Stefan Glowacz: »Ich lebe im Chaos« | BERGSTEIGER Magazin
Interview mit Stefan Glowacz

Stefan Glowacz: »Ich lebe im Chaos«

Einst war er der Shooting Star der Sportkletterszene. Vor mehr als 20 Jahren beendete er seine erste Karriere und wandte sich dem zu, was er für seine Bestimmung hält: Expeditionen, die Abenteuer und Klettern vereinen, wie jüngst auf Baffin Island, Kanada. Ein Gespräch über hohe Wände in der Wildnis, Alphatiere und alternde Alpinisten.
 
Stefan Glowacz © Marcel Hartmann
Expeditionen, die Abenteuer und Klettern vereinen, sind Stefan Glowacz' Leidenschaft.
Bergsteiger: Herr Glowacz, es war nicht die erste Tour zu den Big Walls auf Baffin Island – auch dieses Mal wieder lange Märsche über Fjorde, Seen und Tundra. Warum setzen Sie sich derartigen Strapazen aus?

STEFAN GLOWACZ: Lange bevor ich zum Klettern kam, haben mich Abenteurer wie Scott, Nansen oder Shackleton fasziniert. Mich interessierte das ganze Drumherum: das Aufbrechen, das Entdecken unbekannter Gebiete. Das ist bis heute so. Das Klettern ist zuerst Mittel zum Zweck, um aufzubrechen und mich von dem familiären Establishment zu lösen. Mein größter Wunsch war einmal, eine Blockhütte zu bauen und mitten im Busch von Kanada zu überwintern. Der ist immer noch da…

…lieber alleine oder mit Leuten?
Ich sehe mich nicht als Eigenbrötler, der sich alleine durch die Wildnis schlägt. In Baffin Island habe ich mir aber oft vorgestellt, wie sich das anfühlen würde, wäre ich jetzt alleine unterwegs. Würde ich schon umkehren? Das ist ein interessanter Aspekt, ob ich wohl die Eier hätte, so etwas alleine zu machen.

War Ihre Abenteuerlust der Grund dafür, 1993 mit dem Wettkampfklettern aufzuhören – trotz der Erfolge?
Ja. Ich wollte nicht nur eigene Projekte machen wie »Des Kaisers neue Kleider«, sondern endlich auf Expedition gehen. Aus dieser Überlegung entstand der »By fair means-Aspekt«. Das Aufbrechen aus eigener Kraft zu einer schweren Wand, dort eine Erstbegehung klettern, selber zurückkehren, ohne fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Also die perfekte Kombination aus Abenteuer und dem Hochleistungsaspekt im Klettern.

Sie hatten eigens angefertigte Multifunktionsschlitten dabei, die bis hin zum Portaledge so ziemlich alles können sollten.
Nur durch die Konstruktion der Schlitten war die Baffin- Expedition zu dieser Jahreszeit überhaupt möglich. Wir konnten damit auf alle Veränderungen reagieren. Meine Partner Red Bull, Gore und Marmot unterstützten das Projekt, so dass wir den Schlitten bei einem Karbonspezialisten genau auf unsere Bedürfnisse hin entwickeln konnten. Ein Jahr lang tüftelten wir rum. Wir testeten die verschiedenen Funktionen ausgiebig, aber wie gut er sich auf Baffin Island verhalten würde, war ungewiss.


Der zugefrorene Sam Ford Fjord

Ziemlicher Druck, der da auf Ihnen lastete.
Sagen wir so: Der Ball lag ziemlich weit in meinem Feld. Ich hatte die Idee zu dem Schlitten, war der Initiator und der Auftraggeber für das Projekt. Da war von Anfang an Spannung in der Luft. Die Baffin-Expedition stand am Anfang unter einem guten Stern und wir konnten die Schlitten noch komplett über das zugefrorene Meer in den Sam Ford Fjord ziehen. Über Land wäre das ein riesiges Theater geworden.

Sie sind dadurch in Ihrem Zeitplan geblieben und waren nach acht Tagen und 180 Kilometern von Clyde River aus am Fuß der Wand. Dort wollten Sie den Schlitten dann auch als Portalegde nutzen. Hat das geklappt?
Die Eisfläche im Fjord veränderte sich in rasender Geschwindigkeit und meine Partner hatten große Bedenken, ob später beim Rückmarsch die Schlitten tatsächlich als Boote ihren Dienst tun würden. Die Ursprungsidee, direkt vom Fjord aus eine hohe Wand zu klettern, verwarfen wir leider.

