Wir treffen Laura Dahlmeier in ungewohntem Terrain: im Athletics and Health Institut nahe des Müncher Olympiaparks. Schon seit einer ganzen Weile fährt sie aus der Garmischer Heimat in die Stadt, um sich hier regelmäßig von Kopf bis Fuß durchchecken zu lassen. Auf dem Programm steht: körperliches Training, Ernährung, biologische Optimierung und mentale Vorbereitung.
Wie schon zu ihrer Zeit als Biathlon-Profi überlässt die 30-Jährige lieber nichts dem Zufall.
Frau Dahlmeier, kürzlich haben Sie Ihren ersten Siebentausender bestiegen, den Pik Korschenewskaja (7105m) in Tadschikistan. Wie sind Sie gerade auf den gekommen?
Mein Bruder Pirmin war vor vier Jahren am Pik Khan Tengri, ebenfalls im Pamir-Gebirge. Das war günstig, ganz gut zu erreichen, nicht so überlaufen wie Nepal. In Russland gibt es den Schneeleoparden-Orden, den bekommt, wer fünf Siebentausender in dieser Region bestiegen hat – und dazu gehören der Pik Korschenewskaja und der Pik Kommunismus mit 7495 Metern. Der hieß früher Pik Stalin, heute offiziell Ismoil Somoni, aber jeder sagt Pik Kommunismus.
Und auf die beiden hatten Sie es abgesehen?
Die erste Frage, die mir dort gestellt wurde, war: ›Warst du schon auf dem Pik Lenin?‹ Der normale Ablauf dort ist wohl: zuerst Lenin, dann Korschenewskaja, dann Kommunismus und noch
zwei andere. Das hatte mein Bruder im Hinterkopf. Er hat mich schon im Jahr zuvor gefragt, aber da war ich mitten in der Bergführerausbildung. Die habe ich jetzt im April bestanden, und somit konnten wir losziehen.
Sie haben vorab ein Foto von sich inmitten Ihrer Ausrüstung gepostet – aber nicht verraten, wo es hingehen soll…
Ankündigungsalpinismus mache ich nicht so gern. Man weiß ja nie, wie es ausgeht.
Das Pamir-Gebirge liegt in Zentralasien, in Tadschikistan, China, Afghanistan und Kirgistan – waren Sie schon mal in der Region?
Ein paar Mal war ich in Russland, im Iran, Jordanien, aber noch nie in Tadschikistan. Ich habe das Land nur sehr schwer greifen können. Das geht mir jetzt noch so. Ich denke immer: Vielleicht
wissen die Tadschiken selbst nicht so genau, wo in der Post-Sowjetunion sie stehen. Ich fand es jedenfalls spannend, vorab gar nicht so viel zu wissen.
Hatten Sie Führer vor Ort?
Wir hatten eine Organisation aus Kirgistan, die die Anreise geplant hat. Es ist zum Beispiel kaum möglich, zu Fuß ins Basislager zu gehen – das ist ein sehr beschwerlicher, wegloser, siebentägiger
Marsch. Also fliegt man mit dem Hubschrauber ins Basislager, wo wir Vollversorgung hatten. Die Energie, die ich habe, wollte ich in die Besteigung stecken, nicht ins Kochen. Die Organisation war aber sehr chaotisch: Erst zwei Tage vor Abflug war überhaupt klar, dass die Tour klappt. Ich bin ein sehr entspannter Mensch, aber kurzzeitig habe ich gedacht, dass alles ins Wasser fällt.

Am Berg waren Sie dann allein unterwegs?
Da wollten wir hundert Prozent autark unterwegs sein. Natürlich nutzt man die Infrastruktur, wenn zum Beispiel Fixseile verlegt sind.
Wie lange dauerte der Aufstieg?
Am Pik Korschenewskaja gibt es drei Lager. Das erste haben wir aber gleich mal übersprungen und sind bis Lager zwei gelaufen. Insgesamt waren wir für Auf- und Abstieg vier Tage am Berg.
Am Pik Kommunismus gab es dann ein paar Probleme…
Normalerweise werden die Guides dort früher eingeflogen, um den Berg zu präparieren, aber heuer hat das wegen Hubschrauber- Chaos nicht geklappt. Es war also noch nichts gespurt. Wir haben dann angeboten, den Guides beim Spuren und Seiletragen zu helfen – was wir dann auch getan haben. Zwei Tage haben wir ihnen dann Vorsprung gegeben, sind dann aber aufgelaufen und dann praktisch zusammen weiter gezogen. Wir hatten für sieben Tage Essen und Gas dabei, der Rucksack war gescheit schwer: 23 Kilo.
