szenarien, was wäre, wenn die Temperatur um so und so viel Grad ansteigt. Da würden wir uns auf dünnes Eis begeben. Wir fahren eher auf Sicht.
Interview: Michael Ruhland
Dieser Artikel erschien im Bergsteiger 10/2025. Bestellen Sie jetzt die Einzelausgabe oder testen Sie unser Magazin mit 50% Preisvorteil.