Klingt alles in allem nach nicht dem optimalen Teamspirit.
Der war bei dieser Expedition tatsächlich anders als bei den zurückliegenden. Mit Robert und mir treffen halt zwei Alphatiere aufeinander. Jeder von uns brennt für das gemeinsame Ziel, aber ab und zu waren wir uns nicht einig, mit welcher Vorgehensweise wir es erreichen wollen. Der Spaßfaktor war jedenfalls nicht so ausgeprägt wie bei den Expeditionen mit Kurt Albert und Holger Heuber. Es fehlte ein wenig die Gelassenheit.


Eine noch unbestiegene Wand am Turret auf Baffin Island war das ursprüngliche Ziel der Expedition.

Was passierte dann?
Wir hatten uns auf den Turret festgelegt, weil wir im American Alpine Journal von kanadischen Kletterern gelesen hatten, die die Ostwand probiert hatten, aber nicht hochkamen. Als wir am Einstieg standen, fanden wir die Begehungsspuren der Kanadier und sind dann noch weiter nach links zu einem anderen Risssystem gewechselt. Eine geniale Linie, die absolut logisch bis zum Gipfel zieht. Wir stiegen begeistert ein, aber stießen nach einigen Metern auf alte Haken, vermutlich aus den Achtzigern. Es war ein Fehler, dass wir uns nur auf die Aussagen der Kanadier verließen. Nach unserer Rückkehr recherchierte ich noch einmal genauer und fand heraus, dass vor 21 Jahren Warren Hollinger, Jerry Gore, Mark Synnott diese Route als Erste kletterten und Nuvualik tauften.

Vorbei der Traum einer Erstbegehung…
Unsere Enttäuschung war natürlich groß. Unten im Fjord begann das Eis schon zu schmelzen. Vor uns lag nicht nur die Wand, sondern auch noch ein extrem anstrengender, mindestens tens zehntägiger Rückmarsch ins Ungewisse. Also entschieden wir, diese Linie auf den Turret weiter zu verfolgen. Anfangs waren wir ziemlich frustriert, schlossen aber schnell unseren Frieden damit. Wir kletterten eh unsere eigenen Varianten in freier Kletterei. Etwa die Hälfte der Route kletterten wir auf neuen Seillängen und kehrten vor allem in den Ausstiegsseillängen zurück in die bestehende Route – weil sie logisch war. Deshalb war’s letztlich eine Wiederholung mit freien Varianten.

Das waren 15 Seillängen an der etwa 500 Meter hohen Westwand des Turret. Wie hart muss man sich die Kletterei auch angesichts der Kälte vorstellen?
Beim Anmarsch war’s noch recht frisch, beim Klettern waren es aber absolut moderate Temperaturen. Selbst im Schatten ging noch was. Wir hatten die Schlitten zuvor mit dem Nötigsten in das Seitental 150 Höhenmeter unterhalb der Wand transportiert. Auf einer Moränenschulter richteten wir ein Basislager ein. Von dort aus brauchten wir 90 Minuten bis zum Einstieg. Das Tolle: Es wird nie dunkel zu dieser Jahreszeit. Das heißt, du kannst 24 Stunden lang durchklettern, wenn du willst. Wir sind gegen 10 Uhr eingestiegen und waren um 2.30 Uhr am Gipfel.

Und das lief alles wie am Schnürchen?
Nein, wenige Seillängen vor dem Ausstieg kamen wir in einen Steinschlag. Wir waren genau in der Falllinie, ausweichen war unmöglich. Mir ist ein Stein auf die Innenfläche der linken Hand gefallen und hat einen richtigen Hautfetzen herausgerissen, und ein anderer Stein prallte aufs rechte Handgelenk. So konnte ich mit meinen Händen so gut wie nichts mehr machen.