Und Sie hatten dann unweit des Gipfels Angst um Ihre Zehen…
Ich hatte während der gesamten Expedition Probleme mit kalten Füßen. Im Nachhinein hätte ich einfach einen wärmeren Schuh mitnehmen müssen – oder einen größeren. Ich habe alles Mögliche versucht: Alufolien, Extra-Sohle, zwei Paar Socken, Daunen-Boots, die Schuhe mehrmals während der Tour ausgezogen und die Füße aufmassiert, der Bruder hat meine Füße unter die
Achseln genommen, damit das Blut wieder zirkuliert – alles umsonst. Es war ein Sechstausender-Schuh, mit dem ich schon in Peru unterwegs war – aber es war halt kein Achttausender-Schuh.
Die Locals haben das sofort erkannt, meine Schuhe gesehen und gesagt: ›No good‹. Ich war halt noch nie auf so einer Höhe und dachte, das passt schon. Hat nicht gepasst. Dieses am Ende entscheidende Detail habe ich übersehen.
Wie lief das dann am Berg ab? Sie waren ja schon auf rund 7000 Metern.
Es geht da ständig rauf und runter, irgendwann kommt eine lange Querung auf der Schattenseite, keine Sonne, der Schnee war tief, und ich sagte zu meinem Bruder: ›Das wird heut nix. Mir geht‘s nicht so gut, mir ist superkalt, ich bringe die Füße einfach nicht warm. Geh‘ du zu, mach keinen Blödsinn und geh‘ den Guides
hinterher!‹
Sie haben den Bruder allein laufen lassen?
Ich hab‘ ihn ziehen lassen, nochmal versucht, die Füße warm zu bekommen, bin doch nochmal eine Stunde hinterhergegangen, aber in so einer 40-45-Grad steilen Flanke bin ich bei jedem Schritt bis übers Knie eingesunken – dann ist nichts mehr gegangen, und ich bin umgedreht.
Eine prekäre Situation!
Ich habe das mit meinem Bruder zuvor durchgesprochen. Für mich wäre es das Schlimmste gewesen, wenn er wegen mir hätte umdrehen müssen. Es ist schon wichtig, dass man sich da auf
einander verlassen kann. Ich habe ja gesehen, wie er auf unserem ersten Gipfel unterwegs war. Er ist ein besonnener Bursch‘. Daheim ist mir natürlich eingebläut worden: ›Du hast die Bergführerausbildung!‹
Wie alt ist Ihr Bruder?
Fünf Jahre jünger. Es war eine besondere Situation. Ich war noch nie länger mit ihm unterwegs gewesen; wir machen schon unsere Touren, aber es nicht so, dass wir 14 Tage zusammen in Urlaub fahren. Aber es wäre das Allerschlimmste gewesen, wenn da irgendwas passiert. Auf Expedition geht man ein anderes Risiko ein, ein höheres als bei einer normalen Tour daheim. Die objektiven
Gefahren sind schon hoch, es ist eine andere Rettungskette – es ist schon ein anderes Risiko.
Sie sind von 7100 Metern also ins Lager abgestiegen – wann und wie kam Ihr Bruder dort an?
Vom Zelt aus konnte ich die ganze Gipfelflanke einsehen. Ich war zunächst mal mit mir und meinen Füßen beschäftigt, die erst nach einer Stunde allmählich warm wurden. Ich hab‘ ein bissl
gedöst, schaue raus – und mache dann genau in dem Moment ein Handyfoto, als er auf dem Gipfel steht, mit den Guides, die er eingeholt hatte. Als er endlich kam, ist er dann so getorkelt, dass
ich mir echt Sorgen machte – er sah nicht mehr ganz so gut aus und sagte: ›Das ist der härteste Tag in meinem Leben.‹ Ich finde es super, dass er das durchgezogen hat!
Da haben Sie Ihren Bruder nochmal anders kennengelernt.
Wenn man so lange auf engem Raum zusammen ist und gar nicht aus kann, nerven einen auch Kleinigkeiten, wie einer schnauft oder isst – das war bei uns überhaupt nicht der Fall! Da ist es
dann schon ein Vorteil, wenn man mit einem Familienmitglied unterwegs ist.