War dann Schluss mit Klettern?
Für mich ja. Ich konnte nur noch sichern. Robert ist vorgestiegen, die Ausstiegsseillängen waren eigentlich nicht mehr schwierig, aber total vereist. Die letzten Seillängen wurden zum Albtraum. Robert, der Eiskletterer, war da in seinem Element. Das war sein Gelände. Dennoch wird einem schlagartig bewusst, in welcher ausgesetzten Region man unterwegs ist. Wenn mir der Stein zum Beispiel ins Gesicht gefallen und den Kiefer zertrümmert hätte, dann hätte nicht nur ich, sondern unser ganzes Team ein massives Problem gehabt.

Der nächste Hubschrauber wäre weit weg gewesen?
In dieser Region gibt es keinen Hubschrauber. Wir hätten ein internationales Notrufsignal abgeben können, das hätte aber noch lange nicht bedeutet, dass auch wer gekommen wäre.

Ich stelle mir vor, dass der Rückweg – auch psychologisch – mühsamer ist. Die Wand ist bestiegen, der Kick passé.
Fakt ist: Man kommt mit der Denkerei nie zur Ruhe, ist mit dem Kopf immer einen oder mehrere Schritte voraus. Deshalb ist die innere Anspannung bis zum Ende da – es gibt kein mentales Tal oder Loch. Wir waren wie Schachspieler, die drei, vier oder fünf Züge vorausdenken. Mit einem wesentlichen Unterschied: Wir waren Schachspieler und Figuren zugleich.

Die weißen Flecken werden weniger. Beunruhigend?
Nein, eigentlich nicht. Ich bin sehr dankbar, auf vieles, was ich bislang erlebt habe, zurückblicken zu können. Ich durfte mich damals vor zehn Jahren als Pionier fühlen, als wir mit den Seekajaks im Edlington Fjord unterwegs waren – da gab’s vorher vielleicht eine Handvoll Kletterer. Oder oben in der Bastion im Quernbitter Fjord, das war ein Novum. Wir haben also super Sachen gemacht, wo wir sagen konnten, dass wir die Ersten waren.

Nur: Da sind inzwischen auch andere draufgekommen.
Diese Ziele sind tatsächlich rarer geworden, das stimmt. Wenn man sieht, was derzeit in El Chatén in Patagonien los ist, dann ist das nix anderes mehr als das südamerikanische Chamonix. Und wie inzwischen berggestiegen wird: mit Satellitentelefon und direktem Draht zum Wetterbericht. Das gab’s früher nicht.

Was reizt Sie dann noch?
Es gibt noch sehr viele Ziele, die ich im Kopf habe. Ich bräuchte zwei Klettererleben, um sie realisieren zu können. Aber leider kann ich mir altersbedingt nur noch die Rosinen rauspicken. Aber neue unentdeckte Traumziele, wie Baffin Island oder Patagonien, sehe ich für mich tatsächlich nicht mehr.


Ein eigens angefertigter Multifunktionsschlitten, die auch als Raft und Rikscha taugten.

China?
Okay, dort vielleicht schon noch. Aber Expeditionen in China sind mit einer unglaublichen Willkür verbunden. Es ist eine Lotterie, ob du überhaupt an die Wand kommst. Und ob du so viel Schmiergeld zu zahlen bereit bist, dass sie dich durchlassen. So etwas kann ich nicht ertragen. Da hört die Leichtigkeit des Bergsteigens für mich auf.

Apropos Leichtigkeit: Sie gehören inzwischen ja zur Generation 50+. Schon bei der Darmkrebsvorsorge gewesen?
(lacht) Tatsächlich war ich schon ein paar Mal bei der Vorsorge. Ich dachte, ich hätte Darmkrebs, weil es zwickte und zwackte. War dann Gottseidank nichts. In dieser Beziehung war ich vielleicht zu oft mit Kurt Albert unterwegs. Der war ein überzeugter Hypochonder. Bei jedem Wehwehchen sah er sein Ende nahen. Ich fühle mich aber nicht wie der 51-Jährige, der ich im Augenblick bin.

Sondern?
Vom Mind-Set-up her und auch körperlich würde ich mich schon deutlich weiter unten in der Riege einordnen.

Hat sich mit Ihrem runden Geburtstag etwas verändert?
Die Häme der Freunde hat sich verändert. (lacht) Und natürlich die Wahrnehmung. Zwar bist du als Sportler auch mit 49 schon alt, aber alles, was über 50 ist, ist normalerweise Funktionär oder Trainer. Wenn du selbst noch aktiver Kletterer bist und versuchst, Ziele im Grenzbereich anzugehen, dann stößt du zum Teil auch auf Unverständnis…

…nach dem Motto: Warum tust du dir das noch an?
Genau. Und plötzlich fängst du an zu überlegen, ob sie vielleicht Recht haben.

Und?
Sie haben nicht Recht. Weil mir die Kletterei und das Abenteuer noch genauso viel Spaß bringt wie vor 20 Jahren. Mich zu schinden, mich zu fordern, jeden Tag zu trainieren. Vielleicht ist es in unserer Gesellschaft verankert, dass man ab einem gewissen Alter nur noch bestimmte Dinge tun darf und soll. Das hat mich zum Glück nie interessiert. Deshalb werde ich, solange ich das kann, zum Klettern und Bergsteigen gehen. Ich will als Abenteurer in den entlegendsten Regionen dieser Erde unterwegs sein. Und wenn ich eines Tages auf allen Vieren den Schlitten hinter mir herziehe. Wenn ich Freude dran habe, dann werde ich das tun.

Auch alleine?
Leider ist es so, dass immer mehr Weggefährten wegbrechen. Zum Beispiel durch Unfälle wie bei Kurt Albert. Ich habe erst in den Jahren danach realisiert, welch herber Verlust das war – auch als Expeditionspartner.

Haben Sie, als Kurt Albert an einem Klettersteig in den Tod stürzte, selbst ans Aufhören gedacht? Sie hatten ja damals im Jahr 2010 mit ihm gerade ein Projekt in Venezuela laufen, das im Kinofilm »Jäger des Augenblicks« dokumentiert wurde.
Nein überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Der Kurt war schon immer ein Vorbild für mich gewesen für den freien Geist und das unkonventionelle Leben. Letztlich auch dafür, dass ich mein Leben nicht an irgendwelchen Altersgrenzen festmache. Ich richte mich nur nach meinen Visionen und Träumen. Solange ich die noch habe, werde ich sie umsetzen, egal, wie alt ich bin. Das hatte Kurt in einer unglaublichen Konsequenz gemacht.

Was passiert mit alternden Alpinisten, die sich nicht mehr medial vermarkten können? Prädestiniert für Altersarmut?
Mir fällt dazu sofort Jim Bridwell ein, der zu einer unglaublich tragischen Figur geworden ist. Er ist einer der schillerndsten Alpinisten, Kletterer, der eine ganze Epoche geprägt hat und nun mehr oder weniger als Penner dahinvegetiert. Bitter, dass es das in der Kletter-Community gibt.

Wie schafft der Kletterer Stefan Glowacz den Spagat zwischen Sport, Training, Expeditionen, Vorträge und Seminare halten sowie ein anspruchsvolles Magazin als Herausgeber verantworten?
Es kommt noch dazu, dass ich eine Filmproduktionsfirma gegründet habe. Die Baffin-Expedition produziere ich zum Beispiel selbst. Mein Sohn ist ja Cutter, so haben wir jetzt ein kleines Familienunternehmen. Ich brauche diesen Gegenpart zum Klettern, damit ich mich aufs Klettern freuen kann. Ich hatte mal eine Zeit als Sportkletterer, in der ich morgens aufstehen konnte und frei entscheiden, wo ich zum Trainieren hinfahre. Das hat mich überhaupt nicht ausgefüllt. Jetzt bin ich teils tagelang unterwegs für Red Chili, als Referent oder für Filmproduktionen und komme nur unregelmäßig zum Trainieren. Dann spüre ich, wie mir das fehlt.

Hört sich dennoch nach Stress an.
Die geistige Ruhelosigkeit ist für mich kein Stress, sondern ein innerer Antrieb. Meine ganzen Tätigkeiten sind für mich wie ein Organismus. Mal kommt der Part, mal ein anderer mehr zum Einsatz. Ich bin zum Glück nicht so durchgetaktet. Ich lebe in einem Chaos, einem kreativen. Das liebe ich. Alltag hasse ich wie die Pest.
 
Michael Ruhland
Artikel aus Bergsteiger Ausgabe 04/2017. Jetzt abonnieren!
 
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