Wie lange waren Sie unterwegs?
Fünf Wochen, zum Schluss noch zwei Tage in Istanbul. Ich sagte: ›Bevor wir heimfahren, machen wir noch was Schönes!‹ Ein Bier auf der Dachterrasse überm Bosporus: perfekt!

Die Guides waren ja Russen – war der Krieg in Tadschikistan ein Thema?
Es war so schön zu sehen, wie da Russen, Ukrainer, Tadschiken, Deutsche und Spanier an einem Tisch sitzen – und es nur ums Bergsteigen geht. Da hat sich eine tiefe Freundschaft entwickelt. Als wir den Guides anboten, beim Seiletragen zu helfen, sind sie zuerst nicht so darauf eingegangen, aber dann hieß es doch: ›Morgen früh um zwei ist Start.‹ Typisch deutsch waren wir natürlich um fünf vor zwei da – da haben die Russen noch geschlafen! Um dreiviertel drei ist man dann mal losgetrottet – und dann sind die weggestochen: Vollgas! Zu Pirmin sagte ich: ›Beiß auf die Zähne! Wetten, das ist ein Test.‹ Genau so war es. Von da an waren wir keine Kunden mehr, sondern saßen mit den Guides am Tisch und hatten die größte Gaudi! Am Schluss haben wir noch einen Ausflug auf einen schönen Sechstausender gemacht – und einen der Guides mitgenommen. Der bulgarische Expeditionsleiter hatte mir zuvor übrigens gratuliert und gesagt: ›Hätte ich dir nicht zugetraut, dass du als Leistungssportlerin umdrehst!‹ Aber gerade als Leistungssportlerin kenne ich meinen Körper und weiß dann schon, wann es geschickter ist umzudrehen. Es gab dort auch eine Rettungsaktion für einen Iraner, der seine Grenzen offenbar falsch eingeschätzt hatte und den sie mit erfrorenen Fingern praktisch vom Berg tragen mussten – das ist nicht die Art, wie ich bergsteigen möchte.
Seit der Prüfung zur Ski- und Bergführerin sind Sie sozusagen auch Guide. Eine kernige Ausbildung, oder?
Die höchste Ausbildung, die es im Bergsport gibt. Man muss einfach in allen Facetten gut sein, es darf nichts schiefgehen, du musst gesund und gut vorbereitet sein – und am Tag X muss alles passen. Wenn du einmal nicht aufpasst, bist du raus. Schon den Eignungstest bestehen nur 50 Prozent. Die wenigsten bestehen alle Prüfungen beim ersten Mal. Aber es muss streng geprüft werden, schließlich hast du das Leben deiner Gäste in der Hand.
Was stellen Sie nun an mit dieser Ausbildung?
Führen! Ich habe vor kurzem in Berchtesgaden die Watzmann- Ostwand geführt. Ich genieße es gerade, tiefer in die Materie einzutauchen, viel zu lernen und die Leidenschaft, die ich für den Bergsport habe, teilen zu können.
Heißt, ich könnte jetzt Laura Dahlmeier für eine Bergtour buchen?
Das fertige Konzept steht noch aus, aber auf meiner Homepage steht eine Email-Adresse, an die man schreiben kann – und wenn ich Zeit und Lust auf die Tour habe, könnte das klappen. Ich führe unter anderem auch für die Garmischer Bergschule ›Wetterstein Bergführer‹. Und dann mal sehen, welche Sparte mir am besten taugt.
Klingt nicht so, als würden Sie nach dem Siebentausender nun einen Achttausender anpeilen und zum Expeditionsbergsteigen wechseln?
Ich sehe das als ganz großes Geschenk, dass ich so viele Sachen ausprobieren und die Welt erforschen darf. Höhenbergsteigen ist sehr speziell. Auf so einer aufgeblasenen Achttausender-Expedition sehe ich mich eher nicht. Sechstausender? Gern wieder, aber die ganz hohen Berge erstmal nicht. Kann man noch machen, wenn man älter ist. Eher das Bergsteigen, wie man es bei uns machen kann: schneller, leichter, freier, individueller. Zwei, drei Tage am Berg und nach einer Pizza wieder zurück: finde ich spannender.
Ein Gipfelwunsch, den Sie sich noch nicht erfüllt haben?
Die Eiger-Nordwand – aber bei guten Verhältnissen!
Dieses Interview erschien im Bergsteiger Magazin 12/2